27.10.2006
Nablus

In diesem Bericht wurden die Namen sämtlicher Beteiligter verändert.

Morgens um zehn am Jerusalemer Busbahnhof nahe des Damaskustors: anfangs treffe ich aufgrund meines Vorhabens, alleine nach Nablus zu fahren, auf Unverständnis beim Busfahrer und seinen Freunden, letztendlich überwiegt jedoch die Gleichgültigkeit und die Fahrt kann beginnen. Wir passieren die Stadtgrenze an einer Stelle, an der die Mauer noch nicht fertig gestellt wurde. Nahe dem Qalandiya-Checkpoint, der Ramallah von Jerusalem trennt, endet der erste Teil meiner Reise. Das gelbe Nummernschild, das zur Benutzung der Straßen in Israel und in allen Gebieten, die Israel für israelisch hält, autorisiert, wird gegen das grüne Nummernschild der Palästinensischen Gebiete ausgetauscht. Die Weiterreise verzögert sich ein Wenig, da es dauert, bis sich genügend Leute für ein Service-Taxi nach Nablus zusammen gefunden haben. Nach einem leckeren Frühstück mit den Taxifahrern und mal wieder hitzigen Diskussionen, ob Hitler ein Freund der Araber war, geht es schließlich weiter. Die Straße führt uns durch landschaftlich sehr reizvolles, hügeliges Gebiet bis wir schließlich den Checkpoint Hawara kurz vor Nablus erreichen. Ohne einen Ausweis zu zeigen, dürfen wir passieren. Indessen hat sich Bilal, einer der Passagiere im Service-Taxi, meiner angenommen. Gemeinsam bewältigen wir die letzten Kilometer mit dem Taxi ins Zentrum von Nablus.

Bilal schlägt vor, mir eine halbe Stunde lang die Stadt zu zeigen. Zunächst zeigt er mir das moderne, ziemlich unansehliche Zentrum der Stadt. Anschließend schlendern wir durch den Haupt-Suq am unteren Ende der Altstadt. Neben den in den Palästinensischen Gebieten überall präsenten Hamas und Fatah-Flaggen sind während dieser Tagen in Nablus Libanon- beziehungsweise Hizbullah-Flaggen besonders begehrt. Des Weiteren bekommt man in einigen Läden Sadam Hussein-Poster und ziemlich stylisch aussehende Hizbullah-T-Shirts für zwei Dollar. Außer mir hat es an diesem sonnigen Tag wohl keine weiteren Ausländer in die als sehr konservative geltende Stadt verschlagen. Zum Abschluss trinken Bilal und ich noch gemeinsam Frucht-Cocktails an dem Ort, wo er als Kind immer nach der Schule hinging. Bilal hat keinen israelischen Pass beziehungsweise eine Jerusalem-ID, das heißt, er darf eigentlich nicht nach Israel einreisen. Da er aber als Kranfahrer einen Job in der "Heiligen Stadt" gefunden hat, steigt er ein Mal in der Woche um sechs Uhr morgens mit hunderten anderen Palästinensern mit Leitern über die acht Meter hohe Mauer, während der Panzer auf Streife für wenige Minuten außer Reichweite ist. Bevor wir uns verabschieden bittet mich Bilal, nicht alleine in die Altstadt zu gehen und die Stadt vor der Dunkelheit zu verlassen.

Sobald er gegangen ist, mache ich mich dennoch auf den Weg in die wunderschöne Altstadt mit ihren verwinkelten Gässchen. Die Wände sind gepflastert mit Postern von Märtyren der Al-Aqsa-Brigaden, Islamischer Jihad etc. In den Straßen herrscht (fiktiver) Krieg; da die Kinder wegen Aid Al-Fitr Ferien haben, sind alle auf den Straßen. Jeder einzelne hat eine Spielzeugpistole beziehungsweise ein Gewehr, die den echten Waffen zum Verwechseln ähnlich sehen. Banden ziehen durch die Straßen und streiten sich, wer Terrorist oder Armee sein darf. Wenn man in der Realität jeden Tag mit diesen Kämpfen konfrontiert wird, die älteren Brüder mit echten Waffen "spielen", im Fernsehen nichts anderes zu sehen ist und darüber hinaus im Internetcafé nur das Terroristen-gegen-Armee-Spiel gespielt wird...ich bin auf jeden Fall in meinem ganzen Leben noch nicht so häufig imaginär erschossen worden.

