Eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Israels will eine aschkenasische, religiöse Schule zwingen, auch sephardische Schülerinnen aufzunehmen. Dagegen gingen 100.000 ultraorthodoxe Juden auf die Straße – die größte Demonstration der Religiösen seit zehn Jahren
Viele ultraorthodoxe Juden in Israel sind aufgebracht. Grund ist eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, der eine aschkenasische Schule, also eine für Juden mit europäischen Wurzeln, verpflichtete, die Trennung von sephardischen Schülerinnen, also solche mit orientalischen Wurzeln, aufzuheben. Dieses Urteil wollen die Ultraorthodoxen nicht hinnehmen. Und so versammelten sich rund 100.000 »Haredim – Gottesfürchtige« zu einer lautstarken, aber friedlichen Kundgebung in Jerusalem, um ihren Unmut kund zu tun.
»Die Tora regiert«, »Unsere Religion kommt vor den Richtern« und »Die Rabbiner haben Recht«, lauteten die Slogans, die die Haredim auf ihre Plakate geschrieben hatten. Für sie ist die Entscheidung eines weltlichen Gerichts, dass eine Trennung von Kindern unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft in staatlichen beziehungsweise staatlich finanzierten Schulen nicht rechtens sei, in keinster Weise hinnehmbar.
»Die Tora steht über den Gesetzen des Staates«
Der Grund für die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes liegt bereits ein Jahr zurück. Es begann in der 2.800-Seelen-Siedlung Immanuel in der Nähe von Nablus. Aus Mitteleuropa stammende aschkenasische Familien verweigerten sephardischen Mädchen die Aufnahme in ihre Schule. Der Grund: Ihre Eltern würden nicht den gleichen streng religiösen Sitten folgen, wie in den ultra-orthodoxen Familien der Kinder aschkenasischer Abstammung. Eine Klage wegen Rassismus löste dann das Verfahren aus. Angesichts der Unbeugsamkeit der ultraorthodoxen Gemeinde, die Kinder aufzunehmen, forderte das Gericht dann die Inhaftierung von 86 Eltern – eine Art Beugehaft von vierzehn Tagen Dauer. Nur eine Haredi-Mutter machte einen Rückzieher. Doch in Immanuel löste diese Entscheidung keine Angst, vielmehr Wut aus und die Bereitschaft, sich mit dem Staat anzulegen.
»Mit dem Einverständnis unserer religiösen Anführer gehen wir ins Gefängnis. Wir freuen uns darauf, den Namen Gottes zu preisen und unsere Erziehungsprinzipien für unsere Töchter zu verteidigen. Das Gericht wird uns nicht diktieren, was wir zu tun haben«, erklärte einer der angeklagten Familienväter in ruhigem und sachlichem Ton dem israelischen Sender Galei Zahal, dem renommierten Armeesender. Ein weiteres männliches Mitglied der Gemeinde betonte in einem Interview mit dem Fernsehsender Channel 2: »Wenn wir keine Lösung finden, wird das Gericht uns noch einen Religionskrieg bescheren. Die Verantwortung liegt beim Gericht, nicht bei uns. Die Tora steht über den Gesetzen des Staates Israel. Sie existierte lange vor der Staatsgründung und ihr Gesetz gilt.«
Der Streit zwischen säkularen und orthodoxen Juden, der seit langem schwelt, ist damit wieder einmal ausgebrochen. Dass sich die beiden Konfliktparteien vor allem im Bereich der Bildungspolitik zanken, ist kaum verwunderlich. Bereits seit Jahren monieren liberale und säkulare Politiker und Wissenschaftler, dass an ultraorthodoxen Schulen vorwiegend religiöse Themen unterrichtet werden und dadurch die Allgemeinbildung auf der Strecke bleibe. Der staatlich vorgeschriebene Lehrplan, der offiziell nicht für die ultraorthodoxen Schulen gilt, werde vielerorts ignoriert, gestrichen und eigene würden Schwerpunkte gesetzt, so die Kritiker. Gleichzeitig würden aber hohe Summen an staatlichen Subventionen aus dem Bildungsministerium eingestrichen, die der, meist säkulare Israeli durch seine Steuern erst ermögliche. Der Unmut ist groß.
So erklärte beispielsweise Dan Ben-David, Geschäftsführer des unabhängigen »Taub-Centers für Sozialpolitische Studien« und Professor an der Universität Tel Aviv, im Gespräch mit der monatlich erscheinenden Jüdischen Zeitung, er könne es nicht verstehen, dass es erlaubt sei, den Schülern Bildung vorzuenthalten. »Laisser-faire ist noch zu milde ausgedrückt für den staatlichen Kontrollverlust hinsichtlich des Lehrplans an Schulen«, kritisierte er den laxen Umgang mit den Haredim. Weiter berichtete die Zeitung unter Bezugnahme auf die Selbsthilfeorganisation »Hillel«, die Aussteiger unterschiedlicher ultraorthodoxen Gemeinden beim Start ins säkulare Leben unterstützt, dass »das Bildungsniveau eines 18-jährigen Jeschiwa-Schülers, egal ob intelligent und aufmerksam, mit dem eines Grundschülers in einer säkularen Schule« zu vergleichen sei.
Die Schmerzgrenze erreicht
Fremdsprachenkenntnisse und Naturwissenschaften werden im besten Fall nur rudimentär vermittelt und so hätten viele junge Juden aus dem streng religiösen Milieu kaum eine Chance, auf dem regulären Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. Das wollen sie zwar ohnehin nicht, aber für den Staat Israel stellt diese Tatsache ein großes Problem dar. Aufgrund seiner geringen Bevölkerungsanzahl und den noch geringeren natürlichen Ressourcen ist man in besonderer Weise auf gut ausgebildete junge Menschen angewiesen, die später sowohl in der Armee, als auch in der High-Tech-Industrie – den beiden großen Stützen der Wirtschaft des Landes – arbeiten. Doch die Zahl derer, die dafür in Frage kommen, nimmt stetig ab: Die höchste Geburtenrate wird seit Jahren bei den Haredim verzeichnet und so verwundert es auch nicht, dass mittlerweile knapp 20 Prozent der israelischen Grundschüler eine ultraorthodoxe Lehranstalt besuchen.
Für weitaus mehr Verwunderung sorgte bei vielen säkularen Beobachtern der gestrigen Kundgebung indes, dass sich ausgerechnet diejenigen mit den aschkenasischen Ultraorthodoxen solidarisierten, die der eigentliche Auslöser dieser Demonstration gewesen waren: ebenfalls streng gläubige Sepharden. Dass die sich Opfer der Diskriminierung gegen eine weltliche Rechtssprechung zu ihren Gunsten aussprechen, beunruhigt viele Israelis. Für Yossi Sarid, Kommentator der liberalen israelischen Tageszeitung Haaretz, ist die Schmerzgrenze erreicht und er schreibt: »Die Ultraorthodoxe Gemeinschaft zerstört Grundwerte, ohne die ein demokratischer und entwickelter Staat nicht existieren kann. Sie werden verloren gehen, es sei denn, man schlägt zurück.«
Auf der anderen Seite fühlt sich die ultraorthodoxe Gemeinschaft in Israel zunehmend vom weltlichen Teil der Gesellschaft diskriminiert. So gab es in der vergangenen Zeit auch vermehrt Auslöser für Streit zwischen den beiden Gruppen. Allein im Mai bereits hatte die Entscheidung der Regierung, bei Umbauarbeiten eines Krankenhauses in Ashkelon entdeckte jüdische Gräber zugunsten eines neuen Schutzraums für das Hospital umzubetten, Empörung bei den Haredim ausgelöst.