Das Massaker von Rabaa al-Adaweyya einen Monat nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi am 3. Juli 2013 rief eine neue Welle des Aufbegehrens ins Leben – die Counter-Revolte „R4bia“ entstand. Diese Gegenbewegung zum Militärputsch hat große Teile ihrer stärksten Anhänger nicht etwa in Ägypten, sondern im türkischen „Brudervolk“. Die Regierung dort versucht, diese für die Mobilisierung der Bevölkerung zu nutzen, um ihre Vision einer „neuen Weltordnung“ umzusetzen. Von Nuray Atmaca
Mit den arabischen Revolten, die in Tunesien und Ägypten erstmals wieder islamistische Akteure an die Macht katapultierten, bot sich für regierungsnahe Kreise innerhalb der Türkei eine historische Möglichkeit: Im „Zeitalter der Generation der Muslimbrüder“ sollte die Türkei ihre Vorbildfunktion für arabisch-islamische Staaten endlich erfüllen können. Doch der ägyptische Coup d’État behindert nun erst einmal die regionalen Ambitionen der Türkei, die mit dem Islamisten Mursi ihren Alliierten im Schlüsselstaat Ägypten verlor. Die schärfste Kritik am Putsch kommt daher immer noch aus der Türkei, die gleichzeitig nach einer Option sucht, den Bruch der strategisch so wichtigen ägyptisch-türkischen Achse zu kompensieren.
Am 14. August 2013 lösten ägyptische Sicherheitskräfte ein riesiges pro-Mursi Protestlager auf dem Rabaa al-Adaweyya-Platz in Kairo gewaltsam auf. Hunderte Menschen kamen dabei ums Leben. „R4bia“ wurde seitdem zum Symbol für die Unterstützung der Muslimbrüder und der Kritik an der Staatsgewalt. Das Massaker, sechs Wochen nach dem Putsch, ist so zur Geburtsstunde der ägyptischen „Gegen-Gegen-Revolte“ geworden. Doch auch der türkischen Regierung bot es eine willkommene Vorlage, um die sympathisierenden Massen und die Zivilgesellschaft in der gesamten Region gegen den Putsch zu mobilisieren.
„Prinzipientreue Einsamkeit“ als außenpolitische Doktrin
Breite Teile der internationalen Staatengemeinschaft sowie insbesondere türkische liberale und kemalistische Kreise sind davon überzeugt, dass die Türkei ihre außenpolitische „Null-Probleme Doktrin“ in Bezug auf ihre Nachbarn spätestens mit dem syrischen Bürgerkrieg aufgab und eine zunehmend sektiererische Position einnimmt. Diese wird begleitet von einer harschen Rhetorik der Regierung Recep Tayyip Erdoğans, der ihrerseits der Verlust der „strategischen Tiefe“ und ein Abdriften in eine strategielose ideologie- und identitätsbasierte Außenpolitik vorgeworfen werden.
In Regierungskreisen herrscht dagegen die Überzeugung vor, dass sich die „prinzipientreue Einsamkeit“ Erdoğans, wie sie der außenpolitische Chefberater des türkischen Ministerpräsidenten Ibrahim Kalın beschrieb, trotz des ägyptischen Militärputsches langfristig auszahlen wird. Auf der Auftaktveranstaltung der sechsten Botschafterkonferenz am 13. Januar diesen Jahres in Ankara sagte der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu: „Man fragt uns: ‚Warum macht ihr keine Realpolitik?‘“ Doch damit ist seiner Meinung nach eigentlich die Aufforderung an die türkische Regierung verbunden, „zu schweigen“, wenn „im Namen des Realismus Bomben auf Gaza fallen“ oder Aleppo bombardiert wird. In grundsatztreuer Haltung gilt für Davutoğlu aber weiterhin: „Was die Geschichte prägen wird, ist nicht, Position neben dem Starken oder des Realismus' zu beziehen. Was die Geschichte prägen wird, ist, Position zu beziehen für die menschliche Würde, Recht und Gerechtigkeit“.
