Das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris beschäftigt die Menschen in Europa, ungeachtet ihres sozialen Hintergrundes – doch nur von Muslim_innen wird erwartet, sich klar zu distanzieren. Wie man sich fühlt als in Deutschland lebender Muslim zwischen Mitgefühl für die Opfer und Generalverdacht beschreibt aus einer sehr persönlichen Perspektive Mohamed Lamrabet.
Es ist 8 Uhr in der Früh. Sie starrt in Richtung Fenster. Ihr Blick ist bewegungslos. Ihre Augen leer. Als ihre Hand in meiner liegt, ist es mehr ein Zittern als ein fester Griff. Ihre Haut hat an Farbe verloren. Sie ist grau und an den meisten Stellen trocken. Nicht mehr als eine zarte Schicht Pergamentpapier. Kaum noch durchblutet. Seit ich hier bin sind ihre Wangen eingefallen. Noch atmet sie, aber jeder Atemzug bereitet ihr Schmerzen. Meine Großmutter liegt im Sterben.
Ich schalte das Radio ein und höre die Nachrichten aus Paris. Bewaffnete Männer hätten die Zentrale des französischen Satire-Magazins Charlie Hebdo überfallen und ein Dutzend Menschen erschossen. Vor zwei Tagen war ich erst dort gewesen. Frankreichs Flaggen hängen auf halber Höhe. In Notre-Dame werden die Totenglocken geläutet. Tausende Menschen gehen im Laufe des Nachmittags auf die Straße, um ihre Solidarität zu zeigen. Darunter viele Muslime.
Meine Mutter und ich sind Muslime. Als sie meinen Vater in den 1980er Jahren kennenlernte, konvertierte sie zum Islam. Nicht leichtfertig, nicht Hals über Kopf. Sie nahm sich über ein Jahr Zeit, die Religion zu studieren und eine Entscheidung zu treffen. Eines Tages trat sie dann mit Hijab auf die Straße. Kurze Zeit später folgten die ersten Konsequenzen. An ihrem Arbeitsplatz teilte man ihr mit, dass ihr Aussehen für Kunden unzumutbar sei. Auch meine Großmutter hatte Bedenken, aber sie akzeptierte die neue Situation.
Als Muslim denke ich an die Opfer, nicht an die Täter
Ich denke an die Opfer des Attentats. Ich fühle mit ihnen – mit der Redaktion und mit den Familien. Ich distanziere mich von einer Tat, die nicht weiter von den Werten meiner Religion entfernt sein könnte und durch nichts zu rechtfertigen ist. Als Muslim denke ich an die Opfer, nicht an die Täter. Ich unterscheide nicht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Ich sehe Menschen.
Als Kind verbrachte ich viel Zeit mit meiner Großmutter. Dass ich Muslim war, änderte nichts. Wir besuchten Märchenwälder und spielten zusammen Brettspiele. An Weihnachten backte sie Plätzchen und schrieb uns Glückwunschkarten. Heute sitze ich an ihrem Sterbebett und schaue zu, wie das Leben in ihr langsam verblasst. Viel hat sie in den letzten Monaten gelitten. Doch dann kam noch eine letzte Diagnose dazu: Brustkrebs. Weil nicht sicher war, ob er bereits gestreut hatte, empfahl man einen operativen Eingriff. Weil sie zu schwach war, lehnten ihre Töchter ab.
In diesen Tagen ist meine Religion mehr denn je eine Stütze. Sie bringt in mir das Beste zum Vorschein. Sie hält mich dazu an, Verantwortung zu zeigen und für das Leid um mich herum einzustehen. Sie verlangt von mir, meine persönlichen Bedürfnisse und Sorgen zurückzustellen, selbstlos und vernünftig zu sein. Sie verlangt von mir, zu handeln, anstatt nur darüber nachzudenken. Sie zeigt Verständnis für Schwäche, Trauer und Schuld und verlangt im Gegenzug Rückgrat, Geduld und Mitgefühl. Sie empfiehlt Enthusiasmus im Leben und Demut vor dem Tod.
Ich fahre ich in die Stadt, um einige Einkäufe zu erledigen. Meine Umgebung zieht an mir vorbei. Meine Stadt ist alles andere als wohlhabend. Man sieht es ihr an. Viele wirtschaftspolitische Maßnahmen haben sie in den letzten Jahren gezeichnet. Bibliotheken, Theater, Schwimmbäder und Jugendzentren wurden geschlossen, Einkaufszentren gebaut. Viele Menschen sind arbeitslos. Gleichzeitig stieg die Zahl der Migranten und Flüchtlinge. Allen sieht man die alltäglichen Schwierigkeiten an.
