30.12.2012
Von Syrien nach Kiskunhalas – Die Flucht in ein besseres Leben (I)
Ungarische Polizisten untersuchen die Kleiderspenden für die Häftlinge in Kiskunhalas. Foto: Welte
Ungarische Polizisten untersuchen die Kleiderspenden für die Häftlinge in Kiskunhalas. Foto: Welte

Sari (29) aus Deir ez-Zor im östlichen Teil Syriens ist einer von tausenden desertierten Soldaten des vom Bürgerkrieg geplagten Landes. Nach einer monatelangen Flucht wird er mittlerweile im Haftzentrum im ungarischen Kiskunhalas festgehalten. Seine Geschichte steht exemplarisch für viele Syrerinnen und Syrer mit ähnlichem Schicksal. Mitte Dezember 2012 besuchten Simon Welte und Michael Hegenloh Sari in Kiskunhalas. Mit im Gepäck hatten sie Kleiderspenden, welche sie zuvor gesammelt hatten, um sie dort an Sari, seine Freunde und weitere Flüchtlinge zu übergeben. Die folgenden kleine Artikelserie gibt Saris Schilderungen von seiner Flucht aus Syrien nach Europa und sein gegenwärtiges Leben wieder.

Die Desertion aus der syrischen Armee

Rund 3 Monate nach Beginn der Aufstände in seinem Land im März 2011 ist Sari desertiert. Vor seiner Flucht war er Panzerführer eines sowjetischen Modells T72, ein Panzer, der bereits 1982 im libanesischen Bürgerkrieg zum Einsatz kam. Sein letzter Befehl, die Aufständischen in Homs mit Waffengewalt zu stoppen, kam für ihn unverhofft. Ein Kollege seiner Einheit kam bereits in einem früheren Gefecht mit Aufständischen ums Leben. So entschied er sich in der Nacht des Angriffs - gegen den Befehl seiner Vorgesetzten und ohne das Mitwissen seiner Kameraden, zu fliehen. Was das für ihn bedeutete wusste er natürlich: bei Festnahme droht ihm im schlimmsten Falle die Todesstrafe unter Folter.

Was nach seiner Flucht passierte ist ebenso schlimm. Sein Bruder wurde kurze Zeit später verhaftet und gefoltert, um dem Regime Saris Aufenthaltsort zu verraten, bis heute fehlt von dem Bruder jede Spur. Sari hat es mit gefälschten Papieren über die Grenze nach Jordanien geschafft und daraufhin weiter mit mit dem Flugzeug in die Türkei. Einen eigenen Pass hatte er nicht – der wurde ihm zu Beginn seines Armeedienstes abgenommen, eine Standard-Prozedur der syrischen Armee. Zur Identifikation besitzen  Soldaten deshalb nur eine „Soldier-ID“.

In Istanbul arbeitete er mit gefälschten Papieren als Englischlehrer, um etwas Geld zu verdienen. Währenddessen wurden die Aufstände und Kämpfe in Syrien täglich verheerender und es erreichten ihn fast wöchentlich Nachrichten aus seinem Heimatort Muhassan, 15 Kilometer südlich von Deir ez-Zor, dass Verwandte und Freunde ihr Leben durch Angriffe des Regimes verloren haben. Der 26.April 2012 hat jedoch sein Leben schlagartig verändert. Bei einem Raketenangriff der Armee wurde das Haus seiner Eltern getroffen und sein Vater tödlich verletzt. Nach diesem und weiteren Vorkommnissen aus seiner Verwandtschaft entschied sich Sari zur Fortsetzung seiner Flucht nach Europa.

Von Istanbul nach Griechenland

Die Reise beginnt in Istanbul. Sari und vier Freunde, alle aus Muhassan, haben sich im Sommer 2012 in der türkischen Metropole nach ihrer Flucht wiedergefunden. Jeden der Freunde begleitet mit der Flucht aus Syrien ein eigenes, tragisches Schicksal. Der Verlust von Verwandten und Freunden hat sich in tiefer Trauer und Hass auf das Regime festgesetzt.

Sari lebt seit seiner Flucht aus Syrien bereits fast ein Jahr in Istanbul und kennt die Kontaktleute, an die man sich wenden kann, wenn man die Flucht in Richtung Westeuropa antreten möchte. Das große Problem bei dieser illegalen Flucht nach Europa ist, dass sie einige Tausend Euro kostet, viel Geld für Sari und seine Freunde. So zapfen sie bereits frühzeitig unterschiedlichste Geldquellen an – Verwandte in den Golfstaaten, Freunde in Europa und eigene Ersparnisse. Für die komplette Reise nach Europa reicht das Geld anfangs nicht aus. Allerdings ist es für die Flüchtlinge ohnehin ein zu hohes Risiko, viel Bargeld dabei zu haben. Daher entscheiden sich die Freunde, das Geld in Etappen aufzutreiben. In jedem Land sammeln sie wieder zuerst Geld, bevor sie die nächste Grenze überqueren.

Los geht es also in einer Gruppe von sieben Flüchtlingen mit dem Bus von Istanbul nach Edirne, die letzte große Stadt im Grenzgebiet zu Bulgarien und Griechenland. Für jeden Flüchtling, den sie von Istanbul aus illegal über die Grenze nach Griechenland bringen, verlangen die Schleuserbanden 1250 Euro. Ab Edirne geht es zu Fuß in Richtung Evros-Fluss, dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei. Bevor die nächtliche Flussüberquerung ansteht, verteilen die Schleuser schnell noch gefälschte griechische Papiere aus, eine sogenannte „Asylum-Seeker-ID“. Einen der Freunde haben die Fluchthelfer dabei allerdings vergessen, er geht ohne gefälschte Papiere über die Grenze.

Die nächtliche Flussüberquerung in Begleitung eines Schleusers verläuft ohne Probleme, auf der griechischen Seite wird die Gruppe getrennt, für Sari und zwei Freunde geht es im Zug weiter, die anderen beiden fahren mit dem Bus. Die Polizei, welche die Ausweise im Zug kontrollierte, nimmt den Freund ohne gültige Papiere fest und schickt ihn zurück in die Türkei. Bestimmungsort für die Flüchtenden ist Alexandroupoli, eine griechische Hafenstadt nahe der türkischen Grenze und zugleich Hochburg für den internationalen Flüchtlingsverkehr. Frei in Griechenland können sich Sari und seine Freunde dennoch nicht bewegen, da die Polizei in Alexandroupoli ständig kontrolliert und selbst der Fußweg zum nächstgelegenen Kiosk eine große Gefahr darstellt. Leider gibt es in Alexadroupolis noch 2 weitere Festnahmen in seiner Gruppe als sie in eine Polizeikontrolle geraten und die gefälschten Papiere enttarnt werden.

 

Lesen Sie im zweiten Teil, wie Sari und seine Freunde durch mazedonische Grenzwälder und mit Hilfe serbischer Gänsetransporter nach Ungarn kommen, wo ihnen ein Junge auf dem Fahrrad zum Verhängnis wird.