25.04.2018
Parlamentswahlen im Libanon – die Erstwähler_innen sollen es richten
Wahlkampf am Highway in Zouk Mosbeh, mittig ein rotes Wahlplakat der Lebanese Forces: "Es wird endlich passieren - Integrität und keine Korruption". Foto: Johanna Bohnsack-Fach
Wahlkampf am Highway in Zouk Mosbeh, mittig ein rotes Wahlplakat der Lebanese Forces: "Es wird endlich passieren - Integrität und keine Korruption". Foto: Johanna Bohnsack-Fach

Der Libanon wählt ein Parlament – zum ersten Mal seit neun Jahren. Doch es ist unklar, wie viel Veränderung die Wahl tatsächlich bringen kann. Die Hoffnung vieler, die sich Veränderung wünschen, liegt auf der hohen Anzahl an jungen Erstwähler_innen. Aber was sagen die dazu?

#TakeAction (Werde Aktiv) – so lautet der Slogan einer Kampagne, die mehrere libanesische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) anlässlich der bevorstehenden Parlamentswahlen im Libanon am 6. Mai angestoßen haben. Aktiv werden sollen vor allem die etwa 800.000 jungen Menschen, die bald zum ersten Mal mit ihrer politischen Stimme Einfluss auf das Parlament ausüben können. Sie machen in etwa ein Viertel aller wahlberechtigten Personen inner- und außerhalb des Libanon aus.

Diese hohe Zahl an Erstwähler_innen ist nicht zuletzt durch die neun Jahre zu erklären, die seit der letzten Parlamentswahl vergangen sind. Neun Jahre, in denen sich das libanesische Parlament nicht auf ein neues Wahlgesetz einigen konnte oder Aufschübe durch Sicherheitsbedenken begründete.

Erst im Juni 2017 verabschiedete das Parlament das langersehnte Wahlgesetz. Langersehnt ist bei vielen Teilen der Bevölkerung vor allem auch eine Veränderung in den Reihen der politischen Elite im Libanon. Das wurde zum Beispiel 2014 deutlich, als tausende Menschen auf die Straßen Beiruts gingen, um gegen den Abfall zu protestieren, der die Straßen der Stadt verdreckte. Ihr Slogan You stink (Ihr stinkt) richtete sich nicht nur gegen die verfehlte Müllentsorgungspolitik, sondern auch gegen die innen- und außenpolitischen Aktionen beziehungsweise Tatenlosigkeit der libanesischen Regierung.

#TakeAction-Kampagne am Highway zwischen Sidon und Tyre: Steh auf, beweg dich, wähl! Foto: Roy Hayek (mit freundlicher Genehmigung)

 

Aus den Protestbewegungen formten sich zivilgesellschaftliche Bewegungen, die, wie zum Beispiel Beirut Madinati (Beirut, meine Stadt), in den Kommunalwahlen 2016 mit einer Kandidat_innenliste unter anderem in der Hauptstadt Beirut ins Rennen gingen. Auch wenn sie keine Sitze in den Kommunalräten gewinnen konnte, kam sie den alteingesessenen Parteien an Wählerstimmen gefährlich nahe.

Die Kandidat_innen der zivilgesellschaftlichen Listen taten sich vor allem dadurch hervor, dass sie sich unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit präsentierten. Dies ist besonders für den multikonfessionellen Staat, dessen Konkordanzdemokratie die Teilhabe aller 18 anerkannten Konfessionen am politischen System prozentual festlegt und dessen führende politische Parteien sich zu einem großen Teil über ihre konfessionelle Zugehörigkeit identifizieren.

Alte politische Eliten und Misstrauen

Die Ursprünge des konfessionellen Systems liegen schon weit vor der Verabschiedung der ersten Verfassung des jungen Staates aus dem Jahre 1926. Die Clanstruktur in der multi-ethnischen und multi-konfessionellen Region zeichnete sich durch ein Patronage- und Klientelismussystem aus und überdauerte das Osmanische Reich (etwa 1516 bis 1918). Bis heute besitzen führende Familien einen Großteil des Vermögens im Libanon und dominieren gleichzeitig die Parteienlandschaft, die sich seit den 1920er Jahren entwickelte.

