19.01.2010
Libanon: Neues Sicherheitsmodell für Flüchtlingslager stößt auf Ablehnung

Von Ray Smith

Die jüngsten Auseinandersetzungen im Flüchtlingslager Ain al-Hilweh haben erneut die fragile Sicherheitslage in einigen palästinensischen Camps im Libanon offenbart. Die Pläne der Regierung, die Sicherheit in den Camps zu übernehmen, werden aber von den PalästinenserInnen abgelehnt.

Das neue Jahr hatte kaum begonnen, als automatisches Gewehrfeuer und Panzerfäuste Ain al-Hilweh Camp in den Außenbezirken der libanesischen Küstenstadt Saida erschütterten. Der jüngste Konflikt wurde ausgelöst als Kämpfer der militanten islamistischen Gruppierung Jund ash-Sham ein Büro der Fatah-Partei im Camp angriffen. Die Kampfhandlungen wurden eingedämmt und schließlich eingestellt, als das lokale Sicherheitskomitee ins Geschehen eingriff.

Ain al-Hilweh und andere Flüchtlingslager beherbergen diverse palästinensische nationalistische Gruppen wie auch islamistische Kräfte, welche die libanesische Regierung als Bedrohung der nationalen Sicherheit und Stabilität wahrnimmt. 2007 lieferten sich eine dieser Gruppen namens Fatah al-Islam und die libanesische Armee (LAF) in Nahr al-Bared Camp, dem nördlichsten aller Flüchtlingslager, eine 15-wöchige Schlacht. Dabei wurde Nahr al-Bared komplett zu Schutt reduziert und 30.000 Menschen mussten fliehen.

Die Mehrheit der 250.000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon lebt in einem der 12 offiziell anerkannten Camps. Das Kairo-Abkommen von 1969 brachte die Flüchtlingslager unter Kontrolle der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und untersagt libanesischen Sicherheitskräften den Zugang.

Obwohl die libanesische Regierung Ende der 80er-Jahre das Kairo-Abkommen aufkündigte und damit theoretisch die Kontrolle über die Camps zurückgewann, hat der Staat sich bislang davor gedrückt, seine Autorität direkt auszuüben. In den Flüchtlingslagern kümmern sich seither Volkskomitees um politische Belange, während Sicherheitskomitees als interne Polizei wirken.

Als 2006 Fatah al-Islam nach Nahr al-Bared einsickerte, hatte das Camp allerdings bloß ein schwaches Volkskomitee und kein funktionierendes Sicherheitskomitee. Die palästinensischen Parteien waren uneins und schafften es nicht, die gut ausgerüstete islamistische Gruppe aus dem Flüchtlingslager zu vertreiben - bekanntlich mit fatalen Folgen.
Bei der internationalen Geberkonferenz für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds 2008 in Wien erklärte die libanesische Regierung, das einst rekonstruierte Camp werde „nicht ins gleiche Umfeld und zum sozialen und politischen Status quo ante zurückkehren, welcher die Übernahme durch Terroristen begünstigte,“ sondern unter staatliche Autorität gestellt. Die Regierung verkündete, die Rechtsstaatlichkeit werde im Flüchtlingslager von den Internal Security Forces (ISF), der libanesischen Polizei, durch sogenanntes community bzw. proximity policing durchgesetzt. Andeutend dass das zerstörte Camp als Experimentierfeld dienen soll, betonte die Regierung, dass Erfolg in Nahr al-Bared das Sicherheitskonzept zur Anwendung in anderen palästinensischen Flüchtlingslagern empfehlen werde.

Im Oktober 2009 tourte eine Delegation von sechs hohen ISF-Beamten durch die USA um die dortige Umsetzung von community policing zu studieren - ein Konzept für Polizeiarbeit in spezifischen, genau definierten Gebieten. In der Theorie baut es auf gegenseitig nutzbringende Beziehungen zwischen der Polizei und den Bürgern und betont die Beteiligung der Gemeinschaft im Lösen von Problemen. Die community police profitiert von der Expertise und den Ressourcen, welche in der Gemeinschaft vorhanden sind.<. Der Besuch war Teil eines Programms, welches vom Bureau of Narcotics and Law Enforcement des US-Außenministeriums mit 6 Mio. Dollar gesponsert wird. Das Hilfsprogramm beinhaltet auch den Bau eines Polizeipostens und Ausrüstung wie bspw. Patrouillenfahrzeuge. Seit 2006 hat die amerikanische Regierung Libanon mit mehr als einer halben Milliarde Dollar für Sicherheitszwecke unterstützt.

Der Verantwortliche der PLO für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds, Marwan Abdulal, mag die Idee nicht, das Konzept in den Flüchtlingslagern umzusetzen. „Es ignoriert die Besonderheit Libanons und der palästinensischen Präsenz im Land,“ sagt er. Abdulal glaubt nicht, dass direkte libanesische Sicherheitskontrolle über das Camp funktionieren würde. „Solange das Gesetz diskriminierend bleibt, aber angewandt werden soll, ist das Experiment zum Scheitern verurteilt.“

„Das Konzept ist modisch. Das Wort community zieht,“ sagt Amr Saededine, ein unabhängiger Journalist. Er erklärt, beim community policing gehe es vor allem darum, die Leute einander gegenseitig ausspionieren zu lassen und beim Geheimdienst zu verpetzen. Ghassan Abdallah, Generaldirektor der Palestinian Human Rights Organisation (PHRO), weist auf Umfragen hin die zeigen, dass eine große Mehrheit der Flüchtlinge den libanesischen Sicherheitskräften nicht vertraut und dagegen ist, dass diese die Camps kontrollieren.

