28.11.2014
Salafismus und „IS“: Alpträume des Islams oder Symptome des Westens?
Graffiti in Berlin. Stigmatisierung und Intoleranz haben Einfluss darauf, wie Muslime ihr Verhältnis zu Deutschland sehen. Foto: James Dennes/Flickr (CC BY 2.0)
Graffiti in Berlin. Stigmatisierung und Intoleranz haben Einfluss darauf, wie Muslime ihr Verhältnis zu Deutschland sehen. Foto: James Dennes/Flickr (CC BY 2.0)

Phänomene wie der "IS" im Nahen Osten oder die Radikalisierung deutscher Jugendliche haben ihren Ursprung auch im Umgang des Westens mit Muslimen im Speziellen und mit der arabischen und islamischen Welt im Allgemeinen. Ein Kommentar von Mohamed Lamrabet.

Die Bundesregierung hat beschlossen, mutmaßlichen „IS“-Mitgliedern den deutschen Ausweis zu entziehen, um ihre Ausreise in das Kriegsgebiet präventiv zu verhindern. Da das bislang gesetzlich nicht möglich ist, soll hierfür bestehendes Recht zurechtgebogen werden. So sollen die Bürgerrechte deutscher Muslime auf Basis von undurchsichtigen, bestenfalls schwammigen Kriterien grundsätzlich beschnitten werden. Die deutsche Innenpolitik schließt so nahtlos an den anti-islamischen und polarisierenden Diskurs der Zeit nach dem 11. September 2001 an, der nicht nur in Deutschland vielen Muslimen durch sogenannte Antiterror-Maßnahmen und tägliche, bedrückende Debatten die Luft zum Atmen nimmt. Anstelle von Panik, Paranoia und verfassungswidrigen Maßnahmen wäre eine konstruktive Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern der vergangenen Jahrzehnte gegenüber muslimischen Gesellschaften, in Innen- und Außenpolitik, angebracht.

Stattdessen dominierte in letzter Zeit kein anderes Thema die Nachrichten so sehr wie die Expansion des „Islamischen Staates“ im Irak und in Syrien. In nur drei Jahren hat sich das europäische Stimmungsbild bezüglich politischer Entwicklungen in der arabischen Welt um 360° gedreht und der naiv-paternalisierende Optimismus rund um den Arabischen Frühling wich einem tiefschwarzen und verurteilenden Fatalismus muslimischer Gesellschaften. Die brutale Kompromisslosigkeit des „IS“ scheint in der westlichen Vorstellung so etwas wie die Antithese zum liberal-demokratischen Versprechen der arabischen Revolutionen zu sein. Im allgemeinen Bewusstsein werden Freiheit und Menschenrechte ersetzt durch Barbarei und Terrorismus. Doch genau wie im Fall des Arabischen Frühlings kommt die Expansion des „IS“ für viele Menschen im Nahen Osten nicht so überraschend wie für die Leser deutscher Tageblätter.

Humanitär gerechtfertigte und pornografische Gewalt

Der „Islamische Staat“ hat die meisten der Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden, wohl auch begangen. Sie verstoßen nicht nur gegen internationale Menschenrechtsstandards, sondern auch gegen die ethischen Werte und Normen des Islams weltweit. Viele Muslime verurteilen deshalb die Expansion des „IS“ auf Basis islamischer Wertvorstellungen. Trotzdem verhalten sich Muslime hierzulande für viele Deutsche noch zu zurückhaltend, was öffentliche Stellungnahmen und radikale Zurückweisungen angeht. Das ist nicht weiter überraschend, denn ihnen ist seit dem 11. September 2001 mehr denn je bewusst, dass im öffentlichen Diskurs mit zweierlei Maß gemessen wird: Verbrechen im Namen des Islams und Verbrechen, die der Westen aus wirtschaftlichen, nationalen oder politischen Interessen in muslimischen Ländern begeht, werden nicht gleichermaßen verurteilt.

Wo Bilder von zahllosen Leichnamen in Gaza, vergasten Kindern in Aleppo oder Drohnenopfern im Jemen und in Pakistan in den letzten Jahren allerhöchstens passive Kritik, wenn nicht sogar Ablehnung oder Zustimmung beim deutschen Publikum bewirkten, haben Hinrichtungsaufnahmen einzelner amerikanischer und britischer Zivilisten einen Flächenbrand der Empörung provoziert. Die Botschaft scheint leicht zu durchschauen: Tausende muslimische/arabische Leben sind nicht so viel wert wie eine Handvoll westliche. Dabei haben Drohnenangriffe nicht mehr mit internationalem Menschen- und Kriegsrecht zu tun als Exekutionen des „IS“. Trotzdem stehen letztere in Europa im Mittelpunkt. „IS“-Enthauptungen werden als mittelalterlich, barbarisch und als pornografisch bezeichnet. Der Anthropologe Talal Asad vom CUNY Graduate Center in New York vermutet den Grund dieser ungleichen Wahrnehmung im Unterschied zwischen humanitär gerechtfertigter und „unentgeltlicher“ Gewalt.