Gemäß der Räson des türkischen Außenministeriums widerspricht dabei eine solche Außenpolitik, die die Menschenwürde zum Leitmotiv erklärt, nicht den Prinzipien der Realpolitik. Denn demgemäß ist der Grundbaustein einer „dynamischen und aktiven Außenpolitik“ eine effiziente Diplomatie. Diese „effiziente Diplomatie ist ehrwürdig“, so Davutoğlu, und sie büße an Effizienz ein, sobald sie ihr (ethisches) Ansehen verliere.
Die türkisch-ägyptische Counter-Strategie
Vor diesem Hintergrund wird die Counter-Strategie über einen normativen Demokratiediskurs geführt, der die Menschenrechtsverletzungen und Massaker auf die internationale Plattform trägt, um Gehör in der internationalen Gemeinschaft zu finden. Die Türkei lanciert sich hierbei als Demokratiebeispiel und Schutzpatron der aufstrebenden arabischen Demokratien. Zu diesem Zwecke greift die türkische Regierung die „Sprache der arabischen Straße“ auf. Das Kalkül dabei ist, dass der Wille der nach Freiheit strebenden arabischen Gesellschaften nach der jahrzehntelangen Unterdrückung durch undemokratische Regime nicht mehr aufzuhalten ist. So stilisieren sich die türkische Regierung und ihr nahestehende konservative Kreise als Anführer dieser Bewegung.
Wichtiger noch ist die Annahme, dass freie Wahlen die moderaten Islamisten an die Macht befördern, sobald die undemokratischen, autokratischen oder monarchischen Regime in der Region erst einmal abgesetzt sind. Die türkische Regierung vertraut dabei darauf, dass die sozial-konservativen Bewegungen vom Schlage der Muslimbrüder die am besten organisierten Kräfte in der MENA-Region sind, deren Mitglieder über breite soziale Netzwerke sowie karitative Arbeit fest in ihren Gesellschaften verankert sind.
Insofern ist es ein strategisches Kalkül, dass die Regierungspartei AKP fortwährend den Appell gen Ägypten richtet, dass sich Macht nur durch Wahlen legitimieren und sich Repression unter dem Präsidentschaftskandidaten Abd al-Fattah al-Sisi nicht rechtfertigen lässt.
R4bia erobert Facebook und Twitter
Im Hintergrund geht die Counter-Revolte derweil weiter. In der türkischen öffentlichen Meinung sowie der sozialen Medienlandschaft versammelte der Slogan „R4bia“ bald Massen hinter sich und wurde zum ultimativen Aufschrei nach Gerechtigkeit und Freiheit. Mehr noch: R4bia wird beschrieben als die „Frohbotschaft der Gründung einer neuen Weltordnung“ durch den „Aufstieg der Muslime auf die Weltbühne“ – mit der Türkei an dessen Frontlinie.
Bereits Ende August waren für das Symbol „R4bia“ sieben Anfragen beim türkischen Patentamt eingegangen. In den sozialen Medien Facebook und Twitter änderten laut dem türkischen Nachrichtenportal Samanyolu Haber innerhalb von 24 Stunden weltweit 90 Millionen Nutzer ihr Profilbild zu „R4bia“. Der türkischen Firma YNKLabs zufolge, die über Twitter gesellschaftliche Trends untersucht, wurden innerhalb der ersten zehn Tage nach dem ägyptischen Militärputsch 14 Millionen Tweets zum Putsch aus der Türkei gesendet.
Unabhängig von der ideologischen Einstellung herrsche in der sozialen Medienlandschaft dabei Konsens in der Verurteilung des Putschs. Die Hashtags zum Militärputsch in Ägypten und vor allem zum Massaker von Rabaa al-Adaweyya boomten in den türkischen sozialen Medien. Mehrere zum Teil mehrsprachige Internetplattformen mit dem Symbol „R4bia“ entstanden ebenso wie ein gleichnamiger Istanbul-basierter Fernsehsender der Muslimbrüder.
Am 24. Januar 2014 organisierte die nach dem Putsch gegründete Stiftung für Solidarität mit R4bia-Ägypten (R4bia Mısır Dayanışma Derneği) die „Internationale R4bia Nacht“ mit Sängern und Gästen aus der ganzen arabischen Region. Am Ende des Konzerts sangen alle zusammen das Lied „Es gibt eine R4bia“ (Bir R4bia var). Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan war neben weiteren Ministern und Diplomaten sowie Wissenschaftlern und Künstlern unter den geladenen Gästen.
