„Im Libanon ist Verdrängung zum Dauerzustand geworden“, sagt die Journalistin und Nahostwissenschaftlerin Monika Borgmann. Mit dem 2004 gegründeten Archiv „UMAM Documentation & Research“ versucht sie, die Lücken im kollektiven Gedächtnis des Landes zu schließen. Das Interview führte Juliane Pfordte
Alsharq: Frau Borgmann, im Libanon gab es zwischen 1975 und 1990 einen Bürgerkrieg, wie geht das Land mit der Erinnerung daran um?
Monika Borgmann: Der libanesische Staat hat seine Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet. Noch heute sprechen viele vom „Krieg der anderen“, weil unter anderem Syrien und Israel intervenierten, aber es war nicht nur ein Krieg der anderen. Es gibt keine nationale Erinnerungskultur, nur individuelle, konfessionell geprägte Erinnerungen. Genau dort setzt die Arbeit von unserer Organisation UMAM an: Wir wollen die fragmentierten Erinnerungen allen Libanesen zugänglich machen – auch die blinden Flecke, über die nicht gesprochen wird.
Zum Beispiel?
Bis heute sind die sogenannten Lagerkriege, die während des Bürgerkriegs in den palästinensischen Flüchtlingslagern stattfanden, ein Tabuthema. Ein anderer blinder Fleck sind die Kämpfe innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften, dabei waren das die brutalsten, weil sie auf engstem Raum stattfanden. Über die Kriege zwischen der schiitischen Hisbollah und der Amal-Miliz von 1987 spricht kaum jemand, weil beide Parteien heute gemeinsame politische Interessen haben. Mit anderen Worten: Die aktuellen politischen Konstellationen entscheiden, worüber gesprochen und was verschwiegen wird.
Was macht Ihre Organisation, um diese Lücken im kollektiven Gedächtnis zu schließen?
Wir möchten die Bevölkerung mit Ausstellungen, Workshops und Filmvorführungen für die Themen zivile Gewalt und Erinnerung sensibilisieren. Wir haben zum Beispiel das erste Mal (Anm. d. R.: 2005) im Libanon den Film „Shatila. Auf dem Weg nach Palästina“ gezeigt, der die Lagerkriege behandelt. Andererseits bauen wir ein öffentliches Archiv auf, das auf den Bürgerkrieg spezialisiert ist, aber auch einen Bezug zur Gegenwart schafft. Unsere Mitarbeiter recherchieren täglich, was zum Bürgerkrieg veröffentlicht wird und wurde: von Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Publikationen bis hin zu Fotos von den nach wie vor 17 000 Vermissten. In der Datenbank Memory At Work machen wir diese Dokumente öffentlich zugänglich. Etwas Vergleichbares – ein funktionierendes nationales Archiv mit Dokumenten zum Bürgerkrieg – gibt es im Libanon nicht.
Warum ist kollektives Erinnern so wichtig?
Eine kollektive Erinnerungskultur hätte dazu beitragen können, dass sich der Libanon zu einem Staat mit einer nationalen Identität entwickelt. Stattdessen ist die religiöse Zugehörigkeit heute wichtiger als die nationale. Jedes Land muss sich irgendwann mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, um sich demokratisch zu entwickeln. Der Libanon zeigt, was passiert, wenn das nicht der Fall ist: Bis heute gibt es keinen Frieden. Viele Libanesen fragen sich noch immer, ob der Krieg jemals aufgehört hat oder ob sie nicht gerade eine weitere Phase durchleben.
Manchmal kann Vergessen überlebenswichtig sein. In anderen Bürgerkriegsländern wie Spanien hat es auch Amnestien gegeben.
Spanien ist ein Erfolgsbeispiel; das Land hat sich nach der Amnestie 1977 zu einer Demokratie entwickelt. Zwar wurde die Franco-Diktatur auch lange Zeit verdrängt, aber das Land setzt sich jetzt mit seiner Vergangenheit auseinander. Im Fall des Libanon ist aus der Verdrängung ein Dauerzustand geworden. Weder Amnestie noch Vergessen haben geholfen: 25 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs ist der Staat weder demokratisch noch funktionell. Es gibt keinen Präsidenten, keine legitime Regierung und der Staat schafft es nicht einmal, die Hisbollah davon abzuhalten, ohne Parlamentsbeschluss in Syrien zu kämpfen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieses Interview erschien zuerst auf www.ifa.de und in der Ausgabe 1/2016 der Zeitschrift KULTURAUSTAUSCH.