20.12.2024
Nach der Revolution ist vor der Revolution
Die Freiheitskämpfe in Syrien und Iran haben mehr miteinander gemeinsam, als viele denken, wenn man sich die Geschichte der beiden Länder ansieht. Grafik: Zaide Kutay
Die Freiheitskämpfe in Syrien und Iran haben mehr miteinander gemeinsam, als viele denken, wenn man sich die Geschichte der beiden Länder ansieht. Grafik: Zaide Kutay

In einer unsicheren Welt erinnert der Sturz Assads daran, dass Ungerechtigkeit, egal wie lang sie andauert, ein Ende findet. Diese Szenen wecken bei Iraner:innen Hoffnung, aber auch die Sorge, dass auch ihnen die Freiheit verwehrt bleibt.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Wenn ihr diese Kolumne am Veröffentlichungstag lesen solltet, also am 20.12.2024, dann tut ihr das an der Yalda-Nacht, der Nacht der Wintersonnenwende. In Iran versammeln sich die Menschen jedes Jahr am längsten Abend des Jahres, um gemeinsam zu essen und zu trinken, Granatäpfel und Wassermelonen aufzubrechen, Erinnerungen auszutauschen und sich gegenseitig mit den Versen des Dichters Hafez die Zukunft vorauszusagen. Sie beschreiten gemeinsam die kalte und dunkle Nacht bis zum Morgengrauen.

Ob Yalda in Zentral- und Westasien, das Julfest in Europa, Weihnachten, Chanukka oder das Dongzhi-Fest in China – viele Kulturen wählen die Zeit um die Wintersonnenwende, um zu feiern und beieinander zu sein. Die Angst vor der Dunkelheit und die Erwartung kalter und dunkler Wintertage erweckt in den Menschen den Wunsch nach Gemeinschaft. Von all den Dingen, die ich an Iran vermisse, steht Yalda ganz oben auf der Liste. Ich erinnere mich an die Menschen, mit denen ich es gefeiert habe, und an die Erinnerungen, die wir jedes Jahr geteilt haben. Daran, wie es war, die ganze Familie für eine Nacht zusammen zu haben  – und warum es nicht mehr möglich ist, weil ich hier sitze und sie dort.

Jede Person, die Iran verlässt, hat ihre ganz persönlichen Gründe: Manche verlassen das Land aus finanziellen Gründen in der Hoffnung, woanders ein besseres Leben aufbauen zu können. Andere gehen in der Hoffnung nach einer besseren medizinischen Behandlung. Einige fliehen vor Verfolgung. Die meisten beobachten uns und fragen sich, ob sie das Leben, das sie aufgebaut haben, aufgeben und ebenfalls gehen sollten.

Die Kinder der Revolution

Ich bin ein Kind der Revolution, Teil der in deutschen Medien oft idealisierten Generation Z, die im eurozentrischen Diskurs Deutschlands als „Hoffnungsträger:innen eines westlichen Irans" gilt. Spät genug geboren, um keinen Krieg erleben zu müssen, aber früh genug, um von Zeitzeug:innen umgeben zu sein, die Narben davon tragen. Seit Jahren liegt der Fokus auf den Unterschieden zwischen den Generationen: Generation X – die „Verirrten", die ein angeblich fortschrittliches Land ins „Mittelalter” zurückwarfen – und Generation Z – die junge, oft areligiöse, coole, gebildete „westliche" Jugend, die den Iran verändern soll. Doch das ist eine romantisierte Vorstellung, die selten hinterfragt wird. Kaum jemand spricht darüber, was es heißt, unmittelbar nach einer der turbulentesten Phasen Irans und der Welt geboren zu sein. Geboren mit dem lebenslangen Auftrag, immer wieder ins Archiv zu schauen, und aus den vielen Interviews, Zeitungsartikeln, Filmen, Werbespots und den persönlichen Erfahrungen, aus sehr gegensätzlichen Narrativen zweier Regime, Sinn zu machen und seine Wahrheit zusammen zu basteln. 

Laut unseren Schulbüchern war die Geschichte eindeutig: Es war einmal ein korrupter König, der an niemanden außer sich selbst dachte. Jemand, der das Land an Imperialisten verkaufte und jeden von seinem Geheimdienst SAVAK foltern ließ. Die „Islamische“ Revolution war ein Aufschrei, der der persischen Monarchie ein Ende setzte. Diese idyllische Vorstellung der Revolution steht jedoch im Kontrast mit der gelebten Realität der Menschen. Eine Gegenwart, in der die iranische Wirtschaft einst eine der stärkeren der Welt war, nun eine der schwächsten ist. Wo Protestieren einem das Leben kosten könnte. 