„R4bia“ und die „Neue Türkei“: zwei Komponenten einer post-islamistischen Vision
Diese Solidarität findet unter anderem Ausdruck in der Instrumentalisierung des „R4bia“-Frames, über das ein gemeinsamer Diskurs konstruiert wird. Schicksalsanalogien zwischen den türkischen und ägyptischen Islamisten werden von der AKP und ihren Sympathisanten heraufbeschworen, die im ägyptischen Coup d’État eine Parallele zum Leidensweg des türkischen politischen Islam sehen. Seit den Korruptionsvorwürfen gegen die AKP-Regierung vom 17. Dezember 2013 werden ebenfalls Parallelen zwischen der türkischen und der ägyptischen Justiz gezogen. Während die türkische Gerichtsbarkeit jahrzehntelang von Kemalisten okkupiert wurde, lancieren AKP-Vertreter nun die Gefahr der Infiltration durch Anhänger der Gülen-Bewegung, die innerhalb der islamistischen Bewegung in einem Machtkampf mit der AKP steht. Nicht zuletzt nach dem Todesurteil für 529 Anhänger der Muslimbruderschaft wird gleichermaßen auch der ägyptischen Justiz Kollaboration mit dem Militärregime vorgeworfen.
So wird der politische Erhalt Erdoğans zu einem nationalen Befreiungskampf stilisiert, ohne den nicht nur die Türkei, sondern eine ganze Region und gar die Konfiguration einer neuen Weltordnung ihren Anführer verlieren könnte. Ein umstrittener Werbespot der Regierung als Wahlpropaganda vor den türkischen Kommunalwahlen am 30. März demonstrierte dieses Narrativ sehr deutlich. Erdoğans Machterhalt wird als ein Kampf gegen eine Koalition von internen und externen Kontrahenten gezeichnet, die der „Neuen Türkei“ ihren Aufstieg verwehren und sie in die außenpolitisch passive Rolle der „Alten Türkei“ zurückdrängen wollen, die nichts weiter als eine hörige Marionette des Westens war.
Erdoğan sowie der gestürzte ägyptische Präsident Mursi werden hierbei als die legitimen Regierungsoberhäupter betrachtet. Denn laut Ufuk Ulutaş von der regierungsnahen Stiftung zur Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsforschung in Ankara waren bis zur Machtablösung durch die AKP „in beiden Ländern die Bestimmenden externe, die Komparsen interne Akteure“.
„R4bia“ ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil des islamistischen Gedächtnisses geworden und die Bedeutung dieses Symbols reicht weit über eine türkisch-ägyptische Counter-Allianz hinaus. Die Definition von „R4bia“ auf www.r4bia.com beschreibt in seinen Grundzügen ein islamistisches Manifest, welches aktiv in der türkischen Außenpolitik umgesetzt werden soll.
In der Mitte dieser Bewegung steht der türkische Premier, der zum Heilsverkünder stilisiert wird und die Schar der Brüder im Islam eint und gegen die Gefahr von Unterdrückung und Verfolgung anführt – sei es in Ägypten, Syrien, Palästina, Gaza oder Myanmar. Der Autor, Journalist und Aktivist Hakan Albayrak sagte auf einer Veranstaltung der Union Europäisch-Türkischer Demokraten am 21. März in Köln dazu, dass es seit dem legendären Boxer Muhammed Ali bis zu Erdoğan keine andere Persönlichkeit gab, die das geschundene Selbstbewusstsein der muslimischen Welt derart stärkte. Recep Tayyip Erdoğan verkörpert demnach die Inkarnation eines politischen Messias, der die unabwendbare Renaissance eines revidierten Post-Islamismus in der Region anführt.
Türkische soft power und die transnationale islamische Zivilgesellschaft
Die Investition in die islamische Zivilgesellschaft ist eine gezielte Politik der AKP-Regierung seit ihrem Machtantritt. Die Regierung fördert islamische NGOs durch rechtliche Erleichterungen und finanzielle Hilfen, die mittlerweile auf die transnationale Ebene expandierten und einen islamischen Dachverband unter türkischer Schirmherrschaft bilden. Ziel ist es, über globale Koalitionen gemeinsam zu handeln und mit einer Stimme zu sprechen.