Kurz nachdem ich die belebte Hauptachse der Altstadt verlassen habe und mich freudig auf Entdeckungsreise ins Innere der Altstadt begebe, ruft aus einiger Entfernung ein bewaffneter Milizionär. Erst als er mit seiner auf mich gerichteten Maschinenpistole in meine Richtung läuft, realisiere ich, dass meine Wenigkeit Anlass für seine Entrüstung darstellt. Er packt mich, schreit auf Arabisch, was ich hier verloren hätte und packt meinen Rucksack. Nachdem dieser eingehend untersucht wurde und ich ihm geklärt habe, was ich in Palästina mache und warum ich nach Nablus gekommen bin, beruhigt er sich schließlich. Dies sei alles zu meinem Schutz geschehen, da an gleicher Stelle vor drei Wochen ein amerikanischer Student entführt worden sei. Schließlich gibt er mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich in der Altstadt nichts zu suchen hätte.

Ziemlich frustriert verlasse ich also die Altstadt, die ich seit Ewigkeiten entdecken wollte, und denke schon darüber nach, zurück ins verhältnismäßig friedliche Jerusalem zu fahren. Nach einem Besuch der orthodoxen Kirche am Rande der Altstadt, arbeite ich mich wieder etwas weiter in die kleinen Gassen von Nablus, doch angesichts vieler misstrauischer Blicke und drohenden Sprüchen, verlasse ich ein weiteres Mal resigniert die Altstadt.

Auf dem Weg zur Taxi-Station spricht mich ein junger Mann namens Yassir an. Es folgen ca. 20 Minuten Kontrollfragen, bis er Vertrauen in mich gefasst hat. Danach schlägt Yassir vor, mir seinen Bruder vorzustellen. Dem stimme ich zu und in Yassirs Arm eingehakt bringt er mich in ein Café auf dem Dach eines Hochhauses. Nach einer vorher abgesprochenen Begrüßungsformel folgen weitere 20 Minuten Kontrollfragen seitens Yassirs Bruder Omar und seinem Freund Abu Alaa. Diese Fragen habe ich wohl zufriedenstellend beantwortet, denn nachdem wir unseren Kaffee getrunken haben, fordern mich die Beiden auf, mit ihnen in ihr Versteck in die Altstadt zu gehen. In der Hoffnung endlich etwas mehr von der Altstadt zu sehen, folge ich Omar, Abu Alaa und Yassir. Die beiden Älteren sind bewaffnet. Als ich den alten Uhrturm in der Altstadt erblicke und bewundernd in die Richtung schaue, verjagen meine aufmerksamen Begleiter die Kinder im Umkreis und steigen mit mir auf den Turm. Die Aussicht auf Nablus, das zwischen zwei Bergen gedrängt unter uns liegt, ist traumhaft. Im Versteck der Jungs angekommen folgt erstmal eine kleine Belehrung: Omar gehört den Al-Aqsa-Brigaden an und Abu Alaa sowie ein Dritter, den alle "Sheikh" nennen, kämpfen für den Islamischen Jihad. Neben jedem einzelnen liegt ein geladenes Maschinengewehr russischer Produktion sowie ein Munitionsgürtel, den mir die Jungs stolz vorführen. In den einzelnen Fächern befinden sich Magazine für die MGs, Handgranaten und, der Dramatik zuliebe am Ende präsentiert, eine Taschenbuchausgabe des Korans.

Bei leckerem Knafa, einer süßen Spezialität aus Nablus, entwickelt sich bei entspannter Atmosphäre eine fast schon philosophische Diskussion über das "Gute und Böse" in dieser Welt, die meine Arabischkenntnisse letztendlich etwas überfordert. Dafür ist das Fazit erstaunlicherweise um so leichter zu verstehen: Jeder der gegen das "Böse", namentlich Israel und den großen Bruder USA, ankämpft, setzt sich für das "Gute" ein. In diesem Zusammenhang nennt Abu Alaa, der neben seinen Widerstandsaktivitäten auch an der Al-Najah Universität BWL studiert, in einem Satz "Che" Guevara, Adolf Hitler, Usama Bin Ladin und Hassan Nasrallah als Verfechter der Gerechtigkeit. Zum Teil wirken die Männer sehr intelligent und es mach richtig Spaß mit ihnen zu diskutieren. Man interessiert sich für meine Sicht der Dinge und reagiert beispielsweise auch nicht gereizt, als ich von der Notwendigkeit eines israelischen Staates in den Grenzen vor 1967 spreche.

