III. „Türkengefahr“ und Zwei-Reiche-Lehre
Luthers Interesse an einer weitergeheden Beschäftigung mit dem Islam (Luther sprach stets von der "Religion der Türken") stand eine verhältnismäßige Quellenarmut entgegen, die, ebenso wie die päpstliche Zensur, eine vertiefende Kenntnis schon per se erschwerte. Grundsätzlich stützte sich Luther auf eine Streitschrift des Augustinermönches Ricoldo di Montecroce aus dem 13. Jahrhundert, auf ein Pamphlet des Humanisten Nikolaus von Kues sowie eine zu seiner Zeit weit zirkulierende Beschreibung eines ehemaligen Kriegsgefangenen aus Siebenbürgen.
Bei seiner Beschäftigung mit dem Islam erkannte Luther als entscheidenden Angriffspunkt die fehlende Heilsfunktion Christi:
„Da ist Christus kein Erloeser, Heiland, Koenig, kein vergebung der sunden, kein gnad noch
heiliger geist. In dem artickel ists alles verstoeret, das Christus unter und geringer sol sein denn Mahometh.“
Die ihm durch seine Quellen zugänglichen Lehren des Koran interpretiert er als Synkretismus christlicher Häresien, deren Erfolg allein auf Werkgerechtigkeit und Gewalt aufbaut:
„Mahomeths gesetz leret nichts anders, denn was menschliche witze und vernunfft wol leiden kann.“
Der Islam erscheint somit, wie auch das Papsttum, als negatives Spiegelbild des auf Buße und Gottvertrauen basierenden reformatorischen Glaubens- und Heilverständnisses.
Spätestens ab 1526 jedoch zwangen die äußeren Umstände Luther seine Reflexionen bezüglich des Islams zu erweitern. Der junge ungarische König Ludwig II. fiel in der Schlacht von Mohasc gegen die Osmanen und es begann ein intensiv geführter Nachfolgestreit zwischen Habsburg und dem von den Osmanen gestützten Prätendanten Janos Zapolya. Eine kriegerische Intervention deutscher Truppen schien unvermeidlich, so dass Luther seinen Standpunkt bezüglich eines erfolgreichen Feldzuges noch einmal zu präzisieren suchte. Es dauerte jedoch noch drei Jahre bis Luther im Frühjahr 1529 seine erste, vorrangig der „Türkenfrage“ gewidmete, Schrift „Vom Kriege wider den Türken“ publizierte.
Angesichts der aktuellen Lage bekräftigt er die Notwendigkeit eines Türkenkrieges, entflechtet jedoch sorgfältig die jeweiligen Motive und Aufgaben eines solchen Unterfangens. Das Motiv dabei kann kein Krieg im Namen des Glaubens im Sinne des traditionellen Kreuzzugsverständnisses sein, sondern ein weltlicher Verteidigungskrieg:
„Denn ich widder den Tuercken nicht rate zu streiten seines falschen glaubens und lebens halben, sondern seines mordens und verstoren halben.“
Gleichwohl muss sich der Soldat geistig rüsten, um mit Gottes Beistand überhaupt erfolgreich sein zu können, wobei er als Untertan, nicht als Christ, in den Krieg zieht. Die geistige Vorbereitung darauf ist seine Aufgabe, den Krieg als die göttlich legitimierte Obrigkeit anzuführen ist Pflicht und Aufgabe des Kaisers bzw. der Fürsten. Der Papst wiederum hat weder das Recht, sich in einen weltlichen Krieg einzumischen, noch die Fähigkeit zu geistiger Rechtleitung.
Diese im lutherischen Sinne Erfolg versprechende Haltung wird durch den Typus des „Christianus“ und des „Keyser Karolus“ personifiziert und stellt im wesentlichen das von Luther entwickelte Dogma der Zwei-Reiche-Lehre dar:
„Der selbigen menner sind zween und sollen auch allein zween seyn: Einer heist Christianus, der andere Keyser Karolus. Christianus sol der erst sein mit seinem heer… Herr Christianus, das ist der frumen heiligen lieben Christen hauffe, das sind die leute, so zu diesem kriege gerust sind.“
„Keyser Karolus hat die seinen zuverteydingen als eine ordentliche Oberkeit von Gott gesetzt“
Der Grundtenor der Schrift ist insgesamt noch relativ optimistisch. Eine Wende des militärischen Glücks wird durchaus in Aussicht gestellt, wobei Luther auch ausdrücklich die weltliche Hierarchie in ihrer gegenwärtigen Form bestätigt. Der militärische Erfolg des osmanischen Heeres fungiert dabei wie gehabt als Bestrafung Gottes, der im lutherischen Verständnis dieser Phase allerdings die Bußfertigkeit des „Christianus“ auch weltlich belohnen und das Osmanische Reich zerschlagen wird.