2005 initiierten türkische pro-islamische NGOs das bis dato größte muslimische globale zivilgesellschaftliche Netzwerk, die Union of the NGOs of the Islamic World, welche pro-islamische zivilgesellschaftliche Organisationen in der MENA-Region und Südost-Asien miteinschließt. Die Türkei tritt hierbei nicht als Imperialmacht auf, sondern sieht sich als „soft power“, der die natürliche Führungskraft innerhalb eines geeinten politischen Blocks aus muslimischen Ländern und deren Bevölkerungen zukommt.
In diesem Rahmen ist auch der relativ neue Demokratiediskurs gegenüber dem Nahen Osten zu sehen. Dabei versucht die Türkei sich selbst als Demokratiebeispiel zu profilieren, indem gleichzeitig vielerorts demokratiefördernde Projekte unterstützt werden. 2012 hat die Türkei 3,4 Milliarden US-Dollar außenpolitische Hilfe an 121 Länder geleistet; das meiste davon floss in Demokratieförderung. Dem Global Human Assistance Report von 2013 zufolge ist die Türkei mit einer Milliarde US-Dollar für humanitäre Hilfe der viertgrößte Geldgeber weltweit nach den USA, der EU und Großbritannien. Sowohl das Volumen als auch die geographische Reichweite der außenpolitischen Hilfeleistungen über das „Türkische Präsidium für Internationale Kooperation und Koordination“ nahmen nach 2004 drastisch zu, insbesondere mit Blick auf die MENA-Region. Vergegenwärtigt man sich jedoch, dass liberale und säkulare NGOs größtenteils vom offiziellen Förderfond ausgeschlossen werden, wird deutlich, dass es sich hierbei um die Forcierung einer außenpolitischen Agenda handelt.
Die grande vision à la Turca und ihre Grenzen
Dementsprechend harrt die „R4bia-Bewegung“ weiter aus, bis das als illegitim angesehene Herrschaftsregime in Ägypten überwunden ist, und betreibt gleichzeitig eine pro-aktive Ressourcenmobilisierung – primär über die transnationale islamische Zivilgesellschaft. Entscheidend festzuhalten ist, dass weder die türkische Regierung noch die islamistische Internationale den ägyptischen Militärputsch als „knockout“ sehen, sondern vielmehr als die Eröffnung einer „zweiten Runde“ mit einer anzupassenden Strategie.
Doch die Protagonisten dieser grande vision sind an mehreren Fronten mit Widerstand konfrontiert.
In Anbetracht der gegenwärtigen Situation in Ägypten, wo die Muslimbrüder erneut von der politischen Bühne verdrängt und erfolgreich als Terrororganisation gebrandmarkt wurden, wird deren Rehabilitation eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Zudem genießt die Übergangsregierung zusammen mit dem Präsidentschaftskandidaten Abd al-Fattah al-Sisi breite Unterstützung in der ägyptischen Bevölkerung. Auf der Seite der Menschenmassen, die die ägyptische Übergangsregierung unterstützen, löst die Allianz der türkischen Regierung mit den geschassten Muslimbrüdern zunehmend Befremdung aus. Bei diesen ist das Ansehen der türkischen Regierung drastisch gesunken; sie begegnen der türkisch-ägyptischen Gegenallianz mit Misstrauen und befürchten dahinter eine radikale islamistische Agenda.
An der Heimatfront sieht sich Erdoğan zudem mit dem wachsenden Unmut großer gesellschaftlicher Gruppen konfrontiert, die seinen Führungsstil als zunehmend autoritär kritisieren und sich nicht mit seinem islamisch-normativen Demokratiediskurs identifizieren. Die Verwirklichung der prophezeiten „grande vision à la Turca“ stellt die Manövrierfähigkeit der türkischen Außenpolitik auf den Prüfstein. Es wird sich zeigen, ob die „grundsatztreue Einsamkeit“ das Potenzial hat, eine regionale Neukonfiguration zu bewirken.