Wie ein Fußballspiel in Syrien in einem Zusammenstoß mit der Staatsmacht endete….
Natürlich gehört zu einer Reise nach Syrien auch der Besuch eines Fußballspiels. Zwar belegt die Nationalmannschaft in der FIFA-Weltrangliste nur Platz 89 und liegt damit noch hinter Fußballmächten wie Oman oder Panama, doch erfreut sich das Spiel unter den Syrern einer großen Beliebtheit. Die Spiele der großen europäischen Ligen und der Champions-League werden von arabischen Satellitensendern ebenso übertragen wie die Partien der heimischen Liga. Täglich erscheint in Syrien die Sportzeitung „ar-Riyadiyya“, die über nationale und internationale Sportereignisse berichtet. Aus dieser erfahren wir bei unserem Besuch im vorigen Jahr auch vom Spiel zwischen „al-Ittihad“ aus Aleppo und den Gästen von „al-Wahda“ aus der Hauptstadt Damaskus.
Per Omnibus machen wir uns auf den Weg und erreichen das Stadion „al-Hamdaniya“ weinige Minuten vor Anpfiff. Vor dem Stadion verkaufen Händler neben den obligatorischen Sonnenblumenkernen auch Schawarma, das schon geraume Zeit in der Mittagssonne verbracht hat, sowie selbstgestrickte Stirnbänder des aleppiner Vereins „al-Ittihad“, Stückpreis 5 Cent.
Sicherheitskontrollen am Eingang finden praktisch nicht statt.
Der fünffache Meister und Tabellenführer, dessen Name übersetzt soviel wie „Eintracht“ oder „Union“ bedeutet, empfängt an diesem Nachmittag den Titelverteidiger „al-Wahda“ (Einheit). Das Stadion scheint mit vielleicht 12000 Zuschauern nahezu ausverkauft, die in rot gekleideten Heimfans säumen besonders die Tribüne an der Gegengeraden. Auch aus der Hauptstadt haben sich schätzungsweise 500 Anhänger in Bussen auf die knapp 5 Stunden lange Fahrt nach Aleppo gemacht. Frauen sucht man im ganzen Stadion übrigens vergebens, auch wenn ihnen der Zutritt natürlich gestattet ist.
Zu Beginn des Spiels peitschen die Fans ihr Team lautstark aber friedlich nach vorn und die Gastgeber sind in der Tat hoch überlegen. Folgerichtig geht „al-Ittihad“ wenige Minuten vor dem Pausenpfiff mit 1:0 in Führung. Der Jubel ist riesig und in Sprechchören lässt das Publikum den Torschützen, einen dunkelhäutiger Stürmer namens Ali, hochleben. Doch im Gegenzug fällt der Ausgleich und das Spiel geht beim Stand von 1:1 in die Pause.
Nun finden die Umstehenden ausreichend Gelegenheit uns über die neuesten Entwicklungen im deutschen Fußball zu unterrichten. Immer wieder bekomme ich das Ergebnis der kurz zuvor ausgetragenen Champions-League-Partie zwischen Olympique Lyon und Werder Bremen präsentiert: „sitta wa ithnain, 7:2“. Außerdem kommen ständig Getränkeverkäufer durch die Reihen, die Coladosen verkaufen, die durch Eis-Brocken gekühlt werden, die später noch eine Rolle spielen sollten.
Die zweite Hälfte beginnt wie Halbzeit Eins. „al-Ittihad“ erspielt sich eine Torchance nach der nächsten doch Ali trifft selbst aus 4 Metern nicht das leere Tor. Die Zuschauer quittieren dies mit entgeisterten „Ya Allah, ya Allah“-Rufen und starren ungläubig gen Himmel. Etwa 10 Minuten vor Abpfiff macht das Hauptstadtteam aus heiterem Himmel das 2:1. Mit einem Schlag wird es um uns herum ganz ruhig, nur die Gästefans sind noch zu hören. Kinder um uns herum brechen in Tränen aus.
Dann, es läuft schon längst die Nachspielzeit, erzielen die Roten aus Aleppo doch noch den hoch verdienten Ausgleich – der Jubel kennt keine Grenzen, das Stadion bebt in seinen Grundfesten. Und noch immer lässt der Schiedsrichter nachspielen. In der 6. oder 7. Minute der Nachspielzeit plötzlich Rudelbildung am Strafraum von „al-Wahda“. Schemenhaft ist zu erkennen, dass sich einige Spieler prügeln und der Schiedsrichter hilflos Karten verteilt.
Auf einige Fans wirkt dies wie eine Initialzündung. Wie auf Kommando verlassen sie ihre Plätze und stürmen aufs Feld. Die Sicherheitskräfte wirken heillos überfordert und schwingen etwas überfordert mit ihren Schlagstöcken. Einige Fans bewerfen die Polizisten mit den Eisbrocken, die eigentlich für die Kühlung der Getränke gedacht waren. Unbeschwert nehmen die Beamten die kiloschweren Geschosse auf und werfen sie wahllos zurück in die Zuschauermenge. Die Spieler und Schiedsrichter versuchen heil in die Katakomben des Stadions zu fliehen, werden aber auf dem Weg dorthin einem wahren Bombardement an Gartenstühlen, die als Sitze im VIP-Bereich des Stadions dienten, ausgesetzt. Das syrische Fernsehen, das das Spitzenspiel live zeigt, hat die Übertragung zu diesem Zeitpunkt schon längst abgebrochen.
An den Stadionausgängen herrscht großes Gedränge, Väter mit ihren Söhnen versuchen dem Chaos schnell zu entkommen. Nach einigen Minuten hat sich der Ansturm auf die Ausgänge zwar gelegt, doch benutzen nun Jugendliche die Ausgänge als Schutz um von dort aus Steine auf die Polizisten auf dem rasen zu werfen. Wir decken notdürftig unsere Köpfe mit den Rucksäcken und sprinten durch den Ausgang, passiert ist uns nichts. Auf den umliegenden Straßen herrscht ebenfalls Chaos. In knapp hundert Meter Entfernung hat die Polizei ein Tränengas-Geschoss gezündet, beißender Rauch macht sich breit. Einige Männer stehen mit blutenden Kopfwunden am Straßenrand.
Wie wir am nächsten Tag aus „al-Riyadiyya“ erfahren haben sich einige Fans noch zwei Stunden nach Schlusspfiff Kämpfe mit Gästefans und Polizei geliefert. Vielen Jugendlichen dienen Fußballspiele wie diese offenbar als willkommenes Vehikel um angestauten Frust über Repressionen an der syrischen Staatsmacht in Gestalt von Polizisten abzulassen.
Übrigens konnte „al-Ittihad“ seine Tabellenführung bis zum Schluss behaupten und wurde schließlich zum 6.Mal syrischer Meister. „al-Wahda“ landete schließlich auf Rang 3.