Ihr Arbeitsplatz sind die überfüllten Wagen der Teheraner U-Bahn, wo sie den Mitfahrenden mit lauter Stimme ihre Waren anbieten - Haushaltsgegenstände, Kleidung, Schmuck und Accessoires. Soheyla Seddighi begab sich zur Recherche in diesen mobilen unterirdischen Basar, um mit den Verkäuferinnen über deren Arbeit und Lebensumstände zu sprechen.
25. Juli 2016: U-Bahn-Linie 2, Teheran
Es ist früh morgens. Mühsam schleppt sie ihren großen, schweren Rucksack durch die Menschenmenge. Mantel, Kopftuch und Schuhe trägt sie in Weiß. Eine Maske verdeckt ihr Gesicht. Sie nimmt einige Packungen Kaugummi und Bonbons aus der Tasche und beginnt sie anzupreisen: dass man diese aus der Türkei importierten Bonbons nirgendwo sonst für 1.000 Tuman pro Stück (25 Cent) kaufen könne. Die Passant_innen laufen an ihr vorbei, niemand beachtet sie. Einige reagieren abweisend. Die U-Bahn fährt ein, sie steckt die Bonbons und Kaugummis wieder ein und setzt sich auf die Bank. Sie stützt ihren Kopf nach hinten gegen die Wand und starrt die Decke der Station an.
Entschuldige, verdient man gut mit dieser Arbeit?
Willst du damit anfangen?
Nein, aber ich würde mich mit dem Job gern befassen.
Man verdient nicht schlecht, aber nimm dir kein Beispiel an mir. Wir investieren unsere Gesundheit. Fass meinen Rucksack an und fühle sein Gewicht. Ich leide unter massiven Rücken- und Schulterproblemen.
Wie lange machst du denn das schon?
Sie nimmt ihre Maske ab. Ihre operierte Nase kommt zum Vorschein.
Nach zwei Jahren Pause habe ich heute wieder angefangen. Ein paar Jahre hatte ich in der U-Bahn verkauft und konnte so etwas Geld zur Seite legen. Dann gründete ich eine Lieferfirma für Lebensmittel. Da habe ich zwei Jahre gearbeitet, aber du weißt, wie schlimm im Moment der Markt ist. Jetzt bin ich wieder hier.
Das heißt, mit dem Geld, das du mit dem Verkaufen in der U-Bahn verdient und gespart hattest, konntest du deine eigene Firma gründen?
Nein, ich hatte bereits eine kleine Ersparnis.
Du bist schick gekleidet. Wer Dich sieht, kann sich kaum vorstellen, dass du als Verkäuferin in der U-Bahn arbeitest. Warum machst Du diese Arbeit hier?
Ich achte auf mein Aussehen, damit die Leute nicht sagen, sie stinkt, ist ungepflegt oder so was. Ich mache das, weil ich Geld verdienen muss.
Wie gut kommen die Verkäuferinnen hier miteinander zurecht, die Alteingesessenen und die Anfängerinnen?
Einige alte Verkäuferinnen verhalten sich so, als ob sie die U-Bahn gekauft hätten. Sie verdienen so gut, dass sie sich Wohnung und Auto kaufen konnten. Einige haben ausgesorgt und müssen nicht mehr arbeiten. Die noch aktiven Alteingesessenen mögen die Neuen nicht.
Wie ist es mit dir? Hast du auch eine Wohnung und ein Auto?
Ich habe ein Auto. Das parke ich morgens in der Nähe der U-Bahn-Station und laufe dann zur Arbeit.
Du bist eine sehr junge Frau. Machst du dir keine Sorgen um deine Zukunft?
Ich verdiene hier zwar Geld, aber ich habe keine angesehene, ehrenvolle Arbeit. Deshalb verdecke ich soweit wie möglich mein Gesicht. Ich bin eine junge Arbeitslose. Was soll ich deiner Meinung nach machen? Denkst du, ich möchte nicht lieber zuhause sitzen wie eine respektierte Frau? Aber es ist nun mal so. Mit dem Job kann man zwar gut verdienen, aber wenn ich es nicht müsste, würde ich es nicht machen. Die Mühe lohnt sich nicht, der Müdigkeit und der Ehre wegen.
Wirst du schlecht behandelt?
Ich steige nicht in überfüllte Züge. Die Menschen sind entweder sehr nett zu einem oder sehr grob. Es gibt kein Mittelmaß. Wenn du einen guten Job finden kannst, ist es auf jeden Fall besser als hier. So, ich muss langsam los, seit heute morgen habe ich nichts verkauft.
