Frauen rückten mit dem „Arabischen Frühling“ für kurze Zeit in den Fokus der internationalen Medien – allen voran die Tunesierinnen. Doch schnell vergaß man sie auch wieder. Was ist aus den Aktivistinnen der tunesischen Jasmin-Revolution geworden? Ein Bericht von Sarah Windisch.
Über Tunesiens Frauen wurde in den deutschen Medien viel geschrieben – damals, vor drei Jahren, als mit der tunesischen „Jasmin-Revolution“ eine Welle der Proteste in der arabischen Welt begann. Zu jener Zeit hieß es, erstmals demonstrierten in Tunesien Frauen in der Öffentlichkeit. Sie seien eine neue Kraft in der arabischen Welt und träten zum ersten Mal offen für Frauenrechte und Gleichberechtigung ein. Dann wurde es jedoch sehr schnell still um die „neuen Aktivistinnen“. Andere Orte und Themen traten in den Vordergrund: die Unruhen in Ägypten, der Bürgerkrieg in Syrien. Was geschah mit den tunesischen Aktivistinnen? Sind sie heute, drei Jahre später, immer noch aktiv? Und hat sich seit der Revolution etwas für sie verändert?
Die ausgelassene Freude der Revolution ist verflogen, nun ist man pragmatischer
Halima [alle Namen von der Redaktion geändert] ist eine junge Frau aus einer ländlichen Gegend. Sie kommt aus einem kleinen Dorf in der bergigen Region um Ain Draham. Nach ihrem Informatikstudium in der Hauptstadt Tunis ist sie in ihr Dorf im Norden Tunesiens zurückgekehrt und wohnt jetzt wieder bei ihren Eltern. „Während der Revolution haben wir kaum mehr geschlafen“, erzählt sie. „Wir waren immerzu auf Facebook und eines Tages gab es dort das Video eines Anwalts, der rief: ,Ben Ali ist weg! Wir sind frei!‘ Es war ein unbeschreibliches Gefühl! Alle Tunesier fühlten sich wie im Himmel.“ Sie zögert. Dann meint sie seufzend: „Jetzt ist das Gefühl nicht dasselbe. Die Leute tun, was sie wollen, werfen überall Müll hin, klauen...“. Tatsächlich beobachten wir auf unserem Spaziergang durch den nahegelegenen Wald, wie eine Frau ihren Hausmüll aus einer Schubkarre ausleert. Dosen, Windeln, Plastikmüll kullern den Hang hinunter in den Wald.
Die meisten Tunesier sind unzufrieden mit der momentanen Situation im Land und mit der Regierung, die von der islamischen Ennahda-Partei geführt wird. Sie bemängeln, dass die Regierung nun schon ein Jahr länger im Amt sei, als ihr zustehe. Eigentlich ist sie nur als Übergangsregierung gewählt worden, die eine neue Verfassung erarbeiten und Neuwahlen organisieren sollte. Die Politiker der Ennahda-Partei polarisierten außerdem die Menschen im Land, da sie versuchten, ihre Vorstellungen von „guten“ und „schlechten“ Muslimen zu verbreiten. Ghada war früher selbst in der Ennahda-Partei aktiv. Zunehmend sei ihr jedoch klar geworden, dass es dieser Partei vor allem um Macht gehe und dass sie anstrebe, Tunesien zu einem islamischen Staat zu machen, sagt sie. Das widerspreche ihren Ideen von Demokratie und Religionsfreiheit und deshalb sei sie ausgetreten, sagt Ghada.
„Aber viele Leute haben auch zu hohe Erwartungen“, meint Halima. „Sie denken, dass man die Probleme unseres Landes innerhalb von ein, zwei Jahren lösen kann. Doch das ist unmöglich!“ Sie selbst ist 2011, kurz nach der Revolution, mit ihrem Studium fertig geworden. Da sie keinen Job fand, entschloss sie sich, in einer der neu gegründeten Associations (französisch für Vereinigung) aktiv zu werden. Diese Nichtregierungsorganisationen (NGOs) schossen nach der Revolution regelrecht wie Pilze aus dem Boden. Die Tunesier wollten ihr Land endlich selber mitgestalten!