Sich Gefälligkeiten zu erkaufen hat im Libanon daher eine jahrhundertelange Tradition. Bis heute gehören Vetternwirtschaft und Korruption sowohl zum politischen Leben als auch beim Umgang mit sämtlichen öffentlichen Behörden dazu. Die damit verbundenen infrastrukturellen Probleme sowie eine hohe Arbeitslosigkeit lassen viele junge Libanes_innen ihren Glauben an Veränderung und das politische System verlieren. Der 22 Jahre alte Medizinstudent Mohammad etwa vergleicht die Aussagen von Politikern mit »leeren Patronenhülsen«. Er traut ihnen nicht.

Gleichzeitig verlaufen die Trennlinien zwischen den Parteien immer noch vor allem entlang konfessioneller Linien, die im Bürgerkrieg (1975 bis 1990) schon einmal zu Frontlinien wurden. Genau das macht der 24 Jahre alten Politikstudentin Sarah Sorgen. Sie findet, die traditionellen Parteien hielten den Libanon gezielt davon ab, »säkular zu werden«. Sie fürchtet eine erneute Eskalation der Konflikte. Sie möchte nicht, dass ihre »Kinder im Krieg leben müssen«. Die nun stattfindenden Parlamentswahlen könnten Sarah, Mohammad und anderen Hoffnung geben. Hoffnung darauf, dass die traditionellen politischen Strukturen aufgebrochen werden, um Platz für junge, innovative Politiker_innen zu machen, die womöglich Veränderung bringen können.

Können die längst überfälligen Wahlen die Libanes_innen mobilisieren?

Trotz der vergangenen starken Proteste und der Entstehung zivilgesellschaftlicher Bewegungen nahmen 2016 nur ca. 20 Prozent der Wahlberechtigten an der Kommunalwahl teil. Bei der Parlamentswahl vor neun Jahren waren es immerhin etwas mehr als die Hälfte aller stimmberechtigten, registrierten Libanes_innen. Es bleibt abzuwarten, wie sehr die nun kurz bevorstehende Wahl mobilisieren kann.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Beirut hat kürzlich ergeben, dass die Ergebnisse der Wahl die politische Landschaft voraussichtlich nicht verändern werden. Die Erstwähler_innen wären zwar mehrheitlich bereit zu wählen, würden aber angeben, innerhalb der alteingesessenen politischen Parteien oder für die bereits bekannten Kandidat_innen aus ihren Heimatstädten wählen zu wollen. Doch was genau sagen diese Erstwähler_innen, wenn man sie zu den Wahlen befragt?

Ich werde nicht wählen, weil keine der Leute, die ich wählen würde, sich zur Wahl stellen. (Faten, Der el-Qamar)

Das im Juni 2017 verabschiedete neue Wahlgesetz beinhaltet nach wie vor das spezielle Wahlkreissystem, in dem die Wähler_innen  ihre Stimme in dem Wahlkreis ihrer Heimatstadt und nicht in dem ihres Wohnortes abgeben. Außerdem können sie ausschließlich Kandidat_innen wählen, die sich in jenem Wahlkreis innerhalb von Listen zur Wahl stellen. Im Libanon schränkt das konfessionelle System die Zusammenstellung der Listen, je nach konfessioneller Zusammensetzung des Wahlkreises, zusätzlich ein.

 Johanna Bohnsack-Fach

 

Das alles limitiert die Auswahl nicht nur für Faten erheblich. In dem Wahlkreis der 21 Jahre alten Literaturstudentin haben sich zum Beispiel nur zwei Listen zur Wahl gestellt. Das neue Wahlgesetz sieht nun außerdem vor, dass nicht mehr für einzelne Kandidat_innen von verschiedenen Listen gestimmt werden kann, sondern nun eine gesamte Liste gewählt wird. Auf dieser geben die Wähler_innen dann zusätzlich eine Stimme für einen Favoriten ab.