IV. „Türkengefahr“ und Weltenende
Hatte Luthers erste ausführliche Türkenschrift fast ein Jahrzehnt auf sich warten lassen, so erschien noch im selben Jahr 1529 ein weiteres Pamphlet des Reformators. Den Anstoß dazu bot die erste Belagerung Wiens, die den Zeitgenossen als bisheriger Höhepunkt der osmanischen Expansions- und Eroberungsbestrebungen erschien.
In der im Herbst diesen Jahres publizierten „Heerpredigt wider den Türken“ nimmt Luther die bisher entscheidenste Modifikation seiner bisherigen Ansichten vor. Viel stärker als zuvor tritt in seiner Bewertung der Ereignisse der eschatologische Charakter zu Tage. Luther zieht dazu die für ihn und sein Geschichtsverständnis einzig valide Quelle heran, nämlich die Bibel. Luthers Äußerungen in der „Heerpredigt“ fielen auch zeitlich mit seiner Übersetzungs- Interpretationsarbeit am Alten Testament zusammen.
Für Luther hat nun die Vergegenwärtigung des bevorstehenden Weltenendes Priorität, wobei er sich an den Voraussagungen der Daniel-Prophetie orientiert und meint, die entscheidenden Anzeichen für die Apokalypse zu erkennen. Beispielhaft hierfür ist die jetzt erstmals explizit auftauchende typologische Verbindung von „Papst“ und „Türke“. In diesen beiden Figuren erblickt Luther nunmehr die geistliche (Papst) und weltliche (Türke) Natur des Antichrists, wie er bei Daniel vorausgesagt wird:
„Einer geistlich mit listen odder falschem Gotts dienst und lere widder den rechten Christlichen glauben und Euangelium, Davon Daniel schreibt am eylfften Capit. … Welchen auch Sanct Paulus nennet den Endchrist … Das ist der Babst mit seinem bastum… Der ander mit dem schwerd leiblich und eusserlich auffs grewlichst, des gleychen auff erden nicht gewest sey, das ist der Tuercke.“
Im Zuge dessen interpretiert Luther auch den Charakter des Osmanischen Reiches entsprechend seiner Quelle. Im Sinne der Vier-Reiche-Lehre kann ein neues Reich nicht mehr kommen und die translatio imperii kann auf das Osmanische Reich ebenfalls nicht angewendet werden. Folglich ist die osmanische Expansion und deren Erfolg als Zeichen des Jüngsten Gerichts zu sehen:
„Denn die zwey Reiche des Babsts und Tuercken sind die letzten zwen grewel und Gottes zorn , wie sie Apocalip. nennet, den falschen Propheten und das Thier, und mussen miteinander ergriffen und in den feurigen pfuhl geworffen werden.“
Die apokalyptische Situation hebt jedoch die von Luther so penibel herausgearbeitete Zwei-Reiche-Lehre keineswegs auf. Der „Christianus“ hat weiterhin das Recht und die Pflicht sich militärisch zu verteidigen und muss sich dafür geistig rüsten und soll im Zeichen der Buße auch die Türkensteuer an den „Keyser Karolus“ entrichten.
Allerdings ist in der lutherischen Argumentation ein militärischer Erfolg angesichts des sicheren Weltenendes kaum mehr das Ziel, vielmehr geht es darum, sich durch Buße und Glaubensstärke für das Jüngste Gericht vorzubereiten. Das gilt auch und insbesondere für Kriegsgefangene, die Luther dazu aufruft, ihr Schicksal ruhig zu ertragen und sich durch innere Glaubenskraft ihr Heil zu sichern.
