Viele unserer Freunde hatten uns gewarnt, heute ueberhaupt das Haus zu verlassen, geschweige denn den Maertyrerplatz zu besuchen. Wir argumentieren, dass keiner Seite, besonders der Opposition, an einer gewaltsamen Eskalation gelegen sein kann. So verlassen wir an diesem Tag das Haus relativ unbesorgt direkt Richtung Downtown.
Normalerweise nimmt diese Strecke knapp 25 Minuten Fussweg in Anspruch.
Als wir jedoch schon von weitem die wichtigsten Zufahrtsstrassen ins Zentrum abgesperrt und bewacht sehen, ist uns klar, dass wir heute einen mehr oder weniger grossen Umweg in Kauf nehmen muessen. Wir treten an einen Soldaten heran und erkundigen uns nach dem kuerzesten Umweg nach Downtown. "You want to go to the camp or to Hariri?" entgegnet er und erklaert uns damit implizit die weitraeumigen Absperrungen: Die Besucher der Gedenkkundgebung, die sich ueberwiegend dem Regierungslager zugehoerig fuehlen, muessten zwangslaeufig die Zeltstadt der Opposition ueberqueren - die Sicherheitskraefte sind bestrebt jedes Risiko eines Zusammenstosses zu verhindern.
Ueber den oestlichen Stadtteil Achrafijeh gelangen wir schliesslich doch noch zum Maertyrerplatz. Eilig verteilen junge Maenner libanesische Flaggen, Halsbaender sowie Schilder mit dem Konterfei Rafiq Hariris und der Aufschrift "Wir vermissen dich wirklich sehr" an die vorbeiziehenden Massen.
Wir positionieren uns auf einer kleinen Anhoehe unmittelbar neben der markanten Statue, die dem Maertyrerplatz seinen Namen gibt, um von dort einen besseren Ueberblick zu bekommen. Etwas wagemutiger sind einige junge Maenner, die neben uns die Statue, etwas weiter entfernt sogar die ca. 10 Meter hohen Laternenmasten erklommen haben.
Zwar zeigt sich das Wetter heute ueberaus freundlich, dennoch werden wir etwas ungeduldig: Das Vorprogramm zieht sich fuer unseren Geschmack ein wenig zu lang hin und beschraenkt sich im wesentlichen auf ein paar Saetze des Andenkens an Rafiq Hariri und die weiteren bei Anschlaegen getoetete Politiker und Journalisten, wie Gebran Tueni, George Hawi, Samir Kassir und Pierre Gemayel. Daneben werden die Demonstranten mit patriotischen Liedern aus den Lautsprechern bei Laune gehalten.
Wir versuchen indessen die Vielzahl der vertretenen Fahnen zuzuordnen. Neben dem Meer an libanesischen Flaggen sind besonders die Lebanese Forces ueberdurchschnittlich stark vertreten und machen auch verbal hoerbar auf sich aufmerksam.
Nach knapp anderthalb Stunden ist es soweit. Von der Rednerkabine, die fuer uns guenstig einsehbar zwischen Statue und der neuerrichteten Moschee gelegen ist, lueftet sich der Vorhang und die Rednerliste ist eroeffnet. Hinter dickem kugelsicheren Glas darf so ziemlich jede mit dem Regierungsbuendnis "14. Maerz" verbundene Gruppierung einen Redebeitrag beisteuern. Selbst die sunnitisch-islamistische "Jamaa Islamiyaa" darf die Anwesenden mit einem "Bismilla arr-rahman ar-rahim" begruessen. Eher gleichgueltig verfolgen die Demonstranten die relativ monotonen und sich sehr aehnelnden Ansprachen der kleineren Splittergruppen. Auffaellig ist, dass versucht wird alle Konfessionen zu erfassen, so dass auch der sonst wenig einflussreiche, aber gegen Hizbullah positionierte schiitische Gelehrte Ali Al-Amin zu Wort kommt.
Die meisten Anwesenden warten indes ungeduldig auf die Reden der Haupttraeger des Regierungsbuendnisses und kommentieren unter sich die zahlreichen Vorredner oft mit einem "Danke, der naechste bitte".
Um ca. 12.30 Uhr brandet um uns herum ploetzlich lauter Jubel auf. Samir Geagea, der Fuehrer der Lebanese Forces betritt das Rednerpult und wird von seinen Anhaengern mit frenetischen "Hakim, Hakim"-Rufen begruesst. Wenn auch im Verlauf der gesamten Demonstration kaum eine Oppositionsgruppe direkt angegriffen wurde, so formuliert Geagea seine Kritik an Hizbullah in fuer alle Anwesenden verstaendlichen Worten: "Die libanesische Armee - sie ist der Widerstand. Der libanesische Staat - er ist der Widerstand. Die libanesische Regierung - sie ist der Widerstand." - ein direkter Seitenhieb auf Hizbullah, die sich selber als nationalen Widerstand definiert.
Auch die nachfolgende Rede des Politprofis Walid Jumblatt findet regen Zuspruch, wenn seine gegenwaertigen Standpunkte auch wohlbekannt sind. Wiederholt kritisiert er das "syrisch-iranische System", das den Libanon in einen neuen Irak verwandeln wolle.
Zum Abschluss der Kundgebung tritt schliesslich Saad Hariri vor das Mikrofon. Er fordert einen "Libanon des Dialogs", preist das gegenwaertige Kabinett Fouad Sinioras als :"Regierung des Dialogs" und fordert seine Zuhoerer gleichfalls auf, ein "Volk des Dialogs" zu sein.
In Anbetracht der Tatsache, dass ihre Dialogpartner wenige Meter von ihnen entfernt in der Zeltstadt sitzen, koennte dies als Anstoss zum Dialog genutzt werden, schliesslich sehen auch die Oppositionsanhaenger Rafiq Hariri als ihren Maertyrer, die Kundgebung loest sich nach den letzten Worten jedoch schnell wieder auf und die Demonstranten gehen ihrer Wege, ohne die Oppositionellen eines Blickes zu wuerdigen.