Andere schauen weiter und lassen sich auf die Erzählung der alten Monarchie ein. In alten Filmen und Werbespots ist ein anderes Iran zu erkennen. Eins, wo Frauen mit offenen Haaren auftreten, wo Coca-Cola und McDonalds auf Persisch werben und wo der iranische Rial keine Hyperinflation erlebte und nicht in Tausendern gemessen wird. Auch dieses Bild steht in Kontrast zu den gelebten Erfahrungen der iranischen Bevölkerung. Die Generation, die diese Zeit erlebt hat, erzählt von Armut, Korruption, Gewalt, Furcht und Folter. Beide Regime zeigen ihre beste Seite und vertuschen ihre Verbrechen. In seinen Interviews scheint der König mal selbstsicher, mal selbstbesessen, oft kritisch gegenüber seinen amerikanischen und britischen Verbündeten, aber nie selbstkritisch. Mal verleumdet er die Gewalt seiner Herrschaft, mal rechtfertigt er sie mit dem Kampf gegen Kommunismus. Seine Rhetorik ist voll mit Whataboutisms und Verschwörungstheorien.

Wo blieb die Freiheit?

Letztendlich unterscheiden sich die Menschen, die damals eine Revolution herbeigeführt haben, nicht viel von den Menschen, die jetzt in Iran danach streben. Sie wollten Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit, doch es klappte nicht. Vielleicht lief alles schief, als am 8. März 1979 Frauen auf die Straßen gingen, um die Einschränkung ihrer Rechte zu verhindern und von ihren Genossen im Stich gelassen wurden. Genossen, mit denen sie nicht lange zuvor gegen den Schah gekämpft hatten. Vielleicht war es, als Kurd:innen die Islamische Republik ablehnten und die Mehrheit ihre gewaltsame Unterdrückung durch die neugegründete Islamische Republik in Kauf nahm, statt mit ihnen ein gemeinsames, gerechteres Miteinander zu schaffen. Vielleicht war es auch Saddam Hussein, der mit seiner Invasion solche post-revolutionären Verhandlungsprozesse in Iran ein vorzeitiges Ende setzte. Was es auch war, als 1988 tausende politische Gefangene hingerichtet wurden, war es schon längst zu spät. Von einer einst einzigartigen revolutionären Bewegung blieben am Ende nur noch die Ästhetik, die Slogans, die Straßennamen, die an Freiheitssymboliken angelehnt sind und eine neue Nationalhymne, die eine nie gekommene Gerechtigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit verspricht, übrig. 

Eine bedrückende Kontinuität lässt sich erkennen, je weiter und tiefer man in die Geschichte schaut. Letztendlich ist der Iran, in dem ich auf die Welt kam, nicht allzu anders als der Iran, in dem meine Eltern aufwuchsen. Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Wo einst der iranische Geheimdienst SAVAK im Land Angst verbreitete, ist es nun das Ministerium für Nachrichtenwesen. Wo einst Frauen das Tragen des Kopftuchs verboten wurde, herrscht nun Kopftuchzwang und Frauen kämpfen wieder für die Rechte, die schon einmal vor 100 Jahren hart erkämpft wurden. Wo das von Pahlavi gegründete Evin-Gefängnis 53 Jahre nach dessen Gründung immer noch in Betrieb ist, sind mehr Menschen denn je gefangen, weil sie es wagten, nach Freiheit zu streben. Der Schah ging, aber die Systeme blieben.

Freiheit von Syrien bis Iran

Als vor zwei Jahren Syrer:innen und Iraner:innen zusammen auftraten, um für ihre Freiheit zu kämpfen, als Iran die deutschen Schlagzeilen dominierte und von Syrien nicht viel geschrieben wurde, als Syrer:innen an Frau-Leben-Freiheit Protesten weltweit teilnahmen und ihre gelebten Erfahrungen der Unterdrückung ihrer eigenen Freiheitsbewegung in 2011 teilten, waren sogenannte Iran-Expert:innen in Deutschland viel damit beschäftigt, der deutschen Politik zu vermitteln, dass Iran und Syrien nicht vergleichbar seien.  Iraner:innen seien gebildet, areligiös und „westlich“ und daher in der Lage, sich zu befreien. Für mich klang das immer schon nach Islamophobie. Jetzt, wo der syrische Diktator Baschar Al-Assad endlich gestürzt ist, scheint mir der damalige Diskurs absurder als je zuvor.

Die Vergleichbarkeit wird deutlich, wenn die Geschichtserzählung nicht erst mit der Islamischen Revolution von 1979 beginnt, sondern die Umstände davor mit einbezogen würden: Die „säkularen“ Diktatoren, die sich nur durch imperiale Unterstützung an der Macht halten konnten — in Iran von den USA und Großbritannien, in Syrien ironischerweise durch die Islamische Republik und Russland. Beide Länder sind ethnisch sehr divers, wurden und werden aber zentral regiert. Dies führt zur Vernachlässigung und Unterdrückung von Minderheiten.

