IV. Neue Konzeptionen zu Legitimität und Autorität
Das politische Engagement iranischer und irakischer Ulama in den 50er und 60er Jahren warf grundlegene Fragen zum Wesen schiitischen Islams und den Aufgaben des Klerus auf. Die theoretischen Konzepte von Khumaini, Shariati und Muhammad Baqir as-Sadr versuchten dabei eine genuin „islamische“ Position zu staatlicher Autorität zu begründen. Wenn sie sich über konkret einzufordernde Machtanteile auch uneinig waren, so formulierten sie alle die Pflicht der Ulama, sich im politischen Prozess aktiv einzubringen. In einem Diskurs, der Geschichte und Gegenwart der Schia und ihrer Gelehrter dichotonomisch definierte, wurde der aktivistischen Interpretation ein sozialrevolutionärer Moment hinzugefügt, der über den Kreis der Ulama hinaus breite Massen ansprach. Die beanspruchte politische Autorität der Ulama wurde sowohl theologisch begründet, gleichzeitig aber auch als Ausdruck der Volkssouveränität aufgefasst.
Neben Qumm entwickelte sich vor allem Najaf zum intellektuellen Zentrum dieser Richtung. Parallel zum theologischen Kolleg entfaltete vor allem Muhammad Baqir as-Sadr seine Aktivitäten im Rahmen einer politischen Partei, der Hizb ad-Dawa. Da Najaf überdies von überragender Bedeutung für die Gelehrtenausbildung in der gesamten schiitischen Welt war, wurde in diesem Milieu eine Generation junger Ulama sozialisiert, die den neu definierten Anforderungen an sie in ihren jeweiligen Gesellschaften Ausdruck verleihen sollten.
Baqir as-Sadr Cousin Musa as-Sadr wählte dabei eine eher ungewöhnlichen Option, indem er auf dem quasi umgekehrten Weg der Gelehrtenausbildung im Libanon ein Betätigungsfeld suchte. Dabei transzendierte sein familiärer Hintergrund die iranische Nationalität, zumal es sein Cousin, der bereits erwähnte Sharaf ad-Din, war, der ihn in den Libanon einlud. Neben seinem renommierten Namen brachte Sadr vor allem seine persönliche Erfahrung der Auseinandersetzungen im Iran der 50er und 60er Jahre, sowie die aktivistischen Impulse aus Najaf mit in den Libanon. Damit verfügte also über einen weit größeren Horizont, als die meisten libanesischen Ulama bis dahin.
V. Faktoren schiitischer Mobilisierung und Politisierung ab Mitte des 20. Jahrhunderts
Sadrs Ankunft im Libanon 1959 erfolgte inmitten transformatorischer Prozesse, die die Sozialstruktur der libanesischen Schia diversifizierten und vorherrschende Loyalitäten und Identitätsmuster in Frage stellten.
Die Schließung der südlichen Grenze nach der Gründung Israels und der folgenen Krieg 1948 forcierte die schon in der Mandatsperiode begonne Migration, vor allem der schiitischen Bauernschaft Jabal Amils, beträchtlich. Hundertausende meist ungelernte Landarbeiter zog es auf der Suche nach Beschäftigung im industriellen Sektor nach Beirut. In kürzester Zeit bildete sich so im Süden der Hauptstadt ein Ring slumähnlicher Siedlungen, der Schiiten aus der Biqaa, Jabal Amil sowie vertriebene Palästinenenser beherbergte.
Die großen Zuama-Familien konnten und wollten ihre bisherige Patronagefunktion für die Beiruter Migranten nicht erfüllen, da diese für sie in Beirut ohne politischen Nutzen waren. Die Schiiten waren zwar wahlrechtlich an ihren Heimatdistrikt gebunden, die Teilnahme an Wahlen erwies sich dadurch jedoch als kostenintensiv und vom Wohlwollen der Zuama abhängig.
Zudem wurde die sozioökonomische Benachteiligung der Beiruter Vorstadtschiiten in dem Maße augenfällig, indem das Beiruter Zentrum einen wirtschaftlichen Boom erlebte und sich zum führenden Finanzzentrum der Region entwickelte.
