30.03.2021
„Wir leben in gefährlichen Zeiten“
Hate speech im Internet wird für Frauen und Aktivist:innen im Irak zu einer zunehmenden Bedrohung. Quelle: pixabay
Hate speech im Internet wird für Frauen und Aktivist:innen im Irak zu einer zunehmenden Bedrohung. Quelle: pixabay

Im Irak nehmen Internet-Trolle gezielt Aktivistinnen ins Visier. Kampagnen gegen die Frauen auf Facebook haben bereits in mehreren Fällen zu Ermordungen geführt, berichtet die Frauenrechtsaktivistin Hanaa Edwar im Interview.

Dieses Interview ist zuerst in englischer Sprache auf dem „taz Panterblog" erschienen und wurde von dis:orient ins Deutsche übersetzt. Das Interview ist im Rahmen des Projekts „Her Turn -Supporting Iraqi Women in Journalism“ entstanden, das von der „taz Panter Stiftung" gefördert, und vom Auswärtigen Amt finanziell unterstützt wird.

Hanaa Edwar ist langjährige Menschenrechtsaktivistin und leitet im Irak die Al Amal Association. Für ihre Arbeit zur Förderung von Demokratie und ihren Einsatz für Frauenrechte wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet.

Im Interview spricht sie über die Entwicklung von hate speech [Hassrede, Anm. d. Red.] gegenüber Frauen im Irak in den lokalen Medien und im Internet und berichtet, wie sich dies auf Frauen und Aktivist:innen vor Ort auswirkt.

Inwieweit hat hate speech zur Gewalt gegen irakische Frauen beigetragen?

Die weit verbreitete Nutzung sozialer Medien im Irak hat eine Welle des Hasses gegen Frauen entfesselt. Online-Plattformen werden genutzt, um Frauen zu verleumden, ihre Positionen anzugreifen und sie aufgrund ihres Geschlechts zu diskriminieren. Eine Reihe von Aktivistinnen und Verfechterinnen der Meinungsfreiheit wurden nach Kampagnen auf Facebook bedroht, eingeschüchtert und sogar getötet.

Diese Art von hate speech ist mit den irakischen Parlamentswahlen im Jahr 2018 aufgekommen. Bei diesen Wahlen trat eine hohe Zahl von Frauen an – insgesamt 29 Prozent der Kandidat:innen war weiblich. Diese Frauen sahen sich mit einer Vielzahl von Kampagnen konfrontiert, die sich im Internet viral verbreiteten: Ihre Wahlplakate wurden entfernt oder bewusst entstellte Bilder von ihnen in den sozialen Medien verbreitet.

Welche Plattformen sind besonders schlimm, wenn es um hate speech gegen Frauen geht?

Facebook tritt in diesem Kontext in besonders negativer Weise hervor. So wurde beispielsweise ein skandalöses Sexvideo in Umlauf gebracht, um Intithar al-Shammari, eine Kandidatin aus Bagdad, zu diffamieren. Ihre Partei beschloss darauf hin, sie auszuschließen und ihre Arbeitsstelle wurde ihr ebenfalls gekündigt.

Facebook wurde auch genutzt, um Aktivistinnen zu attackieren, die an Protesten gegen die Regierung teilnahmen. Sie wurden beschimpft und beschuldigt, Agentinnen einer ausländischen Regierung zu sein.

Kam es zu tatsächlichen Verbrechen an Frauen aufgrund von Facebook?

Zwischen August und September 2018 kam es zu vier Morden an bekannten Frauen im Irak. Rafif al-Yasiri und Rasha al-Hassan, die beide Schönheitssalons in Bagdad betrieben, waren die ersten, die unter mysteriösen Umständen getötet wurden. Suad al-Ali, eine zivilgesellschaftliche Aktivistin in Basra, wurde tagsüber auf offener Straße ermordet. Nur wenige Tage später wurde die ehemalige Miss Irak Tara Fares, die in den sozialen Medien als Model sehr aktiv war, in Bagdad getötet.

Fares Tod löste einen großen Aufschrei aus, in den sozialen Medien kam es daraufhin zu weiteren Verleumdungen gegenüber diesen Frauen. Etliche Aktivistinnen, die ebenfalls eingeschüchtert wurden, waren später gezwungen, unterzutauchen oder das Land zu verlassen.

Haben solche Verbrechen nach dem Tod dieser vier Frauen aufgehört?

Nein, das haben sie nicht. In den Jahren 2019 und 2020 kam es zu einer heftigen und systematischen Eskalation durch elektronische „Troll-Armeen“, die sich darauf spezialisiert haben, Aktivist:innen und zivilgesellschaftliche Organisationen online zu diffamieren.

Eine Hetzkampagne wurde gestartet, die schließlich im Mord an Reham Yaqoub, einer prominenten Aktivistin, gipfelte. Yaqoub führte Demonstrationen gegen die Regierung in Basra an und wurde am 19. August 2020 ermordet. Eine weitere junge Aktivistin wurde von bewaffneten Männern entführt, weil sie sich aktiv an diesen Protesten beteiligt hatte. Sie wurde während ihrer einwöchigen Entführung gefoltert und dazu gezwungen, in einem Video über ihre sexuelle Beziehung mit einem Mitglied des irakischen Parlaments zu berichten. Dieses Video wurde Ende Oktober 2020 veröffentlicht. Daraufhin war sie gezwungen, den Irak zu verlassen.

