Sechs Jahre nach Beginn des Aufstandes in Syrien spricht vieles für einen militärischen Sieg des Assad-Regimes gegen die Rebellen. Der Geist der Revolution wird jedoch nicht mehr in die Flasche zurückkehren. Ein Kommentar von Christoph Dinkelaker.
Vor genau sechs Jahren begann der Aufstand gegen die Assad-Diktatur. Demonstrationen in Deraa für die Freilassung von Kindern, die wegen regimekritischer Graffiti eingesperrt und gefoltert wurden, begegnete der Gouverneur auf Geheiß des Präsidenten mit roher Gewalt. Landesweite Proteste folgten, die Revolution nahm ihren Lauf. Der friedliche Kampf für Würde und Teilhabe wurde niedergeschossen, Teile der Opposition bewaffneten sich.
Seitdem sind Hunderttausende dem Krieg in Syrien zum Opfer gefallen, Millionen wurden verletzt, Millionen vertrieben. Bevölkerungszentren wie Homs oder Aleppo sind zu einem beträchtlichen Teil zerstört, ebenso zahlreiche Kulturschätze.
Das Assad-Regime, das mit seinen russischen, iranischen und libanesischen Verbündeten den Großteil der Zerstörung und der zivilen Opfer zu verantworten hat, hat wichtige Städte wie Homs oder Aleppo zurückerobert. Die von den Rebellen kontrollierten Gebiete rund um Idlib, Deraa oder Ost-Ghouta schrumpfen. Den etwa 400.000 Bewohner*innen der letztgenannten östlichen Vororte von Damaskus steht laut Aktivist Omar Sharaf ein zweites Aleppo bevor: Tägliche Luftangriffe, Belagerung, und Bombenterror. Großen Widerstand können die Rebellen nicht mehr leisten. Sie sind von den Nachschublinien abgeschnitten. Die Grenzen nach Jordanien, in die Türkei und in den Libanon sind dicht. Nur Tunnel in Regime-kontrollierte Gegenden halten die befreiten Gebiete am Leben. Das Regime duldet die Tunnelwirtschaft, weil es durch Produktzölle von ihr profitiert.
Innerhalb der befreiten Gebiete geraten zivile Initiativen, Akteure und Institutionen zunehmend unter Druck von Milizen. Zum Teil versuchen jihadistische Gruppierungen ihre Vorstellung einer gottesfürchtigen Gesellschaft mit Gewalt durchzusetzen. Sie unterdrücken Teile der Bevölkerung und radikalisieren andere.
Ein oberflächlicher Blick auf die Errungenschaften der Massenproteste von 2011 und 2012 fällt also ernüchternd aus. Immer häufiger stellen syrische Freundinnen und Freunde, die nach Deutschland geflüchtet sind und die Proteste gegen das Regime anfänglich unterstützten, die Fragen: „War es das wert? Vorher hatten wir zumindest Stabilität.“
Was sind die Errungenschaften des Aufstandes?
Will man die Errungenschaften des Aufstandes nachvollziehen, so lohnen Blicke in die befreiten Gebiete und in die Diaspora. In Idlib, Deraa, Ost-Ghouta, in den kurdischen Gebieten oder auch in Ost-Aleppo (vor seiner Rückeroberung durch das Regime) haben Aktivist*innen beeindruckende Institutionen der Selbstverwaltung aufgebaut, die erstmals offene und kritische Teilhabe der Bevölkerung ermöglichten. Seien es politische Gremien, Freiwilligenverbände für die Gesundheitsversorgung, Frauenzentren oder Bildungsinitiativen.
Durch die Revolution ist eine kritische Zivilgesellschaft entstanden. Das zivile Zentrum in Qamishli veranstaltet zum Beispiel öffentliche Debatten zu aktuellen (lokal-)politischen Themen. Undenkbar vor 2011. Bis dahin hatte das Regime und seine die Gesellschaft durchdringenden Geheimdienste jegliches kritisches Engagement im Keim erstickt.
Andere alternative Bildungszentren wie zum Beispiel in Deraa bieten Sprachkurse, Zugang zu vormals nicht zugänglicher Literatur, mediale Fortbildungen für Aktivist*innen oder psychosoziale Unterstützung an. Das zivile Zentrum in Atareb vermittelt in Workshops friedliche Konfliktbearbeitung und wirbt für den Bann von Waffen in der Stadt. Gleichzeitig dokumentiert es Kriegsverbrechen, erstmals wird das Prinzip Accountability in Syrien umgesetzt.
Ein weiteres Resultat des Aufstandes ist die Entwicklung alternativer Medien, die durch ihre Berichterstattung eine kritische Gegenöffentlichkeit zur Propaganda des Regimes geschaffen haben. Und die auch wertvolle Einblicke in die Lebensrealitäten in IS-kontrollierten Gebiete geben und gaben. Viele der mutigen Journalist*innen mussten ins Ausland fliehen, halten jedoch Kontakt mit Aktivist*innen in Syrien und leisten wertvolle Arbeit.
Das Assad-Regime wird nicht zuletzt dank seiner Verbündeten die militärische Auseinandersetzung um Syrien wohl gewinnen, der Geist der syrischen Revolution wird jedoch nicht mehr in die Flasche zurückkehren. Die Menschen, die in den befreiten Gebieten zivile Selbstverwaltung und durch die Revolution kritisches Denken erlernt haben, werden die diktatorische Bevormundung nicht mehr akzeptieren. Das beweisen die Bewohner in Ost-Ghouta bereits in der Gegenwart mit ihren regelmäßigen Demonstrationen gegen die Willkür jihadistischer Milizen. Deshalb scheint sehr fraglich, ob Assad seine Macht in der Nachkriegsordnung konsolidieren kann. Das Regime wird mit Anschlägen und militärischer Gegenwehr zu kämpfen haben – vor allem aber mit einer erstarkten Zivilgesellschaft.