Szenen, die sich in Syrien abspielen, werden auch auf den Smartphones aller Iraner:innen abgespielt. Szenen, die ich bislang nur aus den niedrig-aufgelösten Videoaufnahmen der iranischen Revolution kannte: Die Euphorie der Menschen, nachdem sie erfahren, dass der  Diktator geflohen ist. Der Shah floh 1979 in die Vereinigten Staaten, Assad nun nach Russland. Bilder von unzähligen Menschen, die nach Syrien zurückkehren, erwecken unter Iraner:innen im Exil die Sehnsucht nach ihrer eigenen Rückkehr. Syrer:innen, die all die Jahre anonym für ein freies Syrien kämpften, teilen jetzt zum ersten Mal ohne Furcht vor Assad ihre Identität und erwecken bei mir Gedanken an all die vielen Menschen, die auch in Iran im Hintergrund und ohne viel Aufmerksamkeit kämpfen. Unbekannte Held:innen, deren Geschichten wir nicht wissen, die Flugblätter verteilen und zu Demonstrationen aufrufen oder Verbrechen dokumentieren und anonym mit der Welt teilen. Auch die sich öffnenden Tore des Seydnaya-Gefängnisses lassen plötzlich die Tore Evins nicht mehr so unüberwindbar erscheinen.

Nach der Flucht Assads scheint der post-revolutionäre Diskurs und das gesamtgesellschaftliche Neudenken bestehender Machtverhältnisse in Syrien, ähnlich wie damals Iran, Gefahr zu laufen, durch externe Bedrohungen einen vorzeitigen Stopp zu erleben. Rojava wird im Norden Syriens von türkischen Milizen bedroht, und im Süden Syriens dringen israelische Kräfte immer weiter in Syrien ein. Beide Staaten sind mit deutschen Waffen ausgerüstet, wie es einst auch Saddam Hussein war. Jolani, der Anführer der Miliz Hay’at Tahrir Sham, der eine lange Vergangenheit mit extremistische Gruppen wie Al-Qaeda und Daesch hat, präsentiert sich und seine Gruppe vor Kameras amerikanischer Journalist:innen nun als moderater Anführer für Syrien, spricht jedoch im gleichen Atemzug von der „richtigen“ Implementierung von islamischer Herrschaft. Die USA und Europa scheinen ihn als Partner zu akzeptieren, wie sie es einst auch mit Khomeini taten. im Schatten dessen drohen die Stimmen von Minderheiten auch in Syrien von dem lauten Ruf der Mehrheit nach Einigkeit übertönt zu werden.

Yalda: Selbst die dunkelsten Zeiten haben ein Ende

Die Welt verändert sich. Bestehende Normen fliegen über Bord und neue Regeln werden geschrieben. Von der Ukraine bis Palästina und Israel, wo internationales Recht gegenüber Machtinteressen der Supermächte immer machtloser erscheint. In Syrien, Iran oder Bangladesch, wo der Aufschrei nach Freiheit immer lauter wird. In Neuseeland, wo die einheimischen Maori ihre Rechte einfordern; in den USA, wo der Mord eines CEOs scheinbar in den Menschen einen kleinen Funken an Klassenbewusstsein auslöst, oder durch die Folgen des Klimawandels, der durch unser mangelndes Handeln unausweichlich ist. Für mich steht fest, die Welt, die ich eines Tages verlassen werde, wird sich sehr von der Welt, in der ich geboren wurde, unterscheiden. Ob gerechter oder nicht, kann niemand sagen. Am Ende ist jedoch eins sicher_ Selbst die dunkelsten Nächte der Welt müssen irgendwann enden. Denn Menschen werden nie aufhören, für ihre Freiheit zu kämpfen. In solch unsicheren Zeiten suche ich in dieser Yalda-Nacht wie immer Hoffnung in den tröstenden Versen des Dichters Hafez:

Dein verlorener Josef wird nach Kanaan zurückkehren, sorg dich nicht
Dieses Haus des Kummers wird ein Garten werden, sorg dich nicht.

Oh, trauerndes Herz, du wirst heilen, verzweifle nicht.
Dieser aufgewühlte Geist wird zur Ruhe kommen, sorg dich nicht.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

Mohammad ist ein Student aus Berlin. Er ist zwischen Iran und Deutschland aufgewachsen und schreibt vor allem über grenzübergreifende Diskurse und Entwicklungen, historische Zusammenhänge in Iran, sowie Rassismus und Migration.
Redigiert von Regina Gennrich, Sophie Romy