Nemi El-Hassan ist als Kind libanesischer Eltern in Berlin aufgewachsen. Nun ist ihr Heimatland Fußball-Weltmeister, doch so ganz als Teil des vor Freude taumelnden Kollektivs kann sie sich nicht fühlen. Ein nachdenklicher Kommentar zur WM 2014.
Das hier ist keine Anklage. Es ist keine Suche nach einem Sündenbock, oder eine Wutschrift. Das hier ist einzig und allein der Versuch zu verstehen, warum ich so fühle, wie ich fühle.
Das Land, dessen Staatsbürgerschaft ich trage, ist außer sich. Hunderttausende empfingen ihre Mannschaft auf der Fanmeile. Ja, die deutsche Nationalelf hat das Finale der WM verdient gewonnen und ein ganzes Land in einen kollektiven Freudentaumel versetzt. Diese Mannschaft hat etwas geschaffen, das ich mir so sehr für die deutsche Zivilgesellschaft wünsche: ein Miteinander, bei dem jeder nach bestem Wissen und Gewissen handelt und mit größter Anstrengung für ein gemeinsames Ziel arbeitet. Einen Raum, in dem sich jeder frei entfalten und sein bestmögliches Potential ausschöpfen kann. Dass die einzelnen Spieler unterschiedlicher nicht sein könnten, scheint dieses Miteinander umso mehr zu beleben. Ich sehe Jérôme Boateng, einen Berliner Jungen aus dem Wedding, Thomas Müller, an dessen Mundart man seine oberbayrische Herkunft noch immer erkennt, Sami Khedira mit seinen arabischen Wurzeln, Shkodran Mustafi, der nach Abpfiff noch auf dem Spielfeld traditionell albanisch tanzt. All diese Unterschiede stecken in einem gemeinsamen Trikot. Würde es sich abseits des Spielfelds genauso verhalten, wäre ich die größte Patriotin dieses Landes. Doch die Wertschätzung von Unterschieden ist entgegen der oft beschworenen „Einheit der Vielen“ noch lange keine gesellschaftliche Norm.
Prenzlauer Berg: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus”
Auch meine Nachbarn im Prenzlauer Berg haben sich während des Spiels gefreut. Ich habe sie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ rufen hören. Die Wände sind ziemlich dünn.
Als ich als Kind libanesischer Kriegsflüchtlinge im Osten Brandenburgs eingeschult wurde, sagte mir mein Vater, ich solle mich anstrengen. Ich müsse jetzt mein Bestes geben, damit ich es später im Leben einfacher haben würde. Dieser Satz sollte zu unserem Mantra werden. Von jetzt an würde mein Vater mir, wenn ich wieder einmal darüber klagte, dass ich die Hausaufgaben nicht verstünde, diesen Satz sagen. Bei jeder Klassenarbeit würde mein Vater nach meiner Note und dem Klassenspiegel fragen. Nach jeder Zeugnisausgabe die Errungenschaften meiner harten Arbeit kritisch beäugen und alles unter einer Eins mit diesem Satz kommentieren. Für Außenstehende mag sich dieses Verhalten hart anhören. Aber das stimmt nicht. Denn mein Vater hat mir immer erklärt, warum diese Anstrengung so wichtig ist. Er hat vehement die Überzeugung vertreten, dass in Deutschland jedem, der sich nur genug anstrengt, alle Türen offen stünden. Studienplätze würden nicht abhängig von Geldbeutel, Familie, oder religiöser Zugehörigkeit vergeben, sondern nach Noten. Arbeitsplätze nach Qualifikation. Politiker würden demokratisch gewählt und die Medien könnten hier ohne Einschränkungen berichten.
Auch ich glaube, dass Deutschland ein faires Land ist. Fairer zumindest, als das Land, in dem meine Eltern aufwuchsen und das ihnen von klein auf jede Chance auf einen höheren Bildungsabschluss nahm. Indem sie keine soziale Absicherung genossen, indem es keine gesetzliche Krankenversicherung gab und dessen politischen und wirtschaftlichen Umstände dazu führten, dass mein Vater bereits nach der sechsten Klasse die Schule verließ und als Halbwaise für den Familienunterhalt sorgen musste. Für meinen libanesischen Vater ist Deutschland wahrhaftig das Land der tausend Möglichkeiten.
Land der Chancengleichheit, vom Wedding bis nach Oberbayern?
Dieser Wille zum Erfolg, den er mir in jungen Jahren einpflanzte, wuchs stetig und befähigte mich zu allem, was ich bisher erreicht habe. Ich konnte mein Einser-Abi machen und ein Medizinstudium beginnen. Ich habe ein Stipendium bekommen und muss mir damit um die Finanzierung meines Studiums keine großen Gedanken machen. Ich arbeite neben dem Studium in einer gemeinnützigen Stiftung und engagiere mich in mehreren Initiativen und Projekten. Ich habe meinen Vater stolz gemacht.