In der neuen NGO-Szene engagieren sich besonders viele Frauen
Besonders viele Frauen engagieren sich heute in Associations: Nach Schätzungen der UN sind ca. 25 Prozent der tunesischen Frauen in Associations aktiv. Sie setzen sich vielfach für Frauenrechte und Gleichberechtigung ein und haben verschiedene Projekte ins Leben gerufen, wie zum Beispiel ein Haus für obdachlose Frauen, eine Beratungsstelle für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind oder ein Fortbildungsprogramm, das jungen Frauen dabei helfen soll, in Führungspositionen zu gelangen. Auch an den Universitäten steigt die Zahl der weiblichen Studierenden. Mehr als die Hälfte aller Studierenden in Tunesien sind inzwischen Frauen. Dennoch sind Frauen noch stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als ihre männlichen Altersgenossen. Um nicht einfach nur herumzusitzen, setzen viele dann noch einen Master drauf oder werden, wie Halima, in einer Association aktiv. Dort erhalten sie zwar, wenn überhaupt, nur ein geringes Gehalt. „Aber“, meint Halima „so kann ich mir Zusatzqualifikationen aneignen und vielleicht schaffen wir ja durch unsere Projekte sogar neue Jobs“.
„Die Frauen gehen in Associations, die Männer ins Café, so ist das in Tunesien“, erzählt Dalia lachend. Sie ist fünfundzwanzig und hat ihr Architekturstudium fast abgeschlossen. Nebenher ist sie in einer Association in El Kef tätig, einer Stadt 170 Kilometer entfernt von Tunis. Ihre Association setzt sich für Frauen ein, die Opfer von Gewalt geworden sind und bietet Seminare an, in denen Jugendlichen ein Demokratieverständnis vermittelt werden soll. Dalia pendelt regelmäßig zwischen Tunis und El Kef. In Tunis vernetzt sie sich mit anderen NGOs, pflegt Kontakte zu politischen Institutionen und beantragt Fördergelder für die Projekte ihrer Association.
Belästigungen haben zugenommen
Obwohl sie von der Revolution enttäuscht ist, glaubt sie, dass sie durch die ehrenamtliche Arbeit etwas verändern kann: „Wir können die junge Generation bilden, den jungen Leuten beibringen, was es bedeutet, ein Staatsbürger zu sein und demokratische Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Ich glaube, dass wir die Menschen so aufklären können, dass sie nicht mehr alles mit sich machen lassen.“ Für Frauen, meint sie, sei die Situation seit der Revolution eher schlechter geworden. „Heute muss ich mir Gedanken darüber machen, was ich anziehe, wenn ich in die Innenstadt gehe. Ich kann nicht mehr einfach ein T-Shirt anziehen oder ein Top, sonst laufe ich Gefahr, belästigt oder sogar bedroht zu werden. Vor der Revolution war das nicht so. Da konnte ich anziehen, worauf ich Lust hatte“, erzählt sie frustriert.
Jemina bestätigt, dass die Belästigungen gegenüber Frauen seit der Revolution zugenommen haben. „In Paris kannst du als junge Frau um 22 Uhr auf die Straße gehen, sogar im Minirock und mit einer Flasche Wein in der Hand und du wirst in Ruhe gelassen. Wenn du hingegen in Tunis um 18 Uhr als Frau auf der Straße unterwegs bist, dann wirst du belästigt, selbst wenn du einen Rock bis zu den Knöcheln trägst!“ sagt sie aufgebracht. Jemina kommt aus einer konservativen Familie. Als Jugendliche spielte sie in einer Theatergruppe mit, die sich mit dem französischen Theater beschäftigte. Darüber sei sie mit europäischen Ideen von Gleichberechtigung und Demokratie in Berührung gekommen, erzählt sie. Trotz ihrer Angst vor Belästigungen und den Drohungen mancher Salafisten trägt Jemina auf der Straße Miniröcke und ärmellose Tops wenn sie abends ausgeht.
