01.12.2012
Wie Mohammed Mursi sich zum Mubarak Mursi machte
Protestplakat am Tahrir-Platz: "Das Gesetz ist nicht nur für Islamisten da!" Foto: Z. Jazmati
Protestplakat am Tahrir-Platz: "Das Gesetz ist nicht nur für Islamisten da!" Foto: Z. Jazmati

Viele Ägypter sind schon seit Monaten unzufrieden mit Präsident Mursi. Bei zu vielen seiner Versprechungen war absehbar, dass er sie nicht einhalten konnte. Dass es zu Großdemonstrationen kommen würde, war zu erwarten. Aus Kairo berichtet Zuher Jazmati

Ägypten hat es wieder geschafft, wegen riesiger Demonstrationen in aller Munde zu sein. Zehntausende sind am vergangenen Dienstag unter anderem dem Aufruf des Oppositionspolitikers Mohammad El-Baradei gefolgt und haben ihre Unzufriedenheit über die Politik des Staatspräsidenten Mohammed Mursi mit Demonstrationen, Protestmärschen und Sitzblockaden zum Ausdruck gebracht. Unterstützt von Richtern, die mit den Dekreten und der umfangreichen Machtübernahme der Judikative durch Mursi nicht einverstanden sind.

Noch am Tag Mursis ausgeweiteter Machtübernahme hatten Muslimbrüder einige Straßenblocks weiter, zu einer Solidaritätsdemonstration für Mursi aufgerufen. Diese wurde zwei Tage vor der großen Demonstration, am 27.11.2012, abgesagt. Offiziell heißt es in der Stellungnahme, „man wolle keinen Konflikt zwischen beiden Seiten provozieren“. Darüber können Liberale nur lachen. Einer der Demonstranten dazu: „Es ist doch allgemein bekannt: Nur wenige Anhänger der Muslimbruderschaft sind wirklich aktiv. Sie fahren mit dem Bus von Demonstration zu Demonstration und lassen es so aussehen, als hätten sie eine große Anhängerschaft. Ihre Demonstration wurde in Wahrheit deshalb abgesagt, weil sie Angst vor der Gegendemonstration hatten!“ Kein Wunder, war doch auch an der bloßen Zahl der Teilnehmer ablesbar, dass Ägypten gerade die größte Demonstration seit dem Sturz Mubaraks erlebt hat.

Die Demonstrationen sind in Ägypten Thema Nummer eins, besonders die vom vergangenen Dienstag. Das Militär reagiert schon seit Tagen mit Gewalt in Form von Tränengas und Gummigeschossen auf die Demonstrationen. Inzwischen gab es auch schon wieder die ersten Toten zu verzeichnen: ein Mensch erstickte am Tränengas und starb an seinen Verletzungen. Doch die seit nun mittlerweile einer Woche anhaltenden Proteste am Tahrir-Platz waren nur die Spitze des Eisbergs. Schon Tage vor dem 22. November, an dem Mursi seine Dekrete veröffentlichte, gingen die Menschen auf die Straße und lieferten sich Straßengefechte mit dem Militär. Sie erinnerten an mehr als 40 Demonstranten, die im November 2011 bei Protesten gegen den damals herrschenden Militärrat ums Leben kamen. Auch bei den Demonstrationen verwendete das Militär Tränengas und Gummigeschosse. An jenen Tagen konnte sich niemand mehr sicher am Tahrir-Platz aufhalten. Der Tahrir-Platz, rund um den Mugammaa - ein gewaltiges Gebäude, in welchem sich das Herz der ausgedehnten ägyptischen Bürokratie befindet - war für einige Tage ein Zentrum der Anarchie für wütende Jugendliche. Autos konnten nicht mehr passieren, die Mohammad-Mahmoud-Straße war von Demonstranten quasi besetzt, Steine und Molotowcocktails flogen immer wieder auf Seite des Militärs. Dennoch fanden die Proteste zum Jahrestag der 40 Toten nicht viel Aufmerksamkeit in der Berichterstattung ausländischer Medien.

Mursi hält seine Versprechungen nicht

Dabei ist es wichtig, diese Entwicklungen zu verstehen. Die seit Tagen anhaltenden Demonstrationen gegen die Entscheidungen des Präsidenten sind nicht Ergebnis einer plötzlichen Entwicklung. Schon Wochen davor waren viele Ägypter über die Ignoranz ihrer Regierung verärgert, als etwa das Busunglück von Manfalut geschah, bei dem knapp 60 Kinder ums Leben gekommen waren. Damals rammte ein Zug in einen Bus, vermutlich weil der Angestellte am Bahngleis geschlafen und die Schranke zum Gleis nicht geschlossen hatte. Viele Ägypter machten die laxe Umgangsform des Verkehrsministeriums mit dem Verkehrssystem dafür verantwortlich und forderten den sofortigen Rücktritt des Ministers, aber auch Reformen, damit sich so ein Unglück nicht wiederholt.