Fast jeden Abend rückt die israelische Armee in Nablus mit Panzern ein. Für Abu Alaa, Omar usw. sind diese Schusswechsel zur Routine geworden, viele ihrer Freunde sind längst nicht mehr am Leben und hängen jetzt als Märtyrerposter in dem kleinen Versteck. Den Männern ist sehr bewusst, dass sie nicht mehr lange am Leben sein werden. Da nach den drei Älteren seit einiger Zeit gefahndet wird und sie sich somit nicht außerhalb Nablus bewegen können, ist der Widerstand nach eigener Aussage die einzige Option. Auf die Frage angesprochen, ob sie nicht Angst um ihr Leben hätten, kommt lediglich ein "Gott ist mit uns".

Während ich mit den Jungs zusammensitze, muss ich immer wieder an den Film "Paradise Now" denken, der auch in Nablus spielt. Aus der jetzigen Perspektive wirkt der Film um so realer: neben der Umgebung mit den kleinen Gässchen und den schmalen Eingängen zu dunklen kahlen Räumen ähneln sich vor allem die Charaktere. Wie im Film wirken die Männer wenig fanatisch, sie sind freundlich und zeigen großen Humor. Kurz gesagt, man würde am Liebsten jeden Tag mit ihnen rumhängen, wie gute Kumpels eben.

Nach einiger Zeit fragt mich der "Sheikh", ob ich mich denn in dem Versteck nicht unsicher fühle. Ich verneine die Frage, weil mich Abu Alaa und Co. respektvoll behandeln und ich davon ausgehe, dass die Gefechte mit der israelischen Armee erst nach Anbruch der Dunkelheit beginnen. Als mich der "Sheikh" jedoch aufklärt, dass in der Vergangenheit schon andere Verstecke tagsüber durch die Armee aufgestöbert wurden und in diesem Falle ein Schusswechsel zwangsläufig wäre, verlasse ich "meine neuen Freunde" etwas früher als geplant. Omar gibt mir noch seine Telefonnummer und bietet mir "jedwede Hilfe" an.

Yassir bietet mir schließlich Geleitschutz durch die Altstadt und bringt mich zum Taxi-Stand. Er will es sich nicht nehmen lassen das Taxi zu bezahlen. Bei der herzlichen Verabschiedung drückt Yassir mir noch ein Foto seines Bruders in die Hand.

Nach all diesen aufwühlenden Erlebnissen bin ich froh, im warmen Taxi zu sitzen und freue mich auf eine entspannte Rückfahrt. Die Hinfahrt hat 90 Minuten gedauert ohne ein Mal meine Papiere zeigen zu müssen. Nicht so bei der Rückfahrt, aus 90 werden werden 400 Minuten inklusive fünf (zum Teil mobiler) Checkpoints. Der zweite ist besonders spannend. Der vielleicht 19-jährige Soldat will seiner süßen Kollegin imponieren, indem er jedem Araber bescheuerte Fragen stellt. Sie findet es klasse und macht irgendwann fröhlich mit. Dann bin ich an der Reihe:Soldat (m): "What you do in Nablus?" - "I visited the old city, it was beautiful and interesting".Kurzes ungläubiges Kopfschütteln, dann zu mir flüsternd: "I know what you did, you fucked Arabs!!!". Seine Kollegin spuckt aus: "They are so ugly, he would never fuck Arabs!"...dann darf ich gehen.Checkpoint 3 und 4 sind langweilig, bei Nummer 5 ist dafür die Hölle los. Am Terminal Qalandiya muss man durch zwei elektronische Drehtüren, danach folgen Taschen- und Passkontrolle. Die Soldaten sitzen hinter Glasscheiben, sodass es keine beziehungsweise nur durch Lautsprecher verbale Kommunikation gibt. Zwischen der ersten und der zweiten Drehtüre sind ca. 100 Leute auf ein paar Quadratmetern eingepfercht, bestimmt ein Drittel davon Kleinkinder. Alle paar Minuten blinkt ein grünes Licht und die Menschen drängen nach vorne, sodass möglichst viele Personen während der Grünphase in den nächsten Bereich kommen. Immer wieder werden Leute in den Drehtüren verletzt, mein Arm leidet auch noch darunter.

Nach der Ankunft fühlt sich Jerusalem plötzlich sehr friedlich an.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...