Aber der „Islamische Staat“ hat kein Monopol auf Gewalt und Barbarismus. Das zeigen die Folter und Ermordung irakischer Insassen durch amerikanische Soldaten in Abu Ghraib oder die Exekutionen sunnitischer Kämpfer während des irakischen Bürgerkriegs durch pro-amerikanische schiitische Milizen. Auch amerikanische Soldaten, die aus reinem Vergnügen in Afghanistan Zivilisten jagten und Finger und Zähne als Souvenirs behielten, scheinen alles andere als humanitär zu sein. Eine solche Asymmetrie ist das Resultat eines regelmäßig fehlenden Willens zur Kontextualisierung, wenn es um fremde, und oft islamische, Gesellschaften geht. Solange aber dieser tendenziöse und in Europa dominante Diskurs weiter existiert, werden auch europäische Muslime immer wieder davor zurückschrecken, sich loyal hinter ihre Regierungen zu stellen. Am Ende muss die Erkenntnis liegen, dass Krieg und die damit einhergehenden Verbrechen grausam sind – egal auf welcher Seite der Front man steht.

Der „IS“ und das Erbe der Irak-Invasion

Hinzu kommt, dass der „Islamische Staat“, anders als es die Überraschung in Europa und Nordamerika vermuten lässt, nicht plötzlich aus einem Vakuum entstand. Er ist in erster Linie das Resultat jahrzehntelanger gewalttätiger Auseinandersetzungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt im zweiten Golfkrieg 2003 erreicht hatten. Schon das wirtschaftliche Embargo des Irak durch den Westen in den 1990er-Jahren nach dem ersten Golfkrieg hat laut UN-Angaben eine Million Menschenleben gekostet, davon 50 Prozent Kinder. Viele Iraker haben außerdem die Expansion sunnitischer Milizen, die heute die Basis des „IS“ bilden, als Alternative zur oft brutalen schiitischen Dominanz der Regierung von Nuri al-Maliki akzeptiert und unterstützt.

Einige „IS“-Kämpfer kommen zudem aus Städten, die zur Zeit des zweiten Golfkrieges am härtesten umkämpft waren. Diese fielen bei Ankunft des „Islamischen Staates“ als erstes. Fallujah ist hierfür ein gutes Beispiel: Hier setzten US- und britisches Militär Berichten zufolge waffenfähig angereichertes Uran gegen die bewaffnete Opposition ein. Bis heute leidet die Bevölkerung an den Folgen. Blutkrebs, genetische Mutationen und Geburtsdefekte bei Neugeborenen sind seitdem unverhältnismäßig weit verbreitet. Mosul, wo bei friedlichen Protesten gegen die Umstände unter al-Malikis Regime massenhaft Demonstranten verhaftet und verschleppt wurden, ist heute eine Hochburg des „IS“. Deshalb gilt: Viele Anhänger des „Islamischen Staates“ müssen nicht erst mit Gewalt zum radikalen Islamismus „konvertiert“werden. Sie schließen sich ihm aus politischer Alternativlosigkeit und Pragmatismus und als Resultat jahrzehntelanger brutaler Isolation an.

In einer Region, in der auf Grund von nationalen, regionalen und globalen Machtansprüchen den legitimen Forderungen der Bevölkerung in den meisten Fällen schiere Gewalt entgegengesetzt wird, antwortet diese früher oder später auch mit Gewalt. Zwei arabische Künstlerinnen haben vor kurzem ein Video produziert, das in den letzten Wochen in den sozialen Netzwerken kursierte und die Vision vieler Iraker und Araber allgemein unterstreicht. Sie singen: „Und im Irak fand vor mehr als 10 Jahren eine Befreiung statt, eine Befreiung von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Tyrannei, begleitet von noch mehr Tyrannei, Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Eine Befreiung, die alle Menschen im Land ausschloss. Eine Befreiung, die geteilt hat, was schon geteilt war, gebrochen hat, was bereits gebrochen war. Eine Befreiung, in der Menschen aufhören zu existieren.“

 