26. Juli 2016: U-Bahn-Linie 1, Teheran
Sie sitzt in der Station auf der Bank, holt ihr Handy heraus und wählt schnell eine Nummer: „Hallo Maryam! Sieht es da gut aus? Ich konnte bislang nur 16.000 Tuman (4 Euro) verdienen. Meinst du, ich soll rüberkommen?“
Entschuldigung, was kostet dieses Armband?
12.000 Tuman (3 Euro)!
Hast du kurz Zeit?
Nur bis zum nächsten Zug. Bist du etwa Reporterin?
Ja. Wie alt bist du?
26.
Arbeitest du schon lange als Verkäuferin in der U-Bahn?
Seit einem Jahr. Von Anfang an schon habe ich Modeschmuck verkauft.
Wie bist du in dem Job gelandet?
Sei gefälligst nicht überheblich. Ich komme zwar nicht aus der Hauptstadt, war aber einst wie du. Ich habe Informationstechnologie studiert und gehöre nicht zur Unterschicht. Dass ich einmal hier landen würde, habe ich nicht mal geträumt.
Wie kam es dazu?
Als ich studierte, habe ich mich in einen Kommilitonen verliebt. Er kam aus Teheran. Nicht aus einer wohlhabenden Familie, sondern aus ärmeren Verhältnissen. Wir wollten heiraten, aber seine Familie hat sich quer gestellt. Wir haben trotzdem geheiratet und ich bin nach Teheran gezogen. Wir waren beide arbeitslos. Was sollte meine Schwiegermutter mit zwei Arbeitslosen anfangen? Sie behandelte mich sehr schlecht. Und ich konnte keinen Job finden, mit dem mein Ehemann einverstanden war. Eines Tages habe ich in der U-Bahn Verkäuferinnen gehört, die sich unterhielten. Sie waren zufrieden mit ihrem Einkommen. Ich habe eine von ihnen über diese Arbeit ausgefragt und bin dann auch in den Job eingestiegen.
Wissen dein Ehemann und deine Schwiegermutter, wo du arbeitest?
Meine Schwiegermutter nicht, aber meinem Mann habe ich die Wahrheit erzählt.
Was macht dein Ehemann?
Er arbeitet seit zwei Monaten als Servicekraft in einer Bank.
Trotzdem willst du diesen Job weiter machen?
Nur so können wir die Kaution für eine Mietwohnung zusammenkratzen. Dann müssen wir die Wohnung einrichten. Bis dahin muss ich arbeiten.
Wie viel verdienst du pro Tag?
50.000 bis 60.000 Tuman (etwa 13 bis 15 Euro).
Wissen deine Eltern über deine Situation Bescheid?
Um Gottes Willen, nein! Dabei bin ich ehrlich gesagt momentan gar nicht so unzufrieden. Das Einzige, wovor ich Angst habe, ist, dass mich eines Tages meine Schwiegermutter oder ein Bekannter hier sehen. Deswegen trage ich die Maske.
Wie würde deine Schwiegermutter reagieren, wenn sie dich hier sehen würde?
Ach, lass das. Ich will gar nicht daran denken.
Von anderen Verkäuferinnen höre ich, dass man in diesem Job täglich durchschnittlich 300.000 Tuman (75 Euro) verdienen kann. Ein Einkommen, das die Lebensverhältnisse der Verkäuferinnen verbessert, sie dafür aber Gefahren wie Stress oder Depression aussetzt. Dies beweist eine wissenschaftliche Studie, die 2014 an der soziologischen Fakultät der Teheraner Universität durchgeführt wurde. Demnach sind Menschen vor allem wegen mangelnder Ausbildung oder fehlenden Abschlusses im Straßenverkauf tätig. Familiäre Probleme wie Scheidung oder Drogensucht sind andere Ursachen.
28. Juli 2016: U-Bahn-Linie 4, Teheran
Für die PendlerInnen ist sie ein bekanntes Gesicht. Sie ist eine der alteingesessenen U-Bahn-Händlerinnen und ändert regelmäßig ihr Sortiment. Heute ist kein guter Tag für sie. Ihre Ware findet keine Interessent_innen. Sie setzt sich in der Station auf eine Bank, legt ihre Handtasche auf den Boden und nimmt ihre Gebetskette. Sie schließt die Augen und fängt an, Gebete zu flüstern.
Bist du schon lange dabei?
Seit zehn Jahren bereits.
Du verdienst deinen Lebensunterhalt seit zehn Jahren durch Verkaufen in der U-Bahn?