Einmal nimmt sie mich mit in eine Bar am Strand. In einer alten Lagerhalle - die Wände sind mit bunten Graffitis bemalt - sitzen junge TunesierInnen auf Barhockern. Sie trinken Bier, rauchen und unterhalten sich ungezwungen. Die junge Frau, die uns bedient, trägt einen Minirock und eine rote Punkfrisur. „Das hier ist eine Insel“, meint Jemina. „Solche Orte gibt es nicht oft in Tunis.“ Als ich ein Foto machen möchte, winkt sie ab. Fotografieren sei hier verboten, zum Schutz der Anwesenden.
Vor der Revolution, so erzählen die jungen Aktivistinnen einhellig, wären sie auf der Straße auch nicht so offen und aggressiv angestarrt worden. „Es gibt eben Männer, die das unter ,Freiheit‘ verstehen“, meint Dalia. „Früher hatten sie Angst davor, sofort ins Gefängnis zu kommen. Und heute denken sie, dass sie alles machen können.“ Bedenklich findet Dalia auch die islamistischen Frauen-Associations: „Sie gehen einen moderaten Kurs, weil sie wissen, dass sie sonst in unserem Land keine Chance haben. Aber wenn man mit ihnen diskutiert, dann beziehen sie sich auf extremistische Islamistenprediger. Letztendlich wollen sie, dass der Islamismus auch in unserem Land an Boden gewinnt.“
Das Kopftuch: lange Zeichen des Widerstands – nun Establishment?
Dennoch ist Dalia gegen eine Trennung in „islamische“ und „säkulare“ Associations. Obwohl sie das Kopftuch-Tragen an sich ablehnt, ist es in ihren Augen kein Widerspruch, ein Kopftuch zu tragen und gleichzeitig Feministin zu sein. Die NGOs, die nach der Revolution entstanden sind, legen in der Regel Wert darauf, sich für alle Frauen einzusetzen – ob mit oder ohne Kopftuch. Die Aktivistinnen meinen, das unterscheide die neuen Associations auch von den „Femmes Démocrates“ (französisch für demokratische Frauen), der einzigen Organisation, die sich schon vor der Revolution für Frauenrechte engagierte. Die „Femmes Démocrates“ seien gebildete Frauen aus reichen Familien, die sich am säkularen, europäischen Feminismus orientierten und keine Frauen mit Kopftuch verträten.
In Tunesien war das Kopftuch lange Zeit nicht nur Ausdruck der eigenen Religiosität, sondern auch ein Symbol für den Widerstand, da es unter Ben Ali verboten war. „Ich war die erste Frau in meiner Familie, die ein Kopftuch getragen hat“, erzählt Manar. Sie kommt aus einem Dorf in der Nähe von Kerkouane, einer Stadt südlich von Tunis. Damals, als sie sich mit 13 Jahren dazu entschloss, ein Kopftuch zu tragen, sei ihre ganze Familie dagegen gewesen. „Sie hatten Angst um mich, denn wenn man ein Kopftuch trug, konnte man Probleme in der Schule und an der Universität kriegen. Die Polizei wurde sogar dazu angehalten, Mädchen auf offener Straße die Kopftücher herunter zu reißen.“
Formelle Rechte sind das Eine, wirkliche Gleichstellung im Alltag etwas Anderes
Sie habe immer die Meinung vertreten, es sei ein grundlegendes Menschenrecht, sich so kleiden zu dürfen, wie man möchte. Für dieses Recht habe sie immer gekämpft, erzählt Manar. Die Revolution sei ein langgehegter Traum von ihr gewesen und als er wahr wurde, standen endlich auch ihr alle Möglichkeiten offen. Sie gehört zu den Aktivistinnen der ersten Stunde und engagiert sich gleich in mehreren NGOs. Aber die Freiheit, ein Kopftuch tragen zu können, reicht Manar bei weitem nicht: „Wir müssen die Mentalität ändern, die Stereotypen“. Es müsse mehr Frauen in leitenden Positionen und in der Politik geben. Denn bisher sind nur 68 der insgesamt 217 Mitglieder der Nationalversammlung Frauen. Und nur zwei der etwa zwanzig Ministerposten sind von Frauen besetzt. Aber auch im privaten Lebensbereich müssten Frauen endlich gleichberechtigt sein.
Während die Mütter der Aktivistinnen sich noch ganz selbstverständlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmerten, selbst wenn sie berufstätig waren, stellen ihre Töchter diese Rollenverteilung grundsätzlich in Frage. Sie diskutieren mit ihren Müttern, fordern sie dazu auf, auch die Brüder an Haushaltsaufgaben zu beteiligen. Und sie wünschen sich für die eigene Zukunft einen Partner, der ihnen auf Augenhöhe begegnet und der sich genauso im Haushalt und an der Kindererziehung beteiligt. „Ich weiß, dass es ein langer Weg ist bis wir diese Mentalität verändert haben werden“, sagt Sira, eine Freundin von Manar und selbst Aktivistin in einer Frauenrechtsorganisation. „Aber wir werden es schaffen, da bin ich mir ganz sicher!“ Leider seien vielen Männern solche Gedanken bisher noch fremd. „Was glaubst du, warum ich immer noch Single bin?“, ruft Sira lachend.
Die leise Revolution: Hoffnung auf grundlegende Veränderungen
Manar und Sira tragen beide ein Kopftuch, genau wie Halima. Alle drei sind froh, dass sie sich nun frei bewegen können und keine Angst vor Repressalien mehr haben müssen. Aziza ist Journalistik-Studentin und in einer Association aktiv, die Diskussionen zu Themen wie Gleichberechtigung, Pressefreiheit und ähnlichen Themen organisiert. Als angehende Journalistin hat sie sich auch schon viel mit dem Thema Gleichberechtigung und Frauenrechte beschäftigt. Sie selbst trug sieben Jahre lang ein Kopftuch, legte es jedoch vor einem Jahr aus Überzeugung ab. „Jetzt, wo das Kopftuch überall erlaubt ist, muss man meiner Meinung nach Frauen unterstützen, die kein Kopftuch tragen, da sie jetzt diejenigen sind, die häufig belästigt werden“, sagt sie.
Die Aktion der Femen-Aktivistinnen sieht Aziza hingegen kritisch: „Sich halbnackt auf der Straße zu zeigen, das hat nur den Islamisten in die Hände gespielt. Sie haben daraufhin gesagt: ,Schaut, das ist es, was Feministinnen wollen. Sie wollen, dass die Frauen sich ausziehen.‘ Es gibt andere Arten zu demonstrieren, die den Frauen in Tunesien mehr bringen.“
Mehrere Aktivistinnen sagen, dass sie zwar für Gleichberechtigung sind, aber nicht einfach die europäischen Ideen übernehmen wollen. Stattdessen möchten sie ihren eigenen Weg finden, der auf die kulturellen und religiösen Werte in ihrem Land Rücksicht nimmt. Und obwohl sie dabei täglich wieder aufs Neue kleine und große Kämpfe austragen müssen, ist ihr Optimismus, ihr Mut und ihre Hartnäckigkeit beeindruckend. Sie machen Hoffnung auf eine zweite, vielleicht leisere und allmählichere Revolution, die aber für die tunesische Gesellschaft und insbesondere für ihre Frauen auf Dauer etwas verändern wird.
Die Autorin ist Studentin der Ethnologie in Halle (Saale). Für ein Forschungsprojekt zu weiblichen Aktivistinnen, die sich seit der Revolution für Frauenrechte engagieren, reiste sie im Sommer 2013 in Tunesien und führte zahlreiche Interviews.