Ich muss an die EM 2008 denken, wie ich damals als Vierzehnjährige mitgefiebert habe, im Spiel gegen Portugal ganz allein vor unserem Fernseher saß und jubelte. Wie ich das Finale in einem Café mit Freunden verfolgte, die Wangen in schwarz-rot-gold bemalt, das Outfit abgestimmt und am Ende völlig geknickt nach Hause trottete. Ich habe mich gefühlt wie der zwölfte Mann. Ich habe wirklich geglaubt, dass meine Unterstützung des deutschen Teams, als eine von vielen, den Unterschied machen könnte. Als ich gestern das Finale in Rio schaute, habe ich nichts davon gespürt. Ich frage mich, wann mir meine Begeisterung für dieses deutsche Team abhanden gekommen ist. Und vor allem warum?
Die deutsche Elf hat am wenigsten damit zu tun. Was den Unterschied zwischen der vierzehnjährigen Fußballbegeisterten und meinem jetzigen Ich macht, sind die Erfahrungen der Jahre, die zwischen uns liegen. Letzten Winter wurde ich von meinen Patienten im Krankenhaus gefragt, ob ich denn schon einmal Schnee in meinem Leben gesehen hätte. Fragen wie diese sind noch die nettesten Anekdoten, die ich aus der Kategorie Alltagsrassismus erzählen kann. Manchmal denke ich, dass genau diese Ereignisse mich auf eine Weise stark gemacht haben. Nur muss ich aufpassen, dass Stärke nicht eines Tages in Verbitterung umschlägt.
Wenn ich heute kein „Hoch auf uns“ singen mag, dann hat das einen Grund: Ich weiß schon lange nicht mehr, wer das „uns“ sein soll.
Nehmen wir das Beispiel meiner Freundin Albulena. Sie ist in Deutschland als Kind kosovo-albanischer Eltern aufgewachsen. Sie engagiert sich unermüdlich für die islamische Bildungs- und Frauenarbeit. Doch ihr Engagement ist in einem Bewerbungsgespräch nichts wert. Sie fühlt sich, das erzählt sie mir, allzu oft auf ihr nicht-autochthones Aussehen reduziert – und wenn sie noch so gut Deutsch spricht. Sie gilt als positives Beispiel der Integration, aber eben nie als mehr. Sie hört die Reden von Politikern über eine deutsche Leitkultur und wird dann allein gelassen, wenn sie nach einer Definition dieser Kultur fragt. Und wenn sie beten möchte, und dafür nach einem ruhigen Ort fragt, dann wird sie angeschaut als wäre sie nicht von dieser Welt. Sie hat das Gefühl, sich verstecken zu müssen, weil das, was sie tut, hier nicht „normal“ ist und man ihren Anblick scheut.
Die Wahrheit ist: Ich würde gern genau so fühlen, wie die Tausenden auf der Fanmeile. Ich würde gern da draußen mit ihnen feiern, mich ganz offen freuen, über das, was die Nationalmannschaft geleistet hat. Aber so einfach das auch klingen mag, für mich und für viele andere, die auch ausländische Wurzeln haben, ist es das nicht. Natürlich gibt es sie, die Mehmets und Alis, die keine Dissonanz zwischen ihren Fangesängen und denen von Sarah und Tobias verspüren. Und das ist auch gut so. Vielleicht sind sie mir einen Schritt voraus. Während ich noch über Gleichberechtigung nachdenke, Theorien wälze und hitzige Diskussionen führe, setzen sie all meine Forderungen unkompliziert um. Denn sie nehmen gleichberechtigt an der kollektiven Feier des Erfolgs teil. Ich kann das noch nicht. Ich empfinde diesen Moment der Gemeinschaft als sehr brüchig, als surreal. Als einen Zustand, der vorweg genommen wird und der erst dann gerechtfertigt ist, wenn eine junge, nicht-weiße, libanesischstämmige Bürgerin dieses Landes nicht mehr mit dem Prädikat „Migrationshintergrund“ betitelt wird, sondern als genau so deutsch gilt, wie alle anderen auch.
Ich wünsche mir, dass es all denjenigen, die so fühlen wie ich, schon bald gelingt, ihre Zweifel abzulegen und teilzunehmen an allem, von dem sie gern Teil wären. Ich wünsche mir auch, dass unsere Mehrheitsgesellschaft bereit ist, jeden wahrhaftig und ohne Vorbehalte teilnehmen zu lassen, der den Mut hat, Bitterkeit und Anklage hinter sich zu lassen. Ich wünsche mir, dass es schon bald keinen Grund mehr für Bitterkeit in uns gibt, dass wir alle das selbe Trikot tragen und einander feiern, ganz gleich, ob Oberbayern oder Wedding.