Seit 15 Jahren erhitzt Irans Atomprogramm die Gemüter. Am 8. Mai 2018 kündigten die USA das internationale Atomabkommen auf und belegten Iran mit den schärfsten Sanktionen aller Zeiten. Leidtragende sind die einfachen Menschen, meint Omid Rezaee.
Neulich rief mich ein alter Freund an, der vor zehn Jahren nach Italien gezogen ist. Es ging ihm so schlecht, dass ich dachte, es wäre etwas mit seiner Familie passiert. Zwar ging es tatsächlich um seine Familie, doch in einem anderen Sinn: Sein Vater hatte ihm während eines ganz routinemäßigen Chats den Preis eines elektrischen Wasserkochers auf dem iranischen Markt mitgeteilt. „Eine scheiß Marke, die ich gar nicht kenne“, sagte mein Freund.
Der Wasserkocher kostete vier Millionen Toman - umgerechnet etwa 260 Euro. Wenn man bedenkt, dass der monatliche iranische Mindestlohn für einen 40-Stunden-Vollzeitjob aktuell bei unter zwei Millionen Toman liegt, dann lässt sich die Wut dieses Freundes recht gut nachvollziehen. Ja, richtig gehört: Ein mittelmäßiger Wasserkocher kostet in Iran momentan doppelt so viel wie die gesetzliche Lohnuntergrenze.
Am selben Tag las ich auf Twitter einen Thread von einem Programmierer in Teheran. Er fragte, warum er überhaupt noch arbeiten sollte. Schließlich sitzt er zwar unentwegt vor seinem Rechner und codet, ist aber am Ende des Tages auf die Unterstützung seiner Familie angewiesen, um sich ein neues Handy zu kaufen. Allen seinen Bekannten ähnlichen Alters gehe es so: Sie arbeiten über zwölf Stunden am Tag, kämen damit aber gerade so über die Runden.
Es gilt zu bedenken: Programmieren gehört in Iran zu einem der besser bezahlten Jobs. Der Mann hat ein Buch übersetzt, das in Iran zum Bestseller geworden ist – ein ziemlich erfolgreicher Mensch also. Wie die Lage dann erst für Frauen sein solle, fragt er.
Zwei Jahre maximaler Druck
Vor zwei Jahren, am 8. März 2018, hat US-Präsident Donald Trump das sogenannte Atomabkommen mit Iran aufgekündigt. Der Deal zwischen Iran auf der einen Seite und den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und Deutschland auf der anderen Seite, offiziell „Joint Comprehensive Plan of Action“ genannt, wurde nach jahrelangen Verhandlungen im Juli 2015 in Wien abgeschlossen.
Der Aktionsplan war für viele Iraner*innen einer der größten Hoffnungsschimmer der vergangenen Jahrzehnte. Die Menschen rechneten mit einem Wachstum der Wirtschaft und mehr politischen Freiheiten – reine Euphorie, die nicht lange andauern sollte.
Denn schon bevor Trump aus dem Vertrag ausstieg, blieben diese Wünsche und Erwartungen unerfüllt. Die ausländischen Konzerne, die in Iran investieren sollten, hielten sich zurück. Eine politische Öffnung gab es sowieso nie.
Theoretisch setzen die anderen Parteien weiterhin auf Abkommen. Europa versucht, den Deal zu retten, heißt es immer wieder in den Medien. Der jüngste Ausdruck dessen ist das Umgehungssystem Instex, („Instrument in Support of Trade Exchanges“, deutsch: Instrument zur Unterstützung des Handelsaustausches). Es handelt sich dabei um eine EU-unterstützte Finanzgesellschaft, die europäischen Banken und Unternehmen ermöglichen soll, Geschäftsbeziehungen mit Iran zu unterhalten, ohne gegen die US-Sanktionen zu verstoßen.
Die USA hingegen sind überzeugt, dass das Atomabkommen von 2015 nicht ausreicht, um das islamische Regime vom Bauen einer Atombombe abzuhalten. Mit der Absicht, Iran zu einem schärferen Deal zu zwingen, verfolgt die Trump-Administration seit 2018 die sogenannte Politik des maximalen Drucks: Iran werde mit den „schärfsten Sanktionen aller Zeiten“ belegt, heißt es aus Washington. Das Ziel: Einen Deal zu erreichen, in dem es nicht nur um Irans Atom-, sondern auch um das Raketenprogramm geht.