Umso mehr rückten dementsprechend sozialistisch ausgerichtete Parteien für die Schiiten in den Vordergrund. Zum einen boten sie Erklärungen für die Vernachlässigung schiitischer Siedlungsgebiete und setzten sie in einen ideologischen Zusammenhang, zum anderen konnten die Schiiten mithilfe der Parteistrukturen ihren sozialen Bedürfnissen Ausdruck verleihen. Dabei wurde dem Konfessionalismus als systemischer Ursache die Hauptschuld zugewiesen, da er die feudale Herrschaft der Zuama festige und die breiten Massen in Armut halten und die ihnen zustehende Partizipation verwehren wolle. Die Anziehungskraft der linken Parteien mobilisierte und politisierte eine Großzahl von Schiiten, wenngleich sie zumeist ihr Fußvolk bildeten und kaum in führende Positionen vorstießen.
Ein weiteres Ziel schiitischer Migration bot schon vor dem Strom nach Beirut Westafrika. Dort zu einigem Wohlstand gelangt, zog es viele in den 50er und 60er Jahren zurück in ihre Heimat, um einerseits einen ihrem wirtschaftlichen Erfolg gemäßen Platz in der Gesellschaft einzufordern, und andererseits mit ihrem Kapital zur Verbesserung ihrer schiitischen Landsleute beitragen zu können. Die alteingesessenen Zuama mit ihrem traditionellen Selbstverständnis von Autorität wirkten auf diese Schicht schiitischer Parvenues ebenso unmodern und arrogant, wie die linken Parteien radikal und unberechenbar, so dass beide Gruppen als strategische Verbündete ausschieden.
Zur weiteren Diversifizierung der schiitischen Gemeinschaft trug der Ausbau des staatlichen Bildungswesens bei. So zielte die Politik Präsident Fuad Shihabs ab 1958 auf die Reduzierung des Bildungsrückstandes des muslimischen, insbesondere des schiitischen Bevölkerungsanteils ab. Die staatlichen Schulen, vor allem Jabal Amils, ermöglichten breiteren Bevölkerungsschichten erstmals den Erwerb von Bildung unabhängig von Zuama und Ulama. Zudem öffnete die staatliche Libanesische Universität vorher verschlossene Wege zur Hochschulbildung. Diese Integration ins Erziehungswesen sollte die Schiiten sowohl mental als auch politisch in das Staatsgebilde einbinden. Der starre Konfessionsproporz begrenzte jedoch den Zugang zu Stellen in der Bürokratie ebenso wie die Ämterpatronage der Zuama. Das Versprechen der politischen Integration war aus Sicht der neuen Schicht schiitischer Studenten damit gebrochen. Nicht zufällig waren sie in der Studentenbewegung übermäßig repräsentiert und wandten sich größtenteils linken Parteien zu.
Wenn sich die schiitische Gemeinschaft auch wie eben beschrieben diversifizierte, so sahen sich doch alle Gruppen ähnlichen Hindernissen gegenüber. Idealerweise wollte die Politik Shihabs eine breit verankerte Loyalität zum Staat Libanon etablieren und die Schiiten wiederum ihre Loyalität zum Staat unter Beweis stellen. Als sie dies jedoch auch konkret einforderten, stellte sich ihnen sowohl der politische wie auch der mentale Konfessionalismus entgegen. Letzterer zeigte sich vor allem im Verhältnis zu den anderen Konfessionsgemeinschaften. Vorurteile und Stereotypen über die als zurück geblieben empundenen und oft verächtlich Matawila genannten Schiiten waren insbesondere in Beirut weit verbreitet. Wenn sich Schiiten, wie beispielsweise die wirtschaftlichen Aufsteiger, auch als libanesische Staatsbürger profilieren wollten, wurden sie oft genug auf ihre Zugehörigkeit zur schiitischen Religionsgemeinschaft reduziert und dementsprechend diskriminiert. Unter diesen Umständen gewann die Selbstbeschreibung der Schiiten als entrechtete Konfessionsklasse an Konjunktur.
Vor allem in den 50er und 60er Jahren wurde diese Kritik an der spezifischen Diskriminierung der Schia von linken Gruppierungen aufgegriffen, während die Zuama nichtsdestotrotz wenig Einfluss einbüßten und die Ulama sich kaum in die Diskussion einbrachten. Obwohl also in verschiedenen Schichten Protest gegen diese Vernachlässigung artikuliert wurde, erwies sich die schiitische Gemeinschaft als äußerst fragmentiert. Es mangelte ihr an intrakonfessionellen integrativen Strukturen und Persönlichkeiten, die die verschieden begründeten Anliegen der libanesischen Schiiten bündeln und gegenüber dem Staat vertreten könnten.