Trotz dieser düsteren Zukunftsvision ist Luthers grundsätzliche Intention durchaus optimistisch. Zwar ist das Weltenende unabkehrbar, doch wird am Ende Christus in das Geschehen eingreifen und, wie es bei Daniel beschrieben ist, den Bußfertigen zum Sieg über den Antichrist verhelfen. Luther projeziert die alttestamentarischen Prophezeiungen auf die Gegenwart und prognostiziert, dass die osmanische Expansion Deutschland nicht mehr erreichen werde und die Eroberungen in Ungarn die letzten militärischen Erfolge des Antichrists vor dem Weltenende seien, wobei diese letztendliche Siegesgewissheit sicherlich auch eine seelsorgerische Funktion erfüllt:
„Und Daniel gibt yhm kein horn mehr, Dem nach ists zu hoffen, das der Tuercke hinfurt kein Land des Roemischen reichs mehr gewinnen wird, Und was er ynn Hungern und Deudschen landen thut, das wird das letzte gekretze und gereuffe sein.“
An der eschatologischen Sicht der „Türkengefahr“ hielt Luther bis an sein Lebensende grundsätzlich fest. Nach 1529 erfolgten lediglich einige Modifikationen, die sich im wesentlichen in Luthers dritter großer Türkenschrift, der „Vermahnung zum Gebet wider den Türken“ aus dem Jahre 1541 manifestieren.
In der Zwischenzeit war die aggressivste Expansionsphase unter Süleyman dem Prächtigen nach der gescheiterten Belagerung Wiens abgeebbt, ein schlagkräftiger Kriegszug des Reiches hingegen fand ebenfalls nicht statt. Ein unmittelbare und großangelegte Konfrontation schien sich erst 1541, nachdem der ungarische Thronfolgestreit erneut eskaliert war, abzuzeichnen.
Luthers „Vermahnung“ nimmt die eschatologische Vision aus der „Heerpredigt“ wieder auf, der Grundton der Schrift ist jedoch deutlich negativer. Luther ist enttäuscht über die aus seiner Sicht mangelnde Bußfertigkeit der Mehrzahl der Menschen, seine Aufrufe aus den letzten Jahren, trotz der temporär abflauenden militärischen Bedrohung, den Weg der Buße, und das hieß in seinem Sinne natürlich den Weg der Reformation, zu gehen, konnte die große Anzahl der Altgläubigen nicht überzeugen:
„Wem nit zu raten iszt, dem iszt nit zu helfen.“ „Sie wollen ungereformirt sein und kurtz umb keine newerung leiden. Heisst das nicht pestilenz, theur zeit, Tuercken, krieg, mord und allen Gottes zorn und plage erregen?“
Luther zieht daraus den Schluss, dass es nur einem kleinen Häuflein Bußfertiger vergönnt sei, dass Heil zu erreichen. Diese müssten sich jedoch darauf gefasst machen, für die Sünden der Altgläubigen ebenfalls die „Rute Gottes“, verkörpert in der osmanischen Expansion, ertragen zu müssen, wobei er seine frühere Aussage von der Verschonung Deutschlands korrigiert:
„Anno 1600 Turca erit Dominus Germaniae et Italiae, nisi obstiterit extremus Dies.“
Somit kommt Luther nicht daran vorbei, das unmittelbar bevorstehende Weltenende zeitlich nach hinten zu rücken und auch die Charakterisierung des Antichrists gemäß der Daniel-Prophetie erfährt eine weitere Modifikation.
Stellten in der „Heerpredigt“ Papst und „Türke“ noch die zwei Naturen des Antichrists dar, so entflechtet Luther jetzt beide Figuren. Der Papst ist inzwischen sogar schlimmer als der Türke, weil er ja in Rom bewusst dem Evangelium zuwider handele, während der Türke ja nur als unbewusstes Werkzeug Gottes fungiere. Dementsprechend fülle der Papst die Hölle mit Christen, der Türke jedoch den Himmel mit Märtyrern:
„Der babst reisset die edlen seelen von Christo durch seine lesterliche menschen lere und fueret sie auff eigen gerechtigkeit, welchs ist das recht geistliche morden… Vermoechte ers, on zweifel er solt wol groesser mord und blutvergiessen anrichten, denn der Tuercke.“
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