Durch den Gaza-Konflikt stieg die Wut auf die Regierung noch zusätzlich. Mursi gab den besorgten Diplomaten und Schlichter des Konflikts und suchte eine Lösung zwischen beiden Parteien. Er konnte sich am Ende sogar als Vermittler der Waffenruhe rühmen. Seine falsche Vermutung lag darin, dass er annahm dadurch auch in seiner eigenen Bevölkerung Pluspunkte gesammelt zu haben. Ein Ägypter dazu: „Gaza – schön und gut. Aber wir haben in unserem eigenen Land mehr als genug Probleme. Wenn er die Probleme in Gaza so schnell lösen kann, dann wünschte ich, ich würde aus Gaza kommen.“

Diese „Probleme“ lassen sich ganz einfach aufzählen, da Mursi sie selbst benannt hat und sich vorgenommen hatte, sie in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit zu lösen: Sicherheit, Infrastruktur (Stau), Brot (Bekämpfung der Armut), Sauberkeit (der Straßen) und Ölpreise.

Unter anderem die Plattform „Mursi Meter“ veröffentlichte einen Bericht, der zeigt, dass Mursi keines der der Probleme des Landes gelöst hat. Dabei hatte er, der nun seit dem 30. Juni im Amt ist, versprochen, genau für diese für Ägypter alltäglichen und somit zentralen Missstände, Lösungen zu finden. Stattdessen kam es zu Protesten am 100. Tag nach Mursis Amtsübernahme. Den Ägyptern entgeht nicht, dass Mursi vor allem mit außenpolitischen Themen versucht, sich beliebt zu machen.

Die gleiche Parole wie vor fast 2 Jahren

Die Demonstrationen gegen die kürzlich beschlossenen Dekrete Mursis, die ihn über viele Gesetze sowie Judikative, Exekutive und Legislative stellen, haben also eine klare Vorgeschichte: sie sind das akkumulierte Ergebnis der Mängel, die viele Ägypter in Mursis Politik sehen. Der Premierminister Ägyptens, Hesham Qandil, verteidigt die Beschlüsse vom 22. Novembers damit, dass diese dazu dienten, Ägypten zu beschützen und staatliche Institutionen zu bewahren. Große Teile der ägyptischen Bevölkerung unterstützen die Entscheidung des Präsidenten als folgerichtig, um den „Gedanken der Revolution zu bewahren“, so Mursis Wortlaut am 22. November. Anhänger der Muslimbrüder sagen, dass man ihn durch die Proteste zu schnell verurteile und nicht genug Zeit ließe, um sich als demokratischer und für Ägypten hilfreicher Präsidenten zu beweisen. Man sei sich sicher, dass die Wahlen in dreieinhalb Jahren ebenfalls demokratisch ablaufen werden und die Dekrete lediglich eine Übergangsphase seien. Schnell deutet man die Proteste ideologisch um, so sehen Anhänger der Muslimbrüder in den Protesten vor allem strategische Hintergründe seitens der liberalen Parteien. Diese mobilisierten die Menschen doch lediglich, um selber mehr Anhänger zu sammeln und einen größeren Erfolg bei den kommenden Wahlen zu erhalten, so der Vorwurf: „Sie gehen nicht hauptsächlich wegen der Dekrete zum Tahrir-Platz, sondern weil Mursi ein Muslimbruder ist und sie damit ein grundsätzliches Problem haben“.

Am Tahrir-Platz hört man nun wieder die gleiche Parole wie vor fast  zwei Jahren: „Al-Sha'ab yurid isqat al-nizam! („Das Volk will den Sturz des Regimes)“. Die Opposition vergleicht Mursi mit einem Pharao, der langsam aber sicher seine Diktatur in Ägypten aufbauen möchte. „Jedes Land ist bekannt für etwas. Japan ist bekannt für die Herstellung von Computern, Deutschland für seine Autos und Ägypten für die Herstellung von Pharaonen.“ Man stellt sich die Frage, ob sich die Revolution vor zwei Jahren überhaupt gelohnt habe, ob es den Preis, den die Menschen heute (und womöglich auch in Zukunft) bezahlen, wirklich wert war? Eines aber ist klar: Die Ablehnung des sogenannte „Mubarak Mursi“, wie man ihn auf den Straßen schon nennt, treibt die Leute wieder in Scharen auf die Straßen. Die Opposition ist unermüdlich. Sie stellt Forderungen, die die Demokratie in Ägypten nachhaltig sicherstellt und nicht durch eine Partei ruiniert wird. Mursi muss sich in Acht nehmen. Das ägyptische Volk überwacht ihn und hat Erfahrungen gesammelt, wie man Autokraten von ihrem Thron jagt.