V. Späte Phase und Koranverlegung
Den kriegerischen Auseinandersetzungen des Jahres 1541 folgte eine militärisch eher ruhige Phase nach der vorläufigen Dreiteilung Ungarns. Insofern erschien ein unmittelbar bevorstehendes Weltenende weniger akut und auch Luther zog daraus prinzipiell Konsequenzen, in dem er sich nun anschickte, die Zeit zu nutzen und sich intensiv mit der islamischen Lehre auseinanderzusetzen. Ein weiterer Anstoß dazu bot Luther ein Koranexemplar, welches ihm 1541 nach Wittenberg übersandt wurde. Dabei handelte es sich um die lateinische Übersetzung des Engländers Robert von Ketton aus dem 12. Jahrhundert. Luther, dessen bisherige Islam- und Korankenntnisse zuvor ausschließlich auf Werken polemischer Kontroversliteratur beruht hatten, konnte somit erstmals auf die wesentliche autoritative Quelle der islamischen Lehre zurückgreifen .
Möglich wurde dieser Schritt vor allem durch ein groß angelegtes Projekt des Baseler Orientalisten Theodor Bibliander, der mit Luther in engem Kontakt stand. Beiden gemein war die Auffassung, dass nur eine gründliche Kenntnis der islamischen Lehre ihre grundlegene Falschheit entlarven könne:
„… das man dem Mahmet oder Turcken nichts verdrieslichers thun, noch mehr schaden zufugen kann, denn das man yhren alcoran bey den christen an den tag bringe, darinnen sie sehen mugen, wie gar ein verflucht, schendlich, verzweivelt buch es sey, voller lugen, fabeln und aller grewel.“
Zu diesem Zweck kompilierte Bibliander 1542 eine Islam-Enzyklopädie, bestehend aus der von-Ketton-Ausgabe und verschiedenen polemischen Werken. Vor allem die Intervention Luthers machte die Verlegung des Werkes jedoch überhaupt erst möglich, da sich Bibliander in Basel mit scharfen Zensurbestimmungen konfrontiert sah .
Luther war nun im Besitz zweier maßgeblicher Schriften, nämlich der Koranausgabe von Kettons und der Streitschrift Montecroces. Die Koranlektüre zerstreute Luthers frühere Kritik an dem allzu polemischen Beschreibung Montecroces und er entschied sich dafür dieses ihm ja schon länger bekannte Werk, und nicht etwa die lateinische Koranübersetzung, zu verdeutschen. Der Grund dafür liegt vielleicht in der stärkeren, polemischen Überzeugungskraft Montecroces, dessen Anschuldigungen gegen den Islam ja in Luthers Augen durch die valide Quelle der Koranausgabe untermauert werde . Insofern ist es auch kaum verwunderlich, dass Luther bei der Übertragung sehr wählerisch mit seiner Quelle umgeht und viele Passagen bearbeitet und vorzugsweise noch polemischer färbt .
Inhaltlich greift er dabei vor allem die von ihm ja schon früher behandelten Themenkreise, z.B. den Wert der Ehe, vor allem aber Stellung und Bedeutung Christi auf. Die Anknüpfungspunkte zu seinen drei großen Türkenschriften wiederum sind eher gering, zu sehr konzentriert sich Luther auf die literarische Widerlegung islamischer Lehren .
In seinem Vorwort zur Islam-Enzyklopädie des Theodor Bibliander fällt dann auch vor allem die fehlende Brisanz der bevorstehenden Apokalypse auf , wenngleich Luther noch einmal Bezug auf den Antichrist nimmt. Dabei charakterisiert er Muhammad als eher grobschlächtigen Häretiker, was in seinen Augen gleichzeitig einen Beweis für die perfide Rolle des Papstes darstellt:
„Und ich halt den Mahmet nicht für den Endechrist, Er machts zu grob und hat einen kendlichen schwartzen Teuffel, der weder Glauben noch vernunfft betriegen kann, Und ist wie ein Heide, der von aussen die Christenheit verfolget… Aber der Babst bey uns ist der rechte Endechrist, der hat den hohen, subtilen, schönen, gleissenden Teuffel, Der sitzt inwendig in der Christenheit.“
Grundsätzlich also dient die polemische Argumentation und die Einbeziehung des Papsttums hier weiterhin auch zur Verteidigung des reformatorischen Glaubensbekenntnisses gegen alle Feinde des Evangeliums.
VI. Schluss
Die vorgelegte Betrachtung sollte gezeigt haben, dass „Türkengefahr“ und islamische Lehre Leben und Werk Luthers maßgeblich begleiteten und einen nicht zu vernachlässigenden Faktor im Denken des Reformators bildeten.
Luthers jeweiliger Wissensstand sowie die allgemeine politisch-militärische Lage im Konflikt mit dem Osmanischen Reich bestimmten dabei Akzent und Richtung in seinen spezifischen Äußerungen. Die deutlichste Zäsur kann hier auf das Jahr 1529 gelegt werden, von wo an er sämtliche Betrachtungen bezüglich der „Türkengefahr“ in sein eschatologisches Schema einzuordnen suchte .
Trotz variierender Standpunkte lassen sich im Luthers Oevre dennoch einige Konstanten ausmachen, von denen er nie abrückte und die stets wesentliche Parameter in seiner Argumentation darstellten. Luthers fundamentale Motivation überhaupt zu agitieren und publizieren war dabei seine Sorge um das Evangelium und dessen vermeintlichen Feinde. Von hier aus lassen sich alle behandelten literarischen Angriffe des Reformators verstehen. In diesem Punkt blieb er, ungeachtet der jeweiligen politischen Situation, seinen Prinzipien treu, indem er dogmatisch jegliche Legitimität von Papsttum und Osmanischem Reich ablehnte. Zwar profitierten die protestantischen Gebiete mittelfristig von der militärischen Überbelastung des Reiches, aber selbst ein Burgfrieden bzw. Zweckbündnis mit Papst oder Osmanen kam für Luther jedoch nie in Frage. Stattdessen versuchte er Zeit seines Lebens den Gegensatz zwischen den Feinden des Evangeliums und den Reformierten herauszuarbeiten. Im Zuge dessen nahm Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die auch eine Abkehr von der traditionellen Kreuzzugsidee formulierte, Form an. Darüberhinaus jedoch konnte Luther dem Türkenkrieg keine spürbaren Impulse verleihen, geschweige denn eine militärische Wende herbeiführen.
Die von Luther seit 1541 wieder forciert betriebene Beschäftigung mit der islamischen Lehre diente ebenfalls den oben genannten Zielen. Insofern war eine verständnis- und dialogorientierte Diskussion von Luther nicht zu erwarten . Wenn seine Motive auch deutlich präjudiziert waren und seine Kenntnisse begrenzt blieben, so ist ihm dennoch die erstmalige Verdeutschung von Koranzitaten zuzuschreiben, ebenso wie die Verbreitung von islamischen Quellen wenigstens in Gelehrtenkreisen .
Alles in allem bleibt also festzuhalten, dass Luther sich in seinen Türkenschriften stets zwischen den Rollen als Zeitzeuge, Kommentator, Exeget und Apologet bewegte. Dabei konnte eine dieser Funktion zu bestimmten Zeitpunkten Überhand gewinnen, nie jedoch löste sich Luther komplett aus dem ihm vorgegeben äußeren Rahmen.