25.11.2022
Warum es eine Revolution ist
Die Proteste in Iran erhalten weniger Aufmerksamkeit, Aktionen, die früher nicht möglich gewesen wären, häufen sich aber - die Revolution ist in vollem Gange. Grafik: Zaide Kutay
Die Proteste in Iran erhalten weniger Aufmerksamkeit, Aktionen, die früher nicht möglich gewesen wären, häufen sich aber - die Revolution ist in vollem Gange. Grafik: Zaide Kutay

Immer weniger Menschen gehen in den Großstädten Irans auf die Straße. Doch eine Revolution bemisst sich nicht nur an Zahlen und die Veränderungen gehen tiefer, als es auf den ersten Blick scheint, findet Omid Rezaee.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Um die Proteste in Iran, deren Reichweite und Größe, zu messen, könnte man auf die Menschenmengen in den Straßen schauen. Es ließen sich die Demonstrierenden oder die beteiligten Städte zählen, man könnte hin und her rechnen und über die Zeit vergleichen. Es entstünde wohl das Bild einer landesweiten Protestwelle, die nun immer stärker abebbt. Von den großen Demonstrationen mit tausenden von Teilnehmenden in den ersten Protestwochen in der Hauptstadt Teheran und in anderen Metropolen Irans ist nicht viel übriggeblieben. Auch die großen Kundgebungen innerhalb der Universitäten finden nicht mehr in gleichem Ausmaß statt. Mit etwa 18 000 Verhaftungen, wenigstens sechs Todesurteilen und mindestens 416 Ermordeten auf den Straßen arbeitet das Unterdrückungssystem mit Hochdruck daran, die Protestierenden niederzustrecken.

Und so urteilten nicht wenige ausländische Beobachter:innen schon nach kurzer Zeit, dass die Proteste wohl doch nicht so groß und entscheidend waren, wie man sich das im Ausland zunächst vorgestellt hatte. Dabei ist der Blick von außen nicht nur zu stark auf Teheran beschränkt, weil ausländische Korrespondent:innen für andere Landesteile keine Genehmigungen erhalten. Vor allen Dingen wird der Kontext, in dem die Proteste sich Bahn brechen, viel zu wenig beleuchtet, um das Ausmaß tatsächlich zu begreifen.

Nichts ist normal

Die Aktionen und Szenen, die in einem anderen Land normal erscheinen würden, sind auf iranischen Straßen in vielen Fällen ein revolutionärer Akt. Dadurch, dass sich gerade scheinbar kleine und individuelle Aktionen immer mehr häufen, sprechen viele inzwischen nicht mehr von einer „Bewegung“, von „Protesten“ oder von einem „Aufstand“, sondern ganz bewusst von einer „Revolution“. In Gesprächen mit beteiligten Menschen vor Ort erfahre ich als Journalist immer öfter Widerspruch, wenn ich die Entwicklungen nur als „Protest“ bezeichne.

In der nördlichen Kleinstadt Amol gehen die Protestierenden vor bewaffnete Einsatzkräfte auf die Knie und rufen: „Schieß doch“. In Izeh, einer anderen Kleinstadt im Süden, geht eine frisch verheiratete Frau im Brautkleid auf die Beerdigung ihres Ehemannes, der auf einer Demonstration erschossen wurde. In derselben Stadt singt die Mutter eines 10-Jährigen, der von den Revolutionsgarden erschossen wurde, auf der Beisetzung ihren Sohnes ein Lied, in dem der Oberste Führer Ayatollah Khamenei direkt und scharf kritisiert wird. Es häufen sich die Berichte von Taxifahrern, die sich mit weiblichen Fahrgästen ohne Kopftuch solidarisieren, während sie früher diese Frauen gebeten hätten, ihre Kopftücher richtig zu tragen, damit sie nicht bestraft werden. Lehrer:innen lassen die ideologischen Lektionen im Unterricht weg, Schuldirektor:innen, setzen, der klaren Anweisung des Schulministeriums zum Trotz, das obligatorische gemeinsame Gebet nicht mehr durch. Solche Szenen, die in einem normalen Zustand in Iran nicht vorkämen, hat es in den letzten Wochen viele gegeben.

Außerdem schließen sich immer wieder prominente Figuren des Landes, sei es aus der Kultur- oder Sportszene, den Protesten an, und zwar nicht nur mit einen schlichten Post in den sozialen Medien, der über ein Lippenbekenntnis der Solidarität nicht hinausgeht, sondern durch Aktionen, die das direkte aus ihrer Karriere und die Gefährdung ihrer persönlichen Freiheit bedeuteten können. So ließ die angesagte Schauspielerin Taraneh Alidoosti sich Anfang November ohne Kopftuch und mit einem kleinen Plakat in der Hand fotografieren, darauf: „Frau – Leben – Freiheit“, der zentrale Slogan dieser „Revolution“. Vor wenigen Tagen postete die Schauspielerin Hengameh Ghaziani ein Video von sich selbst auf offener Straße, während sie ihr Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammenband, eine Geste, die in den letzten zwei Monaten zum Zeichen der Revolution geworden ist. Ghaziani wurde inzwischen inhaftiert und befindet sich in Untersuchungshaft. Auch viele Sportler:innen verhalten sich mutiger als es sich irgendjemand hätte vorstellen können: Der Auftritt von Kletterin Elnaz Rekabi ohne Zwang-Kopftuch bei der Asienmeisterschaft wurde weltbekannt.

Einen Schritt nach vorn

Dabei sind die meisten Menschen nicht so naiv zu glauben, dass sie kurz davor wären, das Regime zu stürzen und dadurch eine „Revolution“ auf Ebene der politischen Macht stattfinden zu lassen. Es geht den „Revolutionär:innen“ und den Beobachter:innen, die sie so nennen , viel mehr darum, dass die Proteste schichten- aber auch generationenübergreifend getragen werden. Die Bedeutung und vor allem die Tiefe der Proteste in Iran sind daran zu messen, inwiefern die Menschen, mit unterschiedlichsten Hintergründen, bereit sind, ihr Leben, ihr Vermögen und ihre Karriere zu riskieren.

Es geht nicht darum, wie viele Menschen auf die Straße gehen oder ob die, die es tun, in der Mehrheit sind. Um die gesellschaftlichen Entwicklungen in Iran zu verstehen, muss man sich fragen, wo heute jede:r im Vergleich zur seiner:ihrer Position vor zwei Monaten steht. Und so scheitert die tatsächliche Niederschlagung tagtäglich aufs neue, obwohl verschiedene Funktionäre des Regimes, vom Kommandeur der Revolutionsgarde bis zum Obersten Führer des Landes, nicht müde werden zu behaupten, dass die Proteste vorbei wären und im Land wieder Ruhe herrsche.

Dieser Tage kursiert daher ein berühmter Spruch in den iranischen sozialen Medien und unter allen, die eine kritische Haltung gegenüber der Islamischen Republik haben: „Wo auch immer du stehst, komm’ einen Schritt nach vorn.“ Gemeint ist, dass es reicht, wenn man sich nur ein kleines Stück mutiger verhält als sonst. Und allein durch den Mut all dieser Menschen ist es zu einer Revolution geworden.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy