27.12.2012
Syrien - Die sich enger ziehenden Kreise

Abū Ḥasan (Pseudonym) schickt uns einen neuen Beitrag, in dem er über die Entwicklungen und seine Erfahrungen in Damaskus von April bis Juli 2012 berichtet. Dieser Artikel ist eine Fortsetzung des Beitrags "Explosion in Damaskus".

Ich sprach im Februar dieses Jahres (2012) mit einem meiner damaligen syrischen Mitbewohner über die Situation im Lande. Es war gerade die Zeit, während der die Zuspitzung zunahm, es war eine Zeit, in der eine gewisse graduelle Wende festzustellen war: Das Spiel wurde ernst. Es wurde tödlich, auch in und um Damaskus. Es war schon immer tödlich, schon fast seit Anfang an, aber die Kreise zogen sich enger, die Hauptstadt, in der ich wohnte, wurde berührt.

Am Sonntag, 29. Januar 2012 hörte ich das erste mal Artellie-Beschuss von den südlichen Peripherie-Gebieten Damaskusʼ und so zog es sich weiter bis zum Anschlag vom 17. März 2012, der mich aus dem Schlaf riss (siehe mein Artikel "Explosion in Damaskus" vom 23. März 2012). In jener Zeit also erzählte mir einer meiner damaligen Mitbewohner, dass einer dieser Oppositionspolitiker, die im Ausland im Oppositionsrat sitzen, ein Bekannter der Familie sei. Er kenne ihn persönlich über seinen Vater, da die beiden befreundet seien und der Oppositionspolitiker des Öfteren zu Hause mit ihnen verkehrt habe. Er sagte, so ein Mann wie jener ist nett, aber jetzt nicht geeignet für ein Präsidentenamt, für das er kurzzeitig im Gespräch war; er sei nicht überschlau, er sei „einfach“ ('basit'). So ist die Meinung von vielen Syrern, denke ich, dass nämlich die Auslandsopposition es sich zu einfach macht und eine militärische Intervention fordert. „Wer sind die, dass sie dies fordern? Die sitzen da draußen und halten sich für schlau. Sollen sie doch hier her ins Land kommen und von hier aus koordinieren, wenn sie sich trauen“, hörte ich einst von einer Freundin sagen, als wir gerade vor dem laufenden Fernseher saßen.

Als ich im April nach dreiwöchiger Abwesenheit wieder nach Syrien einreiste, begann eine spannende Zeit, „spannend“ in jeder Hinsicht, da sich auch die Kreise des Bewegungsradius innerhalb der Stadt enger spannten... Das militärische Hauptquartier am Umayyaden-Platz war mit Blöcken, Panzersperren und festen Eisenpfeilern gesichert worden – wie im Beitrag "Frühling II in Damaskus – das zweite Jahr eines Aufstandes: Entwicklungen, Berichte, Denkanstöße" (20.03.2012) erwähnt –, ebenso war die staatliche Nachrichtenagentur SANA im Zentrum (Baramkeh) mit Betonplatten abgesperrt. Immer mehr Sandsäcke wurden aufgeschichtet, vor allem öffentliche und sicherheitsrelevante Gebäude, Polizei- und Geheimdienstableger, Betonsperren tauchten in stetiger Weise auf und verriegelten die Zufahrt, Bewaffnete in Zivil lauerten davor, Straßen wurden nach und nach abgesperrt, und es wurde langsam, jedoch sichtbar und stetig immer umständlicher sich in der Stadt zu bewegen. Das Regime ging präventiv vor. Die Kreise zogen sich enger, man spürte es direkt.

Ich war Mitte Mai nochmals einige Tage im Libanon. Natürlich war das Gefühl schön, von einem Land der Unsicherheit in das kleine Nachbarland Libanon gefahren zu sein, wo man sich in Sicherheit vor Bomben und Schüssen wähnte. Da hörte ich am Abend vor meiner Abreise nach Syrien von Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und dem Militär in und um Tripolis herum, es ging wohl um einen festgenommenen Scheich. Hatten die Entwicklungen auf den Libanon übergegriffen? Ich wurde am nächsten Morgen zur Bushaltestelle in Tripolis gefahren, um meinen Bus zu nehmen. Der Platz an der Bushaltestelle, der mit dem großen „Allah“-Schriftzeichen darauf, war abgesperrt von der Armee, mit Panzersperren und Bewaffneten, also lief ich den Rest hinüber, kaufte mein Ticket und wartete im Bus.

Kurz vor der Abfahrt fielen plötzlich Schüsse. Sie schossen da durch die Gegend, direkt neben dem Bus, etwa 50 Meter von uns entfernt. Ich sah ein paar Leute rennen, ich setzte mich vom Fenster weg auf den leeren Platz am Gang und stellte meine Laptop-Tasche ans Fenster, damit die Kugeln, falls sie denn kämen und durch das Busblech gingen, im Laptop stecken blieben und nicht bis zu mir drängten – hoffentlich. Sie schossen da ein wenig rum und selbst der Busfahrer und der Begleiter wurden nervös, ja hektisch, fuhren langsam hektisch los und der Begleiter rief dann noch aufgeregt aus dem Bus nach hinten blickend: „Khaled, Yallah Khaled, komm!“ Khaled kam dann auch in den Bus gesprungen und der Bus fuhr hinten herum durch ein paar kleinere Straßen aus Tripolis ab. Ich hatte das Gefühl, das war keine ernste Situation, sondern dass da evtl. einfach nur so in die Luft geschossen wurde. Trotzdem weiß man ja nie...

'er wird dort niemals herauskommen, oder nur tot'

Meine Mitbewohner erzählten mir von der großen Explosion mit um die 80 Toten in Damaskus am 10. Mai.2012. Der Explosionsort war wenige Kilometer von meinem damaligen Wohnort entfernt. Der Knall sei ohrenbetäubend gewesen. Angelehnte Fenster seien durch die Druckwelle aufgegangen, ein Stück Pappe, das an das Fenster bei uns als Fensterscheibenersatz geklebt war, sei abgeflogen. Der Krater sei enorm gewesen. Eine Freundin erzählte mir knapp einen Monat später, dass eine ihrer jungen Schülerinnen (um die 10–14 Jahre?) an jenem Morgen mit ihrem Vater und noch zwei befreundeten Jungs von dem Vater zur Schule gebracht werden sollten. Sie seien bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Sie waren zu nah dran. Als sie mir ihre Handynummer auf ihrem Handy zeigte und meinte, „hier, das war ihre Nummer, sie ist jetzt nicht mehr da, sie gibt es jetzt nicht mehr“, das war schon ein bewegendes Gefühl; das macht den Unterschied aus zwischen Nachricht lesen und Nachricht fühlen.

Im April war es irrsinnig schwierig, eine neue Bleibe zu finden; ich/wir wollten ja in der Altstadt bleiben, aus Gründen der Lebensqualität, aber sehr viel mehr noch aus Sicherheitsgründen. Einer meiner Mitbewohner kam aus Derʿā, der Stadt im Süden, wo alles angefangen hatte. Er kam aus der Familie, die etwa um die 10-30.000 Mitglieder umfasst, deren Kinder im März 2011 misshandelt worden waren. Er war wohl beteiligt an Demonstrationen und auch sonstigen Aktivitäten gegen das Regime: Beschaffung von elektronischem Gerät (Satelliten-Telephonen etc.) zur Kommunikation zwischen den Aufständischen etc.

Auf jeden Fall wurde er im Mai 2011 eines Tages festgenommen (am Checkpoint?), zehn Tage lang gefesselt, die Augen verbunden. Essen: trockenes Brot und ein Stück Schmelzkäse (den er nicht isst). Er sei jeden Tag 9 Stunden lang mit diesen dicken Armeestiefeln getreten worden, mit Fäusten geschlagen worden, auch mit einer Art Eisenrohr. Die Zeitbezeichnungen von 9 Stunden könnten auch Übertreibung sein, er sagte: „immer“, jeden Tag, zehn Tage lang. Das ist in der Essenz aber unwichtig, wieviel nun genau. Wichtig ist, dass er ein junger Mensch ist, jünger als ich, und wohl zehn Tage lang absolut ausgeliefert und ohnmächtig war und somit gedemütigt wurde. Ich glaube, wir kennen dieses Gefühl gar nicht. Und dieses Gefühl dabei wird wohl das Schlimmste sein. Er hat Male am Rücken, Narben o. ä., die von diesen Misshandlungen stammen würden. Das glaube ich ihm. Seine Freundin nahm ihn bei der Freilassung am Justizpalast in Empfang. Seine Augen seien geschwollen gewesen, sie hätte ihn fast gar nicht wiedererkannt, sie seien in ein Taxi gestiegen und nach Hause gefahren, da erst habe sie geweint.

Sein Zwillingsbruder ist bis heute in Haft. Damals wussten sie nicht, wo und hatten keine Nachricht von ihm. Sie hatten irgendwann im Mai die Nachricht von einem Freund oder Bekannten erhalten, der entlassen worden war, dass er noch lebe. Im September erfuhr ich von einer Freundin mit guten Kontakten zum Geheimdienst, dass er in Damaskus im Gefängnis der 4. Division sei. Ihr Kommentar war nun: „ma raḥ yiṭlaʿ abadan, ʾau mayyit“, ʻer wird dort niemals herauskommen, oder nur tot.ʼ Sie hatte versucht durch Geldzahlung ihn herauszubekommen; ihr Freund meinte nämlich, er könne ihm helfen: Er habe Kontakte, um den Jungen freizubekommen. Er wolle dafür einen beachtlichen Betrag (vielleicht waren es 50.000 syrische Lira, also ca. 800 €, was schon immer irre viel Geld war, aber in diesen Zeiten, eine horrende Summe ist). Bei der Haft eines Familienangehörigen jedoch in der 4. Division bringt man diese Summe auf; sie wurde bezahlt, der Freund unternahm nichts, das Geld benutzte er für sich selber. Er antwortete auf die Vorwürfe seiner Freundin „Warum sagst du, du könntest helfen, wenn du gar keinen Plan hast, wie?“: „Ich muss doch auch von etwas leben.“ Die Freundin zahlt nun wiederum dem ehemaligen Mitbewohner das Geld zurück, welches ihr Freund nicht zur Befreiung des Jungen benutzt hat, da ihr nun der Vorwurf gemacht wurde, sie sei an der ganzen Sache Schuld. Mir wurde schon öfters gesagt: "Durch die Krise hier in Syrien sind die Menschen so gehässig und unmoralisch zueinander geworden."

In diesem Haus also, saßen wir im Mai abends oder auch nachmittags alle zusammen, es war belebt mit den 6–8 Zimmern, wir tranken Matetee, rauchten und redeten. Es war trotz der schwierigen Lage doch eine muntere Stimmung, irgendwie gab es Action und die Hoffnung bei ihnen, dass sich etwas ändern würde. Ich hielt mich da heraus. Ich konnte zu der politischen Lage nichts sagen. Ich hatte keine Meinung zu dem Konflikt. Das war im Mai. Es waren viele Eindrücke, die mir erzählt wurden.

"Was machst du hier in Syrien?"

Ende Mai hatte ich morgens um 4:30 eine Verabredung. Also stand ich gegen 3:45 Uhr auf – noch nie hatte ich die Straßen der Altstadt so gespenstisch gesehen! Ich hatte Angst! Die zehn Minuten per Fuß bis zum Platz mit den Taxen, also das war nicht wirklich spaßig. Ich blickte mich um: leere Straßenzüge, nach vorne: niemand, in den kleinen Ecken: gespenstische Leere, und es war dunkel, schwarz, gelbes Licht, und dazu die Zeit, die Zeit, in der die Gewalt auch langsam in die Stadt eindrang, und ich spazierte dort durch die Straßen. Ich nahm ein Taxi in den entsprechenden Stadtteil. Doch auch in der Stadt hatten sich die Kreise enger gezogen: Im Mai fing es an, dass die Checkpoints nicht nur außerhalb vor der Stadt aufgebaut worden waren, Checkpoints von Armee oder Geheimdienst, die zuvor am Stadtrand oder an den Straßen aus dem Libanon kommend immer mehr anzutreffen waren, nun gab es sie auch in der Stadt, zunächst nur nachts und abends. Später kontrollierten sie auch tagsüber.

An der Bagdad-Straße, wieder in der Nähe von einem Sicherheitskomplex, war ein Checkpoint. Dieser war nun in jener Nacht auch besetzt: Ausweis; der Fahrer gab ihn. „Von dem Jungen auch“, und zeigte auf mich. Mein Pass versetzte die Situation natürlich in einige Verwirrung! „Gib mir Deinen Ausweis.“ Diese Frage, die ich so oft hörte, bedeutet: „Du bist doch auch syrischer Herkunft, gib ihn mir.“ Der Ausweis ist deswegen so wichtig, da darauf der Heimatort vermerkt ist; von diesem wiederum kann man die Konfession ableiten und somit einen „Grad an Gefährlichkeit“ – aus Sicht der Geheimdienste. Ich musste aussteigen, meine Tüte wurde kontrolliert. Da war nur Schokolade drin. Die kleine Tasche auch: Da war ein Aufnahmegerät drin. Was das sei? - „Ein Aufnahmegerät.“ - „Wofür?“ - „Um Musik aufzunehmen?“ - „Ah. Na gut.“ - „Spiel ʻwas vor.“ Ja, da fingʼs an, ich konnte es nämlich nicht wirklich bedienen, und sagte ihm dann: „Also, das kann ich jetzt nicht, ich weiß nicht, wie das so richtig funktioniert. Aber ich glaube, da ist auch nichts drauf.“ Dann ließen sie mich auch. „Was machst du hier in Syrien? Arbeit, Studium, bist du hier verheiratet?“ - „Studium.“ Und so ging das weiter. Na ja, nachdem sie meine Sachen bei mir gefilzt und alles kontrolliert hatten, ließen sie mich ziehen. Aber das war nicht lustig, nachts um 4:00 Uhr, allein auf der Straße mit einem netten Taxifahrer irgendwo in so einer bewaffneten Kontrolle zu sein, wo klar war, dass neben den Bewaffneten der Mann in Zivil vom Geheimdienst war.

Die Situation auf dem Wohnungsmarkt wurde immer schwieriger. Ich kam für zehn Tage in einem leer stehenden Appartement bei einem Freund unter. Das war Anfang Juni und die Lage begann sich nun wirklich zuzuspitzen. Die Kampfhandlungen kamen näher, die Schüsse, auch schwereres Geschütz hallten nachts aus den Vororten oder teilweise auch schon aus anderen Vierteln der Stadt hinüber. In der ersten Nacht, wohl vom 1. zum 2. Juni 2012, wurde ich nachts plötzlich aus dem Schlaf gerissen: Im ersten schlaftrunkenen Moment dachte ich, ich liege mitten in einer Schießerei. Es scheint vielmehr, dass am Abbasiyyin-Platz nachts gegen 4:00 Uhr Zusammenstöße waren. Und das hallte halt auch in dieser Nacht direkt zu mir rüber. Es war richtig laut, Schüsse, tu-tu-tu-tu-tu-tu-tu!!!!, und dann wieder tu-tu, puch!!!!, das ging vielleicht 10 bis 15 Minuten so. Das war erst ein Vorgeschmack auf das, was dann in den nächsten Tagen und Wochen kommen sollte. Ein, zwei Tage später (2./3. Juni 2012) war ich abends wieder allein zu Hause und hörte plötzlich gegen 23:15 Uhr stimmen, von weit her, aber irgendwie schon Stimmen. „Was ist denn das?“, fragte ich mich, „nachts um 11?“, ging auf den Balkon, ja!, das war takbīr! „Allahu akbar“ rufen! Wie ich einige Tage später von einem Holzschnitzer in der Altstadt erfuhr, war das wohl in Jobar, einem Vorort. Nach ca. 15-20 min takbīrs, das dann auch ziemlich deutlich wurde, hörte ich Schüsse, einige Salven, nicht wenige. Und dann war Ruhe.

In der Woche des 6. Juni gab es einiges an Geräuschen, einiges konnte ich auch mit den Augen sehen: Es handelte sich dabei vor allem um Leuchtraketen (?), die im Dunkel der Nacht am Damaszener Himmel gut zu sehen waren. Das seien wohl auch Gewehrpatronen, die leuchten und die Standorte und -punkte anzeigen und Angriffe, Rückzüge etc. angeben sollen. Who knows? Auf jeden Fall flogen einige Explosionen durch die Gegend und Schüsse etc. Dies war bis dahin nur nachts, ca. ab 22/23 Uhr bis in die Nacht- oder Morgenstunden. Der Freund, bei dem ich wohnte, hatte seine Glas-Balkon-Tür mit durchsichtiger Plastikfolie verklebt... Einmal fingen sie wieder an, rumzuballern, in sehr gut hörbarer, aber weiter Entfernung, da sagte ein Junge sarkastisch unten auf der Straße ganz entspannt und ich hörte es auf dem Balkon stehend: „ʾAlʿāb nāriyye!“ - „Ach ja, Feuerwerkskörper.“ Und ein jeder ging weiter seine Beschäftigung nach. Man gewöhnt sich an den Tod.

Ich stand an einem Abend jener Woche auf dem Balkon, da fuhr ein Pick-up vor mit Bewaffneten. Er patrouillierte und stationierte sich dann direkt unter mir vor meinem Haus. Sehr relaxed die Jungs, spielten mit ihren Handys und tranken Cola, die Waffe, „ar- rusiyya“ (eine „Russische“), auf dem Schoß. Sahen nett aus die Typen, entspannt, aber da war nicht zu spaßen mit ihnen. Ich dachte nur bei mir: „Wenn du jetzt ein Problem haben willst, dann ist das ganz perfekt und sicher zu machen, indem du einfach nur deine Kamera hervorholst und die von oben herab photographierst. Da treten die dir die Tür ein oder zerschießen sie, um an dich zu kommen.“ Aber ich habe es mir verkniffen. Auf jeden Fall, der Führer von denen schaute sich entspannt um, auch nach oben, „alles klar", dachte er sich wohl, "der Junge (=ich) macht nichts“; ich schaute ja nur, er grüßte mich freundlich und lässig: „Marḥaba ǧārr!“ --> „Hi, Nachbar!“, das ich ebenso in arabischer Macho-Manier erwiderte: „Marḥaba!“ und dachte bei mir: „Mein Gott, wenn der jetzt merkt, oder bei einem etwas längerem Gespräch merkt, dass ich Ausländer bin, wäre er auch nicht so entspannt, sondern würde evtl. auch gleich vor meiner Tür stehen...

"Willkommen, Freund!"

Hatte ich früher bereits mitbekommen, dass die Syrer „geräuschempfindlich“ geworden sind – das heißt, bei plötzlichen Geräuschen, vor allem tieferen, Knall, Bollerwagen, Stühlerücken etc. schreckten sie auf – habe ich das nun selber an mir auch festgestellt: Ab ca. Mai schreckte ich auch bei bei solchen Geräuschen auf, der erste Gedanke geht immer an Explosionen oder Schüsse.

Die sichtbare Einengung innerhalb der Stadt nahm zu. Immer mehr Blöcke und Straßen mussten umfahren werden. Die Checkpoints kontrollieren nun auch tagsüber. Man konnte sich ganz gut dadurchschlingeln, indem man sich einfach damit abfand, die entsprechende Stempelseite dem wohl minder gebildetem Sicherheitspersonal aufschlug und damit längere Wartezeit umging. Lieferwagen oder Kleinlaster wurden immer kontrolliert, Tür auf, reinschauen, Papiere etc. Ab Juni/ Juli sah man dann auch Soldaten in der Stadt auf Lastwagen, Transportern oder in den ehemaligen grünen Bussen für den innenstädtischen Nahverkehr. Mann, mann, mann, die Jungs, wissen die, was sie machen? Sie müssen es machen, sie sind für das Vaterland da. Trotzdem fühlen sie sich so cool. Der eine Junge zielte – und der Pick-up, auf dem er hinten drauf war, im Mittagsverkehr mitten im Stau – von hinten mit seinem Gewehr in die Automenge, einfach so zum Spaß. Ich glaube, er hätte gerne mal abgedrückt, einfach so. Das war Juli/ August.

Wir saßen zu mittag, es war ein Wochentag, wir waren zu dritt zu Hause, mein Mitbewohner hatte gerade frei; wir hatten gerade aufgegessen. Da knallte es. Die anderen meinten, dass sei eine Explosion. Ich war da skeptischer, ich dachte, dass sei wieder nur irgendein Metallgerüst, das umgefallen war. Auf jeden Fall, nach ca. einer halben Stunde lief es dann auch im Fernsehen, dass vor dem Justizministerium, wo Freunde von uns arbeiteten, eine Bombe hochgegangen sei. Nur Sachschaden. Also habe ich mir meine Schuhe angezogen und bin hingestiefelt. Nichts besonderes. Ein paar verkohlte Autos, jede Menge bewaffneter Geheimdienst, etwas zum Löschen und eine weite Absperrung. Ich traf auf dem Rückweg eine Bekannte, sie meinte noch, der Geheimdienst habe wahllos aus der Menge einen Jungen gegriffen, der gefilmt haben soll.

Ein anderes Mal saßen wir bei dieser großartigen Tradition des Frühstückens an einem Freitag mittag zusammen. Frühsommer, Juni oder so etwas, gegen 13:30 Uhr vielleicht, und wieder eine Explosion... Später hörten wir es in den Nachrichten: Auf der Autostraße in Mezze, direkt vor dem Studentenwohnheim, wo eine Freundin von mir wohnte. Ich rief sie an, war alles ok bei ihr, sie hätten den Wagen gelöscht, ansonsten wurde niemand verletzt, hieß es in den Nachrichten.

Auch die Fahrt hinaus zu den Vororten wurde immer etwas kitzliger. Es war nie etwas los im Berichtszeitraum, doch wurden Kontrollpunkte aufgestellt. Diese gehörten der Armee und im Allgemeinen war festzustellen, dass die Soldaten freundlicher und zuvorkommender waren („erzogener“, wie man auf Arabisch sagt: "muhazzab"), als die Angestellten vom Geheimdienst, die uns in der Stadt kontrollierten. Einst wurde ich regelrecht angeschrieen von einem, da ich meinen Pass nicht bereit hielt. In der einen Woche wurde ich von einem Soldaten bei der Einfahrt in den Vorort abfällig angeschaut, vielleicht weil ich Ausländer für sie bin, hingegen die Woche darauf, mit einem sehr freundlichen Lächeln begrüßt: „Willkommen, Freund!“ (=marhaba, habib ?). Es schien als habe er sich gefreut, mich zu sehen.

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