Doch Iran hat in den vergangenen zwei Jahren nach Außen kaum Schwäche gezeigt. Mehrfach haben die iranischen Hardliner versucht, die USA zu provozieren. Im Persischen Golf stören die Revolutionsgarden mit ihren Manövern die amerikanische Navy. Am 22. April 2020 haben die Revolutionsgarden angekündigt, den ersten Militärsatelliten des Landes ins All geschossen zu haben – eine Überraschung inmitten der Corona-Pandemie und der größten Wirtschaftskrise des Landes.
Druck auf die Zivilgesellschaft
Die Politik des maximalen Drucks und die darauf folgenden Sanktionen haben die Iraner*innen, die sich für Freiheit und Demokratie im Land engagieren sowie die einfachen Menschen, die mit dem aktuellen Zustand nicht zufrieden sind, tief gespalten.
Vereinfacht gesagt: Einige glauben, dass die Sanktionen und der amerikanische Druck mittel- oder langfristig dazu führen wird, dass das Regime aufgibt und auf einen Verhandlungskurs umschwenkt. Sie denken, Iran wird das Atom- und Raketenprogramm irgendwann einstellen, die Region nicht länger destabilisieren, bestenfalls auch nach Innen ein bisschen Toleranz zeigen und langsam einen demokratischen Weg einschlagen. Sollte das Regime hingegen weiterhin Widerstand leisten, würde alles früher oder später zusammenbrechen. Auf den Absturz, so das Kalkül, folge der Regime-Change.
Andere sind völlig unterschiedlicher Ansicht: Die Mittelschicht, die in Zeiten des politischen Wandels historisch gesehen immer die Hauptrolle gespielt hat, werde durch wirtschaftliche Krisen weiter geschwächt – um irgendwann gänzlich zu verschwinden. Sie denken, die Sanktionen bilden den perfekten Nährboden für Korruption. Tatsächlich nimmt das Volumen der Schattenwirtschaft stetig zu, wobei insbesondere den Revolutionsgarden nahestehende Unternehmen davon profitieren, die Sanktionen mit krummen Geschäften zu umgehen.
Die iranischen Machthaber nennen die US-amerikanische Politik des maximalen Drucks gern einen wirtschaftlichen Krieg gegen das iranische Volk. Außenminister Mohammad Javad Zarif spricht sogar von „Wirtschaftsterrorismus“. Von derartiger Rhetorik beflügelt, werden die Hardliner mächtiger und militarisieren Gesellschaft, Politik und Wirtschaft immer weiter. Denn, durch die Sanktionen in die Defensive gedrängt, geht der Staat nicht nur umso härter gegen Opposition und Zivilgesellschaft vor, um Stärke zu demonstrieren. Es kommt den Regierenden auch sehr gelegen, jegliche Form der Opposition mit dem Vorwurf zu diffamieren, dass sie von „ausländischen Feinden“ unterstützt würden.
In beiden Argumentationen steckt ein Funken Wahrheit. Es ist unmöglich, einzuschätzen, wie sich die aktuelle Lage entwickeln wird. Kein Mensch weiß, wie lange die Islamische Republik trotz der härtesten Sanktionen aller Zeiten bestehen kann. Doch eins ist klar: Die Sanktionen zerstören das Leben einfacher Menschen, auch derjenigen, die mit Politik eigentlich gar nichts zu tun haben wollen. Das Land ist inzwischen voller studierter, hochqualifizierter junger Menschen, die keine Perspektive haben. Sie können sich für ihre Zukunft außer wirtschaftlicher Misere quasi nichts mehr vorstellen – ganz zu schweigen von der Unterschicht, den einfachen Arbeitskräften und den Kindern sozial schwacher Familien.
Ob die USA an dieser Misere schuld sind, wegen des unbegründeten Ausstiegs aus einem internationalen Vertrag, oder die Islamische Republik, wegen ihrer irrationalen Politik und ihrer Ambition in der Region: An dem Leben dieser Menschen ändert das nichts.