Fünf Tage nach Beginn des Ukraine-Krieges fuhr der syrische Aktivist und Journalist Milad Amin mit einem Bus voller Spenden an die polnische Grenze. In diesem Fotoessay versucht er die Gedanken festzuhalten, die ihm dort kamen.
Es war kurz nach Mitternacht, stechend kalt, Anfang März. Wir verließen eine Bar namens „Pad“, um auf dem Marktplatz in der alten polnischen Stadt Lublin, nicht weit entfernt von der ukrainischen Grenze, eine Zigarette zu rauchen, als ein alter Mann aus seinem Auto ausstieg und gestikulierend nach einem Feuerzeug fragte. Er zeigte stolz auf sich und sagte: „Ukraine“. Mein Freund erzählte ihm auf Ukrainisch, dass wir aus Deutschland kommen und dass ich Syrer bin. Der alte Mann schaute mich mit seinen hellgrauen Augen an, als würden wir uns seit tausend Jahren kennen. Er lächelte und die Zeit stand still. Dann sagte er etwas auf Ukrainisch zu mir, was ich nicht spreche, aber ich hatte das Gefühl, ihn zu verstehen.
Er weiß, dass wir derselben Bestie entkommen sind.
Ich wollte ihn fragen, ob er wusste, wie sie die Herzen unserer Mütter verbrannte, unsere geliebten Mandelbäume entwurzelte, wie sie die Betten unserer neugeborenen Kinder in Blut nässte und uns den Geruch des Schoßes unserer Großmütter entriss.
Dann hielt er mir seine Faust entgegen. Vielleicht sagte er etwas wie: „Diese Bestie wird niemals dem Zorn unserer Erinnerung entrinnen!“
Es war ein Moment, den wahrscheinlich alle Kriegsjournalist:innen schon einmal erlebt haben, in dem der Impuls, den Moment zu fotografieren oder das Gesagte zu übersetzen von der zwischenmenschlichen Verbindung dieses Moments übermannt wird. Der schwindende Augenblick existierte nur in seinem Kopf und meinem, in dieser kalten Nacht in Lublin.
Als ich die traurigen Augen der alten Menschen sah, die sich draußen versammelt haben, weit weg von zuhause, kam eine Wut in mir hoch, die lange und tief vergraben war. Ich dachte an meine Familie. Wut darüber, dass alte Menschen gezwungen wurden, aus ihrem Land zu fliehen, wie uralte Bäume, deren verwundene Wurzeln aus der Erde gezogen und in der kalten, trockenen Luft liegen gelassen wurden, verlassen und ins Exil getrieben.
Jemand fragte mich, was ich hier machen würde. Ich antworte mit den üblichen Plattitüden von Solidarität und Pflicht . Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, was ich hier mache. Ist es für eine winzige Rache an ‚den Russen‘, die alles, was ich liebte direkt vor meinen Augen niederbrannten? Oder bin ich hier, um zu zeigen, dass Syrer:innen genauso solidarisch sind, wie all die anderen Freiwilligen, um den Rest an Würde, der uns bleibt, zu bewahren? Oder einfach aus Neugierde? Oder bin ich nostalgisch nach dem Gefühl von Freiheit, dass ich nur dann fühle, wenn ich die Welt um mich herum direkt beeinflussen kann?
Plötzlich sah ich eine Erinnerung vor meinen Augen, eine sehr alte Erinnerung – aus Zeiten vor dem Krieg. Die Szene wurde zu einer Flut an Bildern, die ich schon einmal gesehen hatte. Bilder, die nur noch Schatten eines längst vergangenen Traumes waren. Sie sahen aus wie Teile eines zerbrochenen Spiegels unter meiner Haut.
Ich spürte einen bitteren Stich des Neides in mir, als ich die ukrainischen Flüchtenden sah. Ich ertappte mich dabei, zu denken: „Euer Krieg könnte bald vorbei sein und ihr werdet zurückkehren in die Wärme. Wir Syrer:innen aber werden weiterhin in der Zeit feststecken.“ Aber dann entbrannte direkt ein Gefühl von Sympathie in mir und ich ermahnte mich, so nicht zu denken. Ich weiß, dass das, was wir durch Mitleid angesicht der Tragödien anderer spüren, niemals dem wirklichen Schmerz nahekommt.
Es scheint mir, dass die Ukrainer:innen, denen ich begegnet bin, das Ausmaß des Desasters, das sie überkommen hat, noch nicht realisiert haben. Es wirkt, als leugneten sie es vor sich selbst. Ihr Schrecken sieht noch frisch aus. Sie laufen noch mit erhobenen Köpfen und intakter Würde durch die Straßen. Sie sehen noch nicht das Meer an Dunkelheit, das auf sie wartet. „Zumindest betiteln die Medien sie nicht als ‚Krise‘“, flüsterte ich in meinem Kopf.