23.11.2006
Zur Genese von Islamismus und Radikalismus am Fallbeispiel der libanesischen Schi´a zu Beginn der 1980er Jahre Teil 3

II.3. Die Spaltung der Schi´a in eine Schiitische und eine Islamische Bewegung 1978-1982

Einerseits erlebte die Periode von 1978 und 1982 die Fragmentierung der libanesischen Schi´a, andererseits kann man diesen Zeitraum als „Inkubationszeit“ für den radikalen, schiitischen Islamismus im Libanon bezeichnen. Drei wesentliche Ereignisse lassen sich als Auslöser für diese Entwicklung anführen. Innerhalb der libanesischen Schi´a war durch das mysteriöse Verschwinden Musa Sadrs die Position der charismatischen Integrationsfigur vakant geworden, der es gelungen war, Differenzen sowohl zwischen säkularen und religiösen Gruppierungen als auch zwischen den verschiedenen Siedlungsgebieten der Schiiten zu überbrücken. Des Weiteren hatte Sadr die Führung der wichtigsten Organisationen der Gemeinschaft, der „Bewegung der Entrechteten“, des Hohen Islamischen Schiitschen Rats und der Amal, in seiner Person vereint. Schließlich weckte die „Entrückung“ Sadrs eschatologische Erwartungen, die vielen Schiiten in den Wirren des Bürgerkriegs neue Impulse gab.

Bereits fünf Monate vor Sadrs Verschwinden hatte die israelische Invasion im März 1978, der eine dauerhafte Okkupation einer selbstgeschaffenen „Sicherheitszone“ im Südlibanon folgen sollte, die wirtschaftliche Isolation des von Schiiten dominierten Südlibanon verschärft. Hunderttausende waren zur Flucht vor den anhaltenden Kämpfen zwischen der israelischen Armee und linksgerichteter palästinensischer Gruppierungen gezwungen. Die Entscheidung der Amal, die palästinensische Präsenz für das Leid der Schiiten verantwortlich zu machen und diese zu bekämpfen, sorgte für eine nachhaltige Spaltung im schiitischen Lager. Eine erste Welle der Radikalisierung wurde deutlich, als sich Kollaborationsvorwürfe mit den israelischen Besatzern gegenüber der Amal von radikal-islamistischen Gruppierungen, die mit den aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinensern sympathisierten, häuften.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Spaltung und Radikalisierung der libanesischen Schi´a war die Bewertung der Iranischen Revolution 1978/79. Die Revolution inspirierte viele Schiiten im Libanon, die den Sturz des Schahs als Triumph der Schi´a gegen ein westliches, ungerechtes und unterdrückendes System interpretierten, in ihrem Streben nach nationaler Emanzipation. Ironischerweise erlebte sogar die zunehmend von säkularen Kräften dominierte Amal-Bewegung durch den Zustrom von Schiiten aus verschiedensten sozialen Klassen ihre Renaissance. Jedoch teilte die Frage, ob eine Islamische Republik nach iranischem Vorbild im Libanon wünschenswert beziehungsweise überhaupt realistisch sei, die Schiiten in zwei Lager.

Allerdings bleibt festzuhalten, dass die meisten Schiiten zwar Khomeini und die Iranische Revolution respektierten, aber aufgrund der Diversität des Libanons das Konzept der Islamischen Republik ablehnten beziehungsweise nicht für umsetzbar hielten. Trotzdem bildeten sich bereits in dieser Zeit erste dezentrale, radikale Zirkel nach iranischem Vorbild.

II. 4. Die zweite israelische Invasion 1982 und die Geburt einer radikalen Bewegung

Die zweite israelische Invasion im Juni 1982, die neben dem erklärten Ziel, der Zerschlagung der PLO, auch die mittelfristige Besetzung weiter Teile des Libanon zur Folge haben sollte, führte zum endgültigen Bruch zwischen dem reformorientierten, gemäßigten Islamismus der Amal-Bewegung und der radikal-revolutionären Islamischen Bewegung, aus deren einzelnen Gruppierungen noch im selben Jahr die Hizb Allah entstand. Die anfängliche Erleichterung der Bevölkerung des Südens über die Vertreibung der palästinensischen Milizen und die Bereitschaft der Amal mit Israel zu kooperieren, um einen baldigen Rückzug der israelischen Armee herbeizuführen, wich rasch, als die Besetzung durch die israelische Armee einen dauerhaften Charakter bekam und deutlich wurde, dass Israel hegemoniale Ansprüche auf den Südlibanon geltend machen würde.

Zugleich gab die israelische Invasion dem Iran die Möglichkeit, direkten Einfluss auf radikalisierte Schiiten auszuüben. Als Reaktion wurden 2000 iranische Revolutionswächter in der Bekaa-Hochebene stationiert, die neben kultureller „Aufklärung“ schiitisch-islamistische Gruppen militärisch ausbildeten. Indessen verschlechterte sich die Beziehung zwischen den Schiiten und Israel während des Winters 1982/83, als vorwiegend linksgerichtete Gruppierungen und Einzelpersonen, die nicht selten der Amal nahe standen, zahlreiche Attacken auf israelische Truppen ausübten. An ihre Stelle traten ab 1983 vermehrt radikal-islamistische Gruppen, die durch verheerende Selbstmordattentate auf israelische, amerikanische und französische Ziele nachhaltig auf sich aufmerksam machten.

Offiziell wendete sich die Amal weiterhin gegen einen bewaffneten Widerstand und setzte auf die Möglichkeit einer politischen Lösung. Die Strategie Israels, durch kompromissloses, brutales Vorgehen in dem besetzten Gebiet Ruhe herzustellen, entfremdete die Bevölkerung zunehmend von der Besatzungsmacht und schuf letztendlich den fruchtbaren Boden für radikalisierte Widerstandsgruppen, die von großen Teilen der schiitischen Bevölkerung zunächst akzeptiert und in der Folgezeit zunehmend aktiv unterstützt wurden.

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Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...