Ich bin nicht Charlie Hebdo, ich bin die Opfer
Mir fällt auf, dass ich die Passanten aufmerksamer betrachte als sonst. Ihre Blicke sprechen Bände über ihre Ängste und Sorgen. Viele leben prekär und in tagtäglicher Unsicherheit. Wenn ich sie sehe, wundert mich nicht, dass die Zahl der rechtsradikalen Übergriffe in den letzten Jahren gestiegen ist. Wenig nährt Hass gegenüber dem Fremden mehr als Perspektivlosigkeit und Angst vor dem Absturz.
Ich erinnere ich mich an die vulgären Inhalte von Charlie Hebdo. Die Artikel und Karikaturen, die meiner Meinung nach unter dem Banner der Presse- und Meinungsfreiheit rassistische Ressentiments genährt und die Grenzen der persönlichen Würde vieler Muslime überschritten haben. Als letztes Jahr fast 2000 friedliche Demonstranten in Kairo durch das ägyptische Militär ermordet wurden, antwortete Charlie: „Der Koran ist scheiße, er hält keine Kugeln auf.“
Nein, auch in diesen Stunden identifiziere ich mich nicht mit den Inhalten von Charlie Hebdo. Aber ich identifiziere mich bereitwillig mit den Opfern. „Je ne suis pas Charlie Hebdo, Je suis les victimes“. „Ich bin nicht Charlie Hebdo, ich bin die Opfer“.
Selten fühle ich mich deutscher als jetzt
Der Himmel ist grau und die Häuser alt und schwarz. Aus dem einen oder anderen Schornstein steigt weißer Rauch. Nur wenige der Häuser stammen noch von vor dem Krieg. Manchmal erzählte meine Großmutter davon wie die Bomben fielen. Wie sie auf der Flucht zwischen brennenden Trümmern in der nahegelegene Kirche Zuflucht fand. Hier war sie in Sicherheit, aber weite Teile des Stadtzentrums wurden damals zerstört.
Ihre Erzählungen erinnerten mich daran wo ich herkomme. Sie sind das Bindeglied zwischen mir und einer deutschen Generation, die so stark im nationalen Bewusstsein verwurzelt ist wie keine andere. Selten fühle ich mich ihr so nah wie heute und so zuhause wie hier. Ein anderes Zuhause, das auch in mir begraben liegt. Eines, das neben der Vielzahl anderer Identitäten existiert. Selten fühle ich mich deutscher als jetzt. Kein patriotisches Gefühl aber ein Mit-gefühl.
Wieder zurück schalte ich das Radio ein. Im Süden Frankreichs wurde in drei Städten auf Moscheen geschossen. In Osnabrück wurden Studenten der Universität für Islamische Theologie angepöbelt und bedroht. Das Attentat hat das bereits kritische Klima in Europa weiter angeheizt. Es ist Brennholz auf dem Scheiterhaufen europäischer Muslime, ganz zu Gunsten islamophober Bewegungen wie Pegida. Ich schüttle den Kopf über so viel Hass und Unsicherheit. Eine schwarze Woche will kein Ende finden.
Es geht darum, Brücken zu schlagen und nicht, Seiten zu wählen
Aber an Tagen wie diesen geht es nicht darum, Seiten zu wählen, sondern Brücken zu schlagen. Es geht darum fertige Kategorien zu prüfen – denn die Realität ist keine Karikatur. Es geht auch darum, über politische Debatten hinaus zu denken, sich gegen Extremismus und für Verständigung auszusprechen, loszulassen und sich selbstlos in Verständnis zu üben. Nicht für Gewalttäter, sondern für Menschen. Nichts ist meiner Religion fremder als ersteres und nichts näher als letzteres.
Es schellt. Vom Fenster aus sehe ich bereits den Hausarzt. Er bringt das Morphin, das die Schmerzen meiner Großmutter in ihren letzten Stunden so gut es geht betäuben soll. Ich schalte das Radio aus und lasse den Arzt herein. Die letzten Stunden haben nachdenklich gemacht.
Am Tag darauf ist sie verstorben. Politische Argumente fallen hinter Einzelschicksale zurück. Was bleibt, ist Konsternation angesichts soviel perfider Gewalt – und Verständnislosigkeit. Das Attentat von Paris kündigt ein neues Kapitel für Europa an. Eine schwarze Woche hat ihr Ende gefunden. Vieles wird hiernach anders sein.
Mohamed Lamrabet, M.A. International Development, Sorbonne Paris. M.A. Nahoststudien, SOAS London. B.A. Europäische Medienkultur, Bauhaus-Universität Weimar.