Beirut und der Regierungspalast sind derweil weit weg von den Ruinen, Trümmern und dreckigen Straßen Nahr al-Bareds. Hier sieht die Realität anders aus. Mehr als zwei Jahre nach dem Krieg sind etwas 20.000 Flüchtlinge zurückgekehrt und leben am Rande des zerstörten Flüchtlingslagers. Sie sind umgeben von Armeeposten, Stacheldraht und fünf Checkpoints. PalästinenserInnen und AusländerInnen werden nur mit vom Armeegeheimdienst ausgestellten Spezialbewilligungen zugelassen.

Der mukhabarat, der Armeegeheimdienst, patrouilliert die Straßen und hat unzählige InformantInnen rekrutiert. In Nahr al-Bared herrscht eine Atmosphäre der Angst. Die Leute vermeiden es, öffentlich und ausführlich über sensible Themen wie den libanesischen Staat oder dessen Sicherheitsapparat zu sprechen. Vor allem Frauen werden rekrutiert. Ihre Dienste werden meist mit Telefonkarten vergolten. Andere InformantInnen genießen praktische Vorteile wie leichteren Zugang zum Camp. Eine Sozialarbeiterin, die nicht identifiziert werden will, sagt: „Es ist als hätten sie der Gesellschaft einen Virus implantiert, den man kaum mehr los wird.“ Unter Armeekontrolle lebend und in Abwesenheit eines eigenen Sicherheitskomitees sind die EinwohnerInnen Nahr al-Bareds nicht fähig, etwas gegen die InformantInnen und die Infiltration ihrer Gesellschaft zu unternehmen.

Die Kontrolle der Armee über den Alltag „führt dazu, dass manche Leute irgendwann ausrasten werden,“ sagt Sakher Sha'ar, ein Coiffeur in der Hauptstraße Nahr al-Bareds. „Wieso behandeln sie uns derart? Wieso behandeln sie uns nicht wie die EinwohnerInnen der umliegenden libanesischen Dörfer? Wir sind nicht ihre Feinde!“ Viele Flüchtlinge erinnern sich an die sogenannte palästinensische Revolution Ende der 60er-Jahre, welche eine Reaktion auf die jahrzehntelange Unterdrückung durch den damaligen Armeegeheimdienst, das deuxième bureau, darstellte. Der Aufstand begann in Nahr al-Bared.

Vor einigen Monaten errichteten die ISF am nördlichen Ende Nahr al-Bareds einen Polizeiposten. Der PLO-Delegierte Marwan Abdulal begrüßt Schritte, welche die Militärzone in ein ziviles Gebiet zurück verwandeln. Er weist aber auf das Problem hin, „dass die Armee präsent blieb, als die ISF hereinkamen.“ In der Tat haben die ISF im Camp gegenwärtig praktisch keine Funktion. Die Armee ist es, welche die Leute kontrolliert, einschüchtert und verhaftet.

Das libanesische Innenministerium scheint unsicher zu sein, wie die ISF in Nahr al-Bared künftig das Gesetz durchsetzen sollen. „Sie müssten das ganze Camp verhaften,“ sagt der Journalist Amr Saededine. „PalästinenserInnen dürfen kein Eigentum besitzen, in vielen Berufen nicht arbeiten, keinen Laden öffnen, keine NGO gründen usw.“ Ernsthafter Rechtsvollzug in den Flüchtlingslagern durch die ISF bedürfte unweigerlich einer fundamentalen Reform des diskriminierenden libanesischen Gesetzes.

Unter libanesischem Recht werden PalästinenserInnen bislang als staatenlose AusländerInnen betrachtet. Während sie in manchen Berufen gar nicht arbeiten dürfen, benötigen andere eine Arbeitsbewilligung, welche kaum zu kriegen ist. PalästinenserInnen profitieren vom libanesischen Sozialversicherungssystem nicht und es ist ihnen untersagt, Eigentum zu besitzen oder zu erben. Die Flüchtlinge haben zudem keinen Zugang zum libanesischen Gesundheits- und Schulsystem. Sie leiden unter zahlreichen Restriktionen wie bspw. jene betreffend des Häuserbaus.

In Nahr al-Bared geht es nicht bloß um künftige Sicherheitsmechanismen, sondern letztlich auch um die politische Steuerung des Camps. Die PLO hat die Notwendigkeit einer Reform des Volkskomitees realisiert. Abdulal schlägt eine zivile Körperschaft ähnlich einer Gemeindeverwaltung vor, die aus den verschiedenen Parteien und RepräsentantInnen der Zivilgesellschaft besteht.

Was interne Sicherheit angeht, insistiert