Als sich im Januar die Ägypter in Kairo zu tausenden versammelten, um für ihre Freiheit zu demonstrieren und sich später abzeichnete, dass Mubaraks Regime nicht seine uneingeschränkte Macht halten konnte, tat sich die Europäische Union schwer ihren alten Verbündeten fallen zu lassen. Einerseits unterstützten europäische Ländervertreter medial eindrucksvoll die Demonstranten, gleichzeitig vermieden sie es jedoch den langjährigen, engen Bündnispartner zu verurteilen. Bis heute scheut sich die EU das 30 Jahre währende autoritäre Regime Mubaraks zur Rechenschaft zu ziehen.
Seit 2003 versucht die EU die Beziehungen zu ihren südlichen Nachbarn zu verbessern. Als eine Alternative zur bisherigen Erweiterungspolitik wurde die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) ins Leben gerufen.
Damit soll unter anderem das Ziel verfolgt werden, einen Ring von „gut regierten“ Staaten um die Außengrenzen der EU zu etablieren. Eine Strategie, die vor allem dem europäischen Sicherheitsinteresse dient. Hauptelemente der ENP sind die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit und eine schrittweise politische Annäherung zwischen der Europäischen Union und ihren Nachbarn. Besonders in den angrenzenden Maghrebstaaten sucht die EU nach Partnern im „Kampf gegen Terrorismus“ und nach Unterstützung, um sich gegen die von Hunger und Armut getriebenen Flüchtlinge aus Afrika abzuschotten.
„Unser Ziel ist es, Frieden, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Schutz der Menschenrechte und Demokratie in unserer Nachbarschaft zu verankern“. So lauten die offiziellen Werte, die sich die EU-Außenpolitik bei ihren Missionen auf die Fahne geschrieben hat. Doch die Fundamente europäischer Identität sind nicht in jedem Mitgliedsstaat zu finden, wie das Beispiel Ungarn in den letzten Monaten gezeigt hat. Europa als Leuchtturm der Werte, fest eingebunden in der NATO als einzig legitimer militärischer Interventionsakteur - der EU bleibt nur die Rolle als ein Akteur der Werte auf der internationalen Bühne.
Mit so genannten „EU Action Plans“ sollen eigene Projekte und Reformprogramme von Partnerländern unterstützt werden. Die EU-Kommission lässt über jedes Nachbarland einen „ENP Country Report“ erstellen. Dieser analysiert deren politische Systeme, Wirtschaftskraft und Sozialstrukturen. Auf diesen Bericht folgt ein Strategiepapier („Commission Proposal“), das die Basis für einen finalen Action Plan ist. In Verhandlungen mit einem Partnerland werden die ehrgeizigen Ziele für den Aktionsplan weiter konkretisiert. Die EU bietet vor allem materielle Anreize, damit die Partnerländer ihre Systeme nach europäischen Wünschen umgestalten. Sie bietet als Ausgleich z.B. Visa-Erleichterungen, engere wirtschaftliche Zusammenarbeit oder Zollsenkungen auf Exporte in den europäischen Markt an.
2007 handelte die EU mit Ägypten einen Action Plan aus und belegte damit ihre „Entschlossenheit, Ägypten bei der Umsetzung seiner nationalen Prioritäten und Reformen zu unterstützen“. Der Plan liest sich wie eine romantische Utopie unter Ausblendung europäischer Werte. Die EU versteckt sich hinter hübschen Formulierungen wie „Verstärkung der Effektivität von Institutionen“, die mit den Aufgaben Demokratieförderung, Wahrung der Menschenrechte und Erhaltung einer freien Justiz beauftragt werden sollen. Die ägyptische Regierung begnügte sich über Jahre damit, Schritte zu unternehmen, die ihre Wirtschaft stärken, aber politische und soziale Probleme unberührt ließen. Die Mubarak-Regierung versprach für Sicherheit und Eindämmung des Terrorismus zu sorgen und die Europäer ließen im Gegenzug zu, dass das Regime das eigene Volk unterdrückte. Das Strategiepapier der EU von 2007 verdeutlicht, dass die Jahrespläne von Mubaraks Reformen vor allem auf die Liberalisierung der Märkte und der Finanzsektoren abzielten. Zum Thema europäischer Werte ist einzig zu entnehmen, das die Förderung von Demokratie und Dezentralisation von politischen Prozessen Priorität haben solle. Konkretisierungen sucht man vergebens.
