29.01.2008
Zur politischen Relevanz des Aga Khan III für Indiens Muslime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Teil II

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II.2. Die Anfänge muslimischer Selbstvertretung 1906-1918

Bereits 1902-1904 habe der Aga Khan realisiert, dass der sich als säkular definierende und somit Muslimen offen stehende Indische Nationalkongress (INC), die zu diesem Zeitpunkt einzige indische, politische Organisation und Vertretung gegenüber der britischen Kolonialregierung, außerstande sei, muslimische Bedürfnisse und Bestrebungen adäquat repräsentieren zu können. Dies begründete er zum einen durch den Druck hinduistisch-nationalistischer Gruppen auf den INC. Andererseits unterstellte er dem INC, lediglich unkritische, „hörige“ Muslime aus Madras und Bombay als Vertreter für den Legislativrat des Vizekönigs auszuwählen. Eine grundsätzlich negative Haltung des Aga Khan gegenüber dem INC lässt sich allerdings nicht erkennen. Im Gegenteil versuchte er bis 1905 in zahllosen Gesprächen, insbesondere mit seiner Vertrauensperson Sir Pherozeshah Mehta, einem Zoroastrier aus Bombay, der dem INC angehörte und über großen Einfluss in Gujarat und Sindh verfügte, den INC von der Wichtigkeit zu überzeugen, das Vertrauen der Muslime wiederzugewinnen.

Die Führungsrolle des INC während der Unruhen als Reaktion auf die Teilung Bengalens 1905, die von muslimischer Seite, welche größtenteils hinter der Teilung stand, nicht nur als anti-britisch, sondern auch als anti-muslimisch wahrgenommen wurden, verfestigten beim Aga Khan in der Folgezeit den in den Vorjahren gewonnen Eindruck.

Folgerichtig ergriff der Aga Khan als einflussreicher Mann mit exzellenten Kontakten zu den britischen Herrschern die Initiative. Zu diesem Zeitpunkt sah der Aga Khan die britische Herrschaft in Indien für die Entwicklung des Subkontinents durchaus als förderlich an, deshalb forderte er von den Muslimen Indiens Loyalität gegenüber der Kolonialmacht. Hinzu kam, dass er die britischen Herrscher als unverzichtbare Schiedsrichter zwischen der Hindu-Mehrheit und der muslimische Minderheit ansah. Die Aussicht auf einen unabhängigen, von Hindus dominierten Staat bestärkten sicherlich seine Ansichten.

Während eines Besuchs in Aligarh 1906 verständigte sich der Aga Khan mit Nawab Muhsin-ul-Mulk, dem direkten Nachfolger und Vertrauten Sir Sayyid Ahmad Khans am Muhammadan Anglo-Oriental College, auf die Organisation einer muslimischen Delegation, die Vizekönig Lord Minto im Namen der muslimischen Gemeinschaft Forderungen bezüglich der Repräsentation im Legislativrat und in den Provinzen unterbreiten sollte. An der Konzeption der letztendlich durch Sayyid Ali Bilgrami ausformulierten Petition an den Vizekönig war der Aga Khan beteiligt. Welchen Stellenwert er bereits zu diesem Zeitpunkt, mit 29 Lebensjahren, innerhalb der muslimisch-indischen Gemeinschaft genoss, lässt sich daran feststellen, dass er von den 70 Vertretern der Delegation aus verschiedensten Regionen des Subkontinents mit differierenden Ansichten, zum Kopf der Delegation gewählt wurde. Neben seiner allgemeinen Akzeptanz unter den Muslimen Indiens, die er sich durch moderate Ansichten, den Einsatz für Bildung, aber auch für die Überbrückung sunnitisch-schiitischer Differenzen erwarb, war das bereits angesprochene gute, oft freundschaftliche Verhältnis des Aga Khan zu britischen Repräsentanten in Indien sicherlich ein nicht unerheblicher Faktor für die Wahl. Dem Aga Khan war es letztendlich vorbehalten, am 1. Oktober 1906 in Simla dem Vizekönig Lord Minto die Petition vorzulesen. Die Petition enthielt zwei Hauptforderungen: die Forderung nach separaten Wählerschaften sowie eine im Vergleich zur Bevölkerungsgröße überproportionale Repräsentation der Muslime in sämtlichen politischen Vertretungen.

Während des Aufenthalts in Simla regte der Aga Khan in einem Gespräch mit Nawab Muhsin-ul-Mulk an, eine politische Partei zu gründen, um die Muslime Indiens zu organisieren und aus ihrer Lethargie zu erwecken. Nur auf diese Weise könnten die Forderungen von Simla nachhaltig verfolgt werden und effizient in die Tat umgesetzt werden. Die Idee des Aga Khan, die Muslime des Subkontinents in einem politischen Organ zu organisieren, war zu diesem Zeitpunkt allerdings keineswegs neu oder einzigartig: seit 1902 hatten führende muslimische Persönlichkeiten sowohl aus Bengalen, als auch aus den United Provinces und dem Punjab, ähnliche Pläne geäußert.