Ja, so ist das Leben, mein Engelchen. Mein Leben war gar nicht so hart. Ich war 15 Jahre lang beim Amt für Telekommunikation angestellt. Alles lief sehr gut. Plötzlich wurden unsere Verträge nicht mehr verlängert. Ich habe 27 Tage ohne Lohn gearbeitet, dann wurde ich gekündigt. Ich hatte ein Kind und jede Menge Verantwortung.
Kannst du mit diesem Job deinen Verantwortungen gerecht werden?
Durch die Arbeit in der U-Bahn bin ich krank geworden, meine Leber, mein Herz, mein Magen. Aber ich habe keine andere Wahl. Als ich anfing, war ich noch so jung und fit, dass niemand glauben konnte, dass ich ein Kind habe. Dieser Job ist hart.
Belastet dich das Verhalten der Fahrgäste?
Sie gucken uns schief an, machen sich über unsere Kleidung lustig, die Art, wie wir reden. Beim Verkaufen schaue ich keinem direkt in die Augen. Weil ich mich schäme. Sogar nach zehn Jahren schäme ich mich noch.
Dein Stolz leidet bei diesem Job?
Sie bricht in Tränen aus. Von morgens bis abends arbeite ich hier. Und auf dem Rückweg nach Hause kann ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich frage dann Gott: Ist das wirklich mein Schicksal? Ist das mein Leben?
Andere Verkäuferinnen versammeln sich um uns. Voller Mitgefühl schütteln sie ihre Köpfe. Sie lässt ihre Gebetskette in ihre Handtasche gleiten und packt ihren Beutel, um den nächsten Zug nicht zu verpassen. Schnell verschwindet sie in der Menschenmenge und geht an die Arbeit zurück, für die sie sich schämt.
31. Juli 2016: U-Bahn-Linie 1, Teheran
Während sie im Waggon auf und ab geht und die Qualität der von ihr angebotenen Kopftücher preist, wird das Logo des Markenherstellers Nike auf ihren Socken sichtbar. Die blaue Farbe des Logos passt perfekt zum Blau ihres Kopftuchs. Ihre Haare sind blond gefärbt, ihr Makeup ist aufwändig. Mädchenhaft antwortet sie auf die Fragen der Interessent_innen. Sie macht ihre Sache gut. Zwischen zwei Stationen verkauft sie drei Kopftücher für 15.000 Tuman (knapp 4 Euro) pro Stück. Als der Zug anhält, nimmt sie ihren Koffer und flucht leise.
Bist du eine Anfängerin? Du siehst nicht wie eine Verkäuferin aus.
Ich bin keine Anfängerin, aber komme nicht regelmäßig in die U-Bahn zum Arbeiten. Nur, wenn ich Geld brauche.
Bist du verheiratet?
Nein, ich lebe bei meiner Familie.
Lebt dein Vater noch?
Ja, er ist pensionierter Beamter.
Darf ich fragen, wozu du das Geld brauchst?
Ich will meine Nase operieren lassen.
Nur dazu?
Was soll das heißen? Denkst du, dass so eine Schönheitsoperation wenig Geld kostet? Ich will zwei bis drei Monate arbeiten, um die Operation bezahlen zu können. Gestatten Sie es mir, zu arbeiten, Frau Reporterin?
Sie nimmt den nächsten Zug. Immer am selben Ort zu arbeiten, schadet dem Geschäft.
Ich spreche mit anderen Verkäuferinnen, die aus verschiedenen Gründen im Untergrund der Hauptstadt gelandet sind. Eine hat einen drogenabhängigen Ehemann, eine andere wurde von einer Schneiderei entlassen, die Dritte sorgt für ihre Kinder, während ihr Ehemann im Gefängnis sitzt.
Laut Fahime Firouzfar, der Chefin des Spezialkomitees der Teheraner Stadtverwaltung für die Unterstützung alleinerziehender Mütter und allein verdienender Frauen, soll U-Bahnverkäuferinnen, die auf diese Arbeit angewiesen sind und bestimmte Kriterien erfüllen, künftig Hilfe zuteil werden. Und vor einiger Zeit hat die Teheraner U-Bahn beschlossen, die Tätigkeit der Verkäufer_innen zu regulieren. Um sie zu unterstützen, sollen ihnen 102 Verkaufsstände in den Metrostationen zur Verfügung gestellt werden.
Diese vier Interviews sind Auszüge aus einer Reportage der Iranian Students News Agency ISNA über Straßenverkäuferinnen in der Teheraner U-Bahn. Aus dem Persischen übertragen und überarbeitet von Iman Aslan, veröffentlicht auf Iran Journal.