Seit langem ist die EU einer der Haupthandelspartner Ägyptens. Bereits 2003 verschaffte sie sich im Rahmen eines Assoziierungsabkommens (Vorläufer des Action Plan) exklusiven Zugang zu ägyptischen Märkten. In weiten Teilen der ägyptischen Opposition herrschte Angst vor den Marktinteressen der EU. Sie befürchteten die Überschwemmung der Märkte durch Industrieprodukte aus der EU ohne wirtschaftliche Kompensation durch Exporte z.B. von in Ägypten produzierten Agrargütern. Die einflussreiche Lobby der Landwirtschaftsverbände in der EU wusste, wie sie die Konkurrenz aus dem Nilstaat ausstechen konnte und erreichte, dass sich die Abgeordneten in Brüssel vehement gegen den Import von Agrargütern aus Ägypten aussprachen. Wirtschaftsliberalisierung steht bei den Forderungen der EU Reformpläne immer im Mittelpunkt und Demokratieförderung heißt für die EU also vor allem Unterstützung staatlicher Institutionen und der Justiz. Dabei scheint oft nachrangig zu sein, wie diese Institutionen in das Machtsystem eingebunden sind.
Reicht es, wenn Ägypten seine Märkte liberalisiert, und so vor allem EU-Interessen bedient, aber demokratische Reformen und die Schaffung einer freien Justiz vernachlässigt? Rentabel scheint es zu sein: Ägypten wurde im Zeitraum von 2007 bis 2010 für gute Zusammenarbeit mit 140 Millionen Euro belohnt. Weitere dreistellige Millionenbeträge kamen aus anderen EU-Kooperationen hinzu. Insgesamt erhielt die ägyptische Regierung von 2007 bis 2013 einen Betrag von über 808 Millionen Euro aus europäischen Töpfen.
Action Plans werden ausschließlich auf Regierungsebene ausgehandelt. Die EU war sich also darüber im Klaren, dass Mubarak die Gelder zur Unterstützung der Reformen verwalten würde. Akteure aus der Zivilgesellschaft sind im Aushandlungsprozess der Action Plans nicht involviert und sind auf den guten Willen ihrer Regierung angewiesen, um am Geldtransfer für unabhängige Projekte beteiligt zu werden. Stellt sich die Frage welche gesellschaftlichen Gruppen eigentlich von den immer enger werdenden wirtschaftlichen Kooperationen mit der EU profitieren? Da die Action Plans im Sinne von Staatsverträgen nicht bindend sind, bleibt es den Partnerländern im Großen und Ganzen freigestellt, welche Reformen sie auswählen und durchsetzen. Am Beispiel Ägyptens, aber auch bei anderen Partnern fällt auf, dass vor allem wirtschaftliche Reformen im Sinne einer „Wirtschaftsliberalisierung“ erfolgreich vorangetrieben werden. Davon profitieren internationale Großunternehmen und Eliten, die enge Kontakte zur Regierung pflegen. Das Regime von Mubarak wurde für seine Reformen von Brüssel mit sogenannten „Hilfsgeldern“ belohnt, weil die ENP es ermöglicht, dass demokratische Reformen nicht eingefordert werden. Man muss sich fragen ob die ENP überhaupt zu Ergebnissen führen kann, die für den Großteil der ägyptischen Gesellschaft sinnvoll und nützlich sind?