Die All India Muhammadan Educational Conference am 30. Dezember 1906 in Dhaka bot die geeignete Bühne, um die politische Initiative zu ergreifen. Fast 3 000 Delegierte nahmen an der Konferenz teil und bedeuteten damit die bis zu diesem Zeitpunkt größte repräsentative Zusammenkunft indischer Muslime. Zum ersten Mal in der Geschichte der AIMEC wurde das selbst auferlegte Verbot aufgehoben, politische Fragen zu thematisieren, als Nawab Salim Ullah Khan aus Dhaka, unterstützt durch den Aga Khan und Nawab Muhsin-ul-Mulk, die Gründung einer politischen muslimischen Partei vorschlug, um die Durchsetzung muslimischer Interessen zu gewährleisten. Umgehend wurde die Gründung der All India Muslim League beschlossen. Die Wertschätzung, die der Aga Khan innerhalb dieses elitären Zirkels genoss, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass er zum ständigen Präsidenten der Liga gewählt wurde. Ebenso spiegeln die im so genannten „Grünen Buch“ formulierten Grundsätze der Liga von Teilen der muslimischen Intelligenz durchaus kritisch gesehene, Argumentationsstränge des Aga Khan wider. Wichtig sind an dieser Stelle die postulierte Loyalität gegenüber der Kolonialmacht und die Betonung von Bildung zu nennen.

In den Folgejahren bis 1909 sollte sich der Aga Khan vollkommen auf den Kampf um separate Wählerschaften für die muslimische Minderheit Indiens konzentrieren. Während sich Vizekönig Lord Minto aufgeschlossen gegenüber den muslimischen Forderungen der Simla-Delegation gezeigt hatte, war der liberale Staatssekretär für Indien in London, John Morley, strikt gegen die Sonderbehandlung einzelner Religionsgemeinschaften. In London initiierte der Aga Khan eine regelrechte Pressekampagne gegen die Reformvorhaben Morleys. Durch zahlreiche offene Briefe an The Times und an weitere britische Zeitungen, in denen er die muslimischen Anliegen in Indien illustrierte und darüber hinaus den Staatssekretär für Indien für seine mangelnde Kenntnisse der indischen Gesellschaft, scharf kritisierte, gelang es, die britische Öffentlichkeit für das muslimische Dilemma in Indien zu sensibilisieren und den Druck auf Morley zu erhöhen. Darüber hinaus nutzte er ein weiteres Mal seine exzellenten Kontakte zu Entscheidungsträgern im britischen politischen System. 1908 gründete der neben dem Aga Khan sicherlich wichtigste Lobbyist indisch-muslimischer Interessen Sayyid Amir Ali in London die der AIML nahe stehende London Muslim League. Als Plattform für die Vertretung muslimischer Interessen kam diesem Organ in den kommenden Jahren wichtige Bedeutung zu. Letztendlich ist es den geschickten und beharrlichen Anstrengungen des Aga Khan und Sayyid Amir Alis zu einem überwiegenden Teil zu verdanken, dass John Morley und das britische Kabinett gegen ihren ursprünglichen Willen dazu bewegt wurden, der muslimischen Minderheit Indiens separate Wählerschaften einzuräumen. Verschiedene Historiker argumentieren, dass mit diesem politischen Sieg die Basis für die Gründung Pakistans 30 Jahre später geschaffen wurde.

Die Rücknahme der Teilung Bengalens 1911, einhergehend mit der Verlegung der Hauptstadt von Kalkutta nach Delhi, löste eine Dynamik aus, die den Aga Khan erstmals innerhalb der Muslime Indiens zu einem gewissen Grade isolierte. Im Gegensatz zum Großteil der indischen Muslime sah er die Wiedervereinigung Bengalens nicht als Vertrauensbruch an. Vielmehr begrüßte er die Entscheidung der britischen Kolonialherrscher, da unter den neuen Voraussetzungen, in Übereinstimmung mit seinem Konzept des territorialen Nationalismus auf der Basis von Spracheinheiten, das in III ausführlich behandelt werden wird, eine bengalische Nation entstehen könne. Kritiker wie Muhammad Ali, zu diesem Zeitpunkt junges Mitglied im INC und der AIML, später bekannte Führungspersönlichkeit in der Khilafat-Bewegung und Delegierter bei der Round Table Conference, warfen dem Aga Khan deshalb vor, mit der Kolonialmacht zu kollaborieren, ohne diese überhaupt zu hinterfragen. Die Vorwürfe wurden des Weiteren gegenüber der autonom agierenden London Muslim League und ihrem Gründer Sayyid Amir Ali geäußert. Dabei entwickelte sich zwischen dem Aga Khan und Muhammad Ali eine Privatfehde. Letztendlich trat der Aga Khan 1913 von seinem Posten als ständiger Präsident der All India Muslim League konsequenterweise zurück, da er die neu ausgegebene Stoßrichtung der AIML von Loyalität gegenüber der britischen Kolonialmacht hin zu Forderungen nach einer für Indien angemessen Form von Selbstverwaltung und die einhergehende Annäherung an den INC nicht mittragen konnte. Muslimische Politiker wie Muhammad Ali Jinnah oder der angesprochene Muhammad Ali, die bereits dem INC angehörten, übernahmen in den Folgejahren die Führungspositionen in der AIML.

Bis er 1918 seine Zukunftsvisionen für Indien in „India in Transition“ niederschrieb, hielt sich der Aga Khan bezüglich indischer Politik merklich zurück und widmete sich vornehmlich seinen ismailitischen Anhängern außerhalb des Subkontinents. Außerdem verlegte er seinen Lebensmittelpunkt zunehmend nach Europa. Während des Ersten Weltkriegs rief er die Muslime Indiens und seine ismailitischen Anhänger dazu auf, Großbritannien aktiv zu unterstützen. In dieser Zeit unternahmen deutsche Agenten einen erfolglosen Mordversuch an ihm. Seine Verdienste für die britische Krone wurden 1916 mit dem von der britischen Regierung zugesprochenen Titel „Prince of Bombay“ gewürdigt.

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Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...