Ich selbst bin ebenfalls fast ununterbrochenen Verleumdungen ausgesetzt. Den jüngsten Angriff stellte ein Video dar, welches 2019 weit verbreitet wurde und bis heute in den sozialen Medien zu finden ist. In diesem Video werde ich beschuldigt, Spionin des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad zu sein – dadurch wurde ich in meiner Ehre und meinem Ruf angegriffen.

Haben die strafrechtlichen Ermittlungen zu den Morden an diesen Frauen Ergebnisse gebracht?

Nein, überhaupt nicht. Die Ermittlungen haben nichts ergeben und wer die Taten begangen hat, ist weiterhin nicht bekannt. Die drastische Zunahme von hate speech steht in enger Verbindung mit der fragilen Rechtslage und den aufeinanderfolgenden bewaffneten Auseinandersetzungen in unserem Land seit 2003. Die Schwäche des Justizsystems trägt ebenfalls zu dieser Situation bei. Und wenn wir uns dann noch die grassierende Korruption in unseren staatlichen Institutionen vor Augen führen, wird klar, warum die Täter ungestraft und unerkannt bleiben.

In einigen Fällen baten die Familien der Opfer darum, die Verfahren einzustellen. In anderen Fällen, wie dem von Tara Fares, wurde das Verbrechen sogar mit der Kamera festgehalten und trotzdem wurde niemand verhaftet. In diesem Fall äußerte der damalige Innenminister in den Medien, dass er wisse, wer die Mörder seien und dass gegen diese ermittelt werde. Er versprach, sie verhaften zu lassen, aber es geschah nichts. Ich habe ihn später noch einmal danach fragen können und er sagte mir, dass er die Position nicht mehr inne habe und er nichts tun könne. Morde an Frauen bleiben in den allermeisten Fällen ungestraft.

Welche Rolle spielen lokale Frauenorganisationen bei der Bekämpfung von hate speech?

Wir haben als Organisation Anfang Oktober 2020 dem Sonderberichterstatter des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen einen umfangreichen Bericht über Übergriffe und Angriffe auf Menschenrechtsaktivist:innen vorgelegt. In dem Bericht dokumentieren wir Vergeltungsaktionen gegen weibliche Aktivist:innen und fordern von der internationalen Gemeinschaft, Druck auf die irakische Regierung auszuüben, das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsaktivist:innen zu verabschieden. Außerdem fordern wir die irakische Regierung auf, sich an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu halten sowie Verbrechen und Drohungen gegen Menschenrechtsaktivist:innen unparteiisch untersuchen zu lassen.

Wir sind äußerst besorgt über die Eskalation von hate speech gegen zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für ein neues Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt im Irak einsetzen.

Glauben Sie, dass dieses neue Gesetz in Kraft treten wird?

Wir tun unser Bestes und wir glauben, dass es trotz des bestehenden Widerstands verabschiedet werden wird. Jüngste Zahlen des Innenministeriums bestätigen, dass die häusliche Gewalt im Irak stark zunimmt. Das Gesetz muss in Kraft treten – als erster Schritt, um diesem Problem klar entgegenzutreten.

Und was ist mit dem Cybercrime-Gesetz, das im Parlament ebenso diskutiert wird? Denken Sie, dass es hate speech gegen Frauen im Internet stoppen könnte?

Ich denke nicht. Der Inhalt des Gesetzes hat bereits große Besorgnis bei zivilgesellschaftlichen Organisationen und Medienschaffenden ausgelöst. Es wird befürchtet, dass es die freie Meinungsäußerung auf Basis schwammiger Formulierungen unterbinden könnte. Das Gesetz müsste geändert werden, um effektiv zur Reduzierung von hate speech beizutragen.

Welche Lösungsansätze schlagen Sie vor, um hate speech gegen Frauen in den Medien und insbesondere in den sozialen Medien zu bekämpfen?

Die Verbreitung von hate speech durch Programme oder Plattformen muss unterbunden werden. Zugleich müssen Medieninhalte produziert werden, die positiv über Frauen berichten. Ich sehe außerdem die entsprechenden Gremien der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und anderer internationaler und regionaler Menschenrechtsorganisationen in der Verantwortung. Ihre Rolle sollte sich nicht allein darauf beschränken, Erklärungen abzugeben, die solche Verstöße verurteilen und anprangern.

Straflosigkeit hat dazu geführt und führt immer noch dazu, dass die Gefahr für das Leben von Aktivist:innen zunimmt. Und sie wird weiter zunehmen, solange die Täter auf freiem Fuß sind. Sie stellen eine Gefahr für alle Frauen dar. Deshalb sage ich, dass wir noch immer in gefährlichen Zeiten leben.

 

 

Die international mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnete Journalistin lebt und arbeitet in Diwaniyah, 200 Kilometer südöstlich von Bagdad. Manar produziert unter ihrem Namen ein eigenes Online-Magazin und ist von Anfang an bei „Her turn“ dabei.
Redigiert von Johanna Luther
Übersetzt von Maximilian Menges