Kritiker sprechen von einer doppelbödigen Strategie der EU. Einerseits besteht sie auf verstärkter Sicherung europäischer Grenzen, andererseits versucht sie die Märkte und die ökonomischen Grenzen für die Wirtschaft zu öffnen. Europa versucht durch Expansion seine (Binnen-)märkte zu stärken - Europäische Werte hin oder her. Beispiel Energiesektor: Vor allem Deutschland, das sich vom russischen Gasmonopolisten Gazprom versucht zu lösen, findet neue Energiepartner in Nordafrika. So investieren z. B. RWE und BP fast 10 Milliarden Euro in die Erschließung eines Gasvorkommens vor der Küste Ägyptens. Die Verträge sind mit der neuen Übergangsregierung gerade unterschrieben worden, die Konzessionen wurden bereits vor 10 Jahren gekauft. Spezialisten gehen davon aus, dass sich die Energieabhängigkeit Europas von Nordafrika von heutigen 53% auf 85% bis zum Jahr 2030 steigern wird. Ebenfalls spielen die Erneuerbaren Energien eine nicht unbeträchtliche Rolle. Die Bundesrepublik, einer der großen Produzenten für Solarzellen und Sonnenenergietechnik, hat ein immenses Interesse an neuen Investitionsmöglichkeiten im nordafrikanischen Raum.
Im ENP Action Plan mit Ägypten wird angeregt: “Stärkung der politischen Partizipation der Bevölkerung, inklusive Förderung des politischen Bewusstseins und Teilnahme an Wahlen“. Mubaraks Regierung sorgte 2007 dafür, dass politische Partizipation, basierend auf religiöser Motivation, verboten wurde und stellte die größte Oppositionsgruppe, die Muslimbruderschaft, politisch kalt. Diese Art der Bekämpfung von politischen, revolutionären, islamischen Bewegungen kam den meisten europäischen Ländern nicht ungelegen und wurde kommentarlos akzeptiert. Die EU setzte auf ein stabiles Regime um Geschäfte europäischer Großunternehmen nicht zu gefährden. Brüsseler Gremien formulierten vage, Ägypten möge politische Partizipation fördern und finanzierten dabei gleichzeitig das autoritäre Regime.
Jährlich veröffentlicht die EU einen Report über die Entwicklung der ENP Partnerländer. Mühselig, wenn nicht vergeblich, ist der Versuch nach Anhaltspunkten zu suchen, wie es sich mit den in den Action Plans verabredeten angestrebten Demokratisierungsprozessen verhält.
Welche Ziele wurden im ENP Action Plan angestrebt und tatsächlich umgesetzt? Welche Rolle spielten die EU-Gelder dabei? Es gilt den Verdacht auszuräumen, dass Millionen Euro in private Kassen flossen. Es bleibt die Hoffnung, dass wenigstens die EU-Kommission weiß, was mit europäischen Steuergeldern passiert und welche gesellschaftlichen Gruppen und Systeme der Partnerländer tatsächlich erreicht werden. Zu viele und sehr unterschiedliche Interessenlagen machen das ENP-System undurchsichtig.
Mit dem Sturz des langjährigen Partners Mubarak steht die EU einer neuen Situation gegenüber. Sie wird nicht nur mit neuen politischen Konstellationen konfrontiert, sondern muss nun erstmals öffentlich zugeben, dass die verabredeten Demokratiereformen vom Mubarakregime und von internationalen Profiteuren verhindert wurden. Dem ägyptischen Volk blieb so nur der steinige und gefährliche Weg auf die Straße. Angesichts der machtvollen und friedlichen Demonstrationen konzentrierte sich Brüssel mal wieder auf seine Grundsätze und ließ verkünden, dass das Volk Ägyptens seinen eigenen Willen durchgesetzt habe - auf dem Weg zur Freiheit. Europa, Kontinent der schönen Werte, der sicheren Märkte und der Gelder für autoritäre Regime.
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