Wenn in einem Nachbarland etwas Schlimmes passiert, zeigen wir uns über Grenzen hinweg betroffen. Doch wie solidarisch wir sind, hängt allzu oft davon ab, wer Opfer und Täter*innen sind, schreibt Cem Bozdoğan.
Diese Woche haben wir vermutlich alle besorgt nach Wien geschaut. Ein Mann schoss an sechs verschiedenen Tatorten auf grausame Art und Weise mit einer Waffe um sich. Vier Menschen starben, es gab mindestens 22 Verletzte. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz sprach von einem „widerwärtigen Terroranschlag“.
Auch was dieser Tage in Frankreich geschieht, bewegt viele von uns. Dort ereigneten sich gleich zwei Anschläge innerhalb kurzer Zeit: Mitte Oktober tötete ein 18-jähriger Schüler den französischen Lehrer Samuel Paty, weil dieser in einer Unterrichtsstunde zur Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Zwei Wochen später starben bei einer Messerattacke in einer Kirche in Nizza drei Menschen. Bei beiden Anschlägen geht die Staatsanwaltschaft von einem islamistisch-terroristischen Motiv aus.
Wie war unsere Reaktion auf diese Ereignisse? Unsere Kultusminister*innen riefen deutsche Schulen dazu auf, eine Schweigeminute für den ermordeten Lehrer Paty zu halten. Wir unterbrachen unser Sendeprogramm für eine Sondersendung über den Anschlag in Wien. Wir ließen als Geste der Anteilnahme wichtige Gebäude in den österreichischen Nationalfarben erleuchten, wie zum Beispiel in Belgrad oder Tirana. Wir hörten Reden von Politiker*innen und immer wieder umkommt uns das Gefühl, wir würden alle zusammenhalten. Eine Welle der Solidarität, wie es Medien betiteln.
Jetzt ist er tot
Einige Stunden vor der Schießerei in Wien passierte noch etwas anderes: Der sogenannte „Islamische Staat“ verübte in der afghanischen Hauptstadt Kabul einen Terroranschlag auf eine Universität. Mindestens 35 Menschen starben, darunter auch der 21-jährige Student Mohammad Rahid. Auf seiner Facebook-Seite findet man Videos von ihm, in denen er motivierende Reden hält. Eines der Videos, hochgeladen im April, ging nach seinem Tod in den sozialen Netzwerken viral. In dem Video erinnert Rahid daran, nie das Lächeln zu verlieren. Das breite Grinsen des jungen Studenten geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Jetzt ist er tot.
Islamistische Terrorangriffe gibt es auch auf dem afrikanischen Kontinent – und das nicht erst seit dieser Woche. Weil der „IS“ in Syrien und im Irak weitgehend militärisch zerschlagen wurde, versucht die Terrorgruppe nun, in Afrika an Einfluss zu gewinnen. Das Ergebnis sind immer wieder unschuldige Opfer, so zum Beispiel bei einem Terrorangriff in Mosambik im vergangenen August mit acht Toten.
Doch Anschläge außerhalb Europas erregen unsere Aufmerksamkeit nur selten. Das Attentat in Kabul war den öffentlich-rechtlichen Sendern keine Sondersendung wert. Wir haben nicht, als Zeichen der Solidarität mit Student*innen wie Mohammad Rahid, gegen die Bundesregierung protestiert, welche derweil immer noch nach Afghanistan abschiebt, wo blutige Anschläge den Alltag beherrschen. Und Mosambik? Die meisten können vermutlich nicht einmal sagen, wo das Land auf der Weltkarte liegt. Mir kommt es so vor, als sei Solidarität von verschiedenen Faktoren abhängig: Je europäischer und je geografisch näher, desto mehr Solidarität und mehr Anteilnahme gibt es von uns.
Warum keine Schweigeminuten für Opfer rassistischer Gewalt?
Dass wir viel über Wien und über islamistischen Terrorismus in Deutschland reden, ist natürlich wichtig – und dass wir das mehr tun als über Terroranschläge in von uns weiter entfernten Ländern wie Mosambik oder Afghanistan ist ein Stück weit nachvollziehbar. Aber auch hier bei „uns“, in Europa, in Deutschland scheint es so, als würden manche Gruppen mehr Solidarität erfahren als andere.
Seitdem ein rechter Terrorist neun Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven ermordet hat, arbeiten die Angehörigen der Betroffenen sowie verschiedene Initiativen und Aktivist*innen unermüdlich daran, dass sich das Attentat von Hanau in das kollektive Gedächtnis einbrennt. Sie fordern, dass die weiß-deutsche Mehrheitsgesellschaft solidarisch mit von Rassismus betroffenen Menschen umgeht.
Wer von rechter Gewalt betroffen ist, kann sich nicht auf einer „Welle der Solidarität“ ausruhen. Dabei schreibt Kolumnistin Ayesha Khan in dem „Khan-Report“ sehr treffend: Solidarität muss keine große, globale und radikale Geste sein, sondern kann ebenso klein und persönlich bleiben.
Es steht außer Frage, dass Solidaritäten nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Wien ist nicht unwichtiger als Kabul, ist nicht wichtiger als Hanau. Was dennoch wünschenswert wäre: Dass rechter Terrorismus und rechte Gewalt von Ministerien genauso ernst genommen werden, wie wenn im Namen des Islams gemordet wird. Dass wir nach islamistischen Terroranschlägen nicht „unsere Demokratie“ und „eure Religion“ gegenüberstellen.
Zum solidarischen Handeln gehört mehr
Islamismus ist jedoch tatsächlich eine Gefahr. Das wissen wir allerdings nicht erst seitdem Terrorist*innen in den Hauptstädten Europas morden. Oder seitdem AfD-Politiker*innen in rechten Blättern ihren antimuslimischen Ressentiments freien Lauf lassen. Seit Jahren zeigen etliche Linke und Aktivist*innen mit ihren Arbeiten, dass Islamismus gefährlich ist. Doch sie kritisieren auch, wie die Politik Europas solche Ideologien durch Kooperationen mit Ländern wie der Türkei oder Saudi-Arabien selbst unterstützt.
Deswegen hat eine Gruppe von Frauen und queeren Menschen nach den weltweiten Terroranschlägen einen Brief gegen die geschrieben, die Islamismus mit hofieren. Auch das gehört zum solidarischen Handeln dazu: Die Kämpfe jener zu berücksichtigen, die seit Jahren über rechte und islamistische Gewalt forschen, schreiben und dagegen protestieren.