Die Auswirkungen von Gewalt und Kriegen der letzten Jahrzehnte können keine Entschuldigung für die heutigen Verbrechen des „IS“ sein – aber sie stellen trotzdem eine mehr als notwendige Kontextualisierung dar. Eine, die vielen Muslimen in Deutschland auf Grund ihrer emotionalen und familiären Bezüge, ihrer persönlichen Erfahrungen mit den schwierigen Umständen in der Region oder ihrer besonderen Loyalität zu weltweiten muslimischen Gemeinschaften oft bewusster zu sein scheint, als den meisten Nicht-Muslimen. Sie wissen in vielen Fällen weit besser Bescheid, welche Gewalt mit Interventionskriegen in den genannten Ländern einhergeht und welch teuren Preis Bevölkerungen für strategische und ökonomische Interessen westlicher Länder zahlen müssen.

Mythos Salafismus in Deutschland

Aber Kriege, die auf den ersten Blick weit weg in islamischen Ländern geführt werden, haben auch direkte Auswirkungen auf den Alltag vieler hierzulande ansässiger Muslime. Denn so wie der „IS“ in den letzten Monaten zur Antithese des Arabischen Frühlings geworden ist, so sind Salafisten in den letzten Jahren zunehmend zur Antithese liberaler Muslime in Deutschland geworden. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über Kundgebungen in Dortmund, Sharia-Polizei oder andere vermeintliche Angriffe auf das deutsche Wertesystem berichtet wird. Die meisten Berichte ignorieren dabei blindlings die Vielfalt von Auslegungen und Lebensweisen vieler sogenannter Salafisten. So haben sie sich über die Jahre zur Inkarnation alles Fremden und Unvereinbaren ganz in der Tradition westlich-kolonialer Orientalismen entwickelt. Dabei bedeutet Salafismus nicht Strenge oder Gewaltbereitschaft, sondern in erster Linie eine Rückkehr zu den universellen Werten und Normen des frühen Islams.[1] Generell, so scheint es, trägt eine strengere Auslegung des eigenen Glaubens sogar eher zur Reduktion des Potenzials für Gewalt und Kriminalität bei, als umgekehrt.

Hier geht es nicht darum, Gewalt, wenn sie auftritt, zu entschuldigen, sondern um einen symmetrischen, objektiven und ehrlichen Diskurs bezüglich ihrer sozio-politischen Ursachen. Es geht um das Fehlen geeigneter Kanäle zur Selbstverwirklichung für muslimische Jugendliche, die sich ohne ihr Zutun in schwierigen sozialen Schichten bewegen. Viele reale Konflikte können leicht auf Bildungsmarginalisation, soziale Diskriminierung und finanzielle Ungleichheit zurückgeführt werden. Hinzu kommen weit verbreiteter und alltäglicher Rassismus, Stigmatisierung und Islamophobie.

Der Islam, ob orthodox oder liberal, ist wie jede andere säkulare oder religiöse Ideologie auch abhängig von der Fruchtbarkeit seines sozialen Nährbodens und der Konstruktivität seiner Umgebung. Deshalb sind weder Islam noch Salafismus per se eine Gefahr für das Zusammenleben in Deutschland. Sie können im richtigen Kontext vor allem eine enorme kulturelle und ethische Bereicherung sein. Dieses Potenzial muss aber von der deutschen Öffentlichkeit und der Bundesregierung gesehen und gefördert werden. Stattdessen bewirken Stigmatisierung und Intoleranz, die sich jetzt wieder im präventiven Ausreiseverbot spiegeln, das Gegenteil, während jahrelange Wirtschaftskriege in vielen muslimischen Ländern unter dem Mantra der „Humanität“ verwüstete Städte, traumatisierte Völker und zigtausende Opfer hinterlassen.

All das hat Einfluss darauf, wie Muslime ihre Beziehung zum deutschen Staat sehen. Der Zuwachs unter jungen Salafisten in Deutschland, von denen nur einige wenige daran denken, sich dem „IS“ anzuschließen, ist deshalb kein islamischer Alptraum. Es ist unter anderem ein westlich-europäisches Symptom, das endlich von der Bundesregierung für die Entwicklung einer nachhaltigeren Innen- und Außenpolitik ernstgenommen werden sollte.

 

 

[1] Bonnefoy, Laurent. Salafism in Yemen: Transnationalism and Religious Identity. Oxford: Oxford University Press, 2012; and Hirschkind, Charles. The Ethical Soundscape: Cassette Sermons and Islamic Counterpublics (Cultures of History). New York: Columbia University Press, 2009.

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