Ich werde nicht wählen, da ich aus dem Süden komme, aber in Matn lebe. (...) Die meisten Kandidaten in meiner Heimatstadt sind alt, in Matn gibt es junge Leute. Hoffentlich können sie etwas ändern. (Mariebelle, Maamariyeh)

Mariebelle ist 24 Jahre alt und studiert Jura. Sie möchte, genau wie Faten, nicht wählen. Sie hat weitere Gründe dafür. Sie äußert den Wunsch nach jungen, neuen Politiker_innen. Leider kann auch sie keinen Teil zu deren Erfolg beitragen. Obwohl sie den Großteil ihres Lebens in Matn gelebt hat, müsste sie nun ihre Stimme für einen Wahlkreis im Süden des Libanon abgeben, mit dem sie sich nicht identifiziert. Die Kandidat_innen aus ihrem Wahlkreis sind ihr fremd, weshalb sie ihnen nicht ihre Stimme geben will. Daher sieht sie für sich nur die Möglichkeit, gar nicht zu wählen.

Wer wählen möchte, hat im Libanon manchmal keine Wahl

Ich möchte wählen, damit ich das Recht habe zu meckern, wenn die Politiker versagen. (Mohammad, Koura)

Mohammad lacht, als er das sagt. Der Medizinstudent macht deutlich, dass er seinen Beitrag zum politischen Prozess leisten will. Dennoch hat er ein ähnliches Problem wie Faten. Auch in seinem Wahlkreis haben sich die Kandidat_innen in zwei Listen aufgestellt. Mit beiden ist er eigentlich nicht einverstanden, da sie einige der alteingesessenen Parteien repräsentieren. Diesen möchte er nicht seine Stimme geben. Will er jedoch wählen, hat er keine Wahl. Er wird sich, wie er sagt, für das »kleinere Übel« entscheiden. Er sagt auch, dass die Wahlkampagnen, die vornehmlich von den alteingesessenen Parteien geführt werden, rausgeschmissenes Geld seien. Er möchte »junges Blut« im Parlament sehen.

Mein Wahlzettel wird wahrscheinlich leer sein, außer ich werde noch von der ›am wenigsten schlechten‹ Liste überzeugt. (Margot, Akkar)

Margot studiert Biologie. Die 22-Jährige möchte gerne, dass ihre Stimme zählt. Doch auch sie teilt nicht die politischen Meinungen der aufgestellten Listen und ihrer Kandidat_innen. Ein leerer Stimmzettel erscheint ihr als eine Lösung, trotzdem ihre politische Meinung bei den Abstimmungen zu äußern.

Klienten, Patrone und die Lebanese Forces

Natürlich sind nicht alle gegen die alteingesessenen Parteien und ihre Vertreter. Die Politikstudentin Sarah identifiziert sich mit einem ganz bestimmten Kandidaten, den sie auch wählen möchte und den sie persönlich kennt. Die Liste, auf der er sich zur Wahl stellt, ist trotzdem auch für sie ein Problem.

Ich habe gerade erst herausgefunden, dass er mit der Partei von Staatspräsident Aoun auf einer Liste antritt. (...) So oder so, ich liebe diesen Typen. Er hat sehr viel getan für meine Heimatstadt. (Sarah, Zgharta)

Da das Wahlsystem die Favoritenstimme nur zählt, wenn für die entsprechende Liste gewählt wurde, muss Sarah eine ihrer Stimmen einer Liste geben, deren Kandiat_innen sie eigentlich nicht unterstützt. Hussein, ein 22 Jahre alter Ingenieursstudent aus Tripoli, kennt Sarahs Problem, er will ebenfalls nur für Kandidat_innen stimmen, die er persönlich kennt. Sein Favorit ist ein Freund der Familie:

Ich werde wählen, weil es Zeit für Veränderung ist. (...) Es ist sehr verwirrend. Manchmal sind die Leute, die du wählen möchtest auf Listen mit Leuten, die du nicht wählen willst. (...) Er [sein Favorit, Anm. d. Verfasserin] ist ein Gentleman. Er hat sehr viel für unsere Heimatstadt gearbeitet. Er behandelt alle gleich. (...) Er ist ein Freund meines Vaters. (Hussein, Tripoli)

Sarah und Hussein sind zwar ebenfalls nicht mit den alteingesessenen Parteien einverstanden, auch sie wollen Veränderung. In ihren Äußerungen spiegelt sich aber die Logik des jahrhundertealten Klientelismussystems wider, in dem die wichtigste Form der Einflussnahme die der direkten Leistungen des Patrons gegenüber seinem Klienten ist.

Der 25 Jahre alte Jurastudent Mark denkt anders als Hussein und Sarah. Er will die Lebanese Forces wählen. Dabei war vor allem diese Partei in der Vergangenheit Vorwürfen der Korruption ausgesetzt. Sie hat bislang acht der 64 christlichen Sitze im Parlament. Mark gibt an, eine führende Position in jener Partei zu haben, die als ein militärischer Zusammenschluss verschiedener christlicher Milizen im Bürgerkrieg gegründet wurde und später erst zu einer politischen Partei wurde. Junge Leute im Parlament wünscht sich jedoch auch Mark. Daher wird er einen jungen Kandidaten der Lebanese Forces wählen. Zu den anderen Parteien und den Wahlkampagnen hat er eine klare Meinung:

Viele Parteien kaufen sich ihre Stimmen. Die Lebanese Forces nicht, sie bezahlen kein Geld für Stimmen. (...) Die Lebanese Forces haben das beste Marketing und die beste Kampagne für die Wahlen. (Mark, Byblos)

Es gibt Alternativen zu Parteien mit »vergifteten« Kampagnen

Sarah aus Zgharta hingegen findet die Kampagnen aller Parteien sehr bedenklich. Sie »vergifteten« ihrer Meinung nach das politische Klima und seien nur darauf ausgelegt, diejenigen Libanes_innen zu mobilisieren, die im Bürgerkrieg gekämpft haben. Das findet sie »ungesund«. Christine ist 22 Jahre alt und studiert Jura, wie Mark. Für sie bestünden die Kampagnen nur aus »Beleidigungen gegenüber den opponierenden Parteien«. Sie will trotzdem unbedingt wählen.

Ich werde wählen, weil ich meine Meinung mitteilen will und weil es mein Recht ist, das zu tun. Ich glaube, dass man die Leute unterstützt, mit denen man nicht einverstanden ist, wenn man nicht wählt. (Christine, Zekrit)

Christine hat die Möglichkeit, eine andere Liste als die anderen zu wählen. Ihr Heimatort befindet sich in Matn, einer zentral im Libanon gelegenen Region. In dieser Region hat eine zivilgesellschaftliche Bewegung eine Liste mit dem Namen „Kuluna Watani“ aufgestellt, was so viel bedeutet wie „Wir sind alle Patrioten“. Ihre Mitglieder verstehen sich als unabhängig von den alteingesessenen Parteien und stellen sich unter anderem auch noch in Beirut zur Wahl. Christine sagt, sie seien gebildet und hätten die Qualifikation, im Parlament zu sitzen. Sie sind für sie ein Gegenentwurf zu den traditionellen Parteien, die den Wahlkampf lediglich dazu nutzen würden, die konfessionelle und ideologische Spaltung im Land weiter voranzutreiben. Ob die Hoffnungen der Kampagne #TakeAction erfüllt werden und die Mehrheit der 800.000 Erstwähler_innen bereit ist, ihre Stimme am 6. Mai abzugeben, lässt sich bisher noch kaum absehen. Sicher ist aber, dass das Wahlergebnis hohe Wellen schlagen wird. Sollte das Ergebnis zugunsten des bereits bestehenden Machtgefüges ausfallen und keinerlei Überraschungen bringen, könnte das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen der jungen Libanes_innen in das politische System noch weiter sinken. Sollte das Ergebnis die alten politischen Strukturen jedoch herausfordern und eine Verschiebung der Machtverhältnisse bewirken, könnte der Glaube an die Möglichkeit von Veränderung und politischer Mitbestimmung gestärkt werden.

 Roy Hayek (mit freundlicher Genehmigung)
Artikel von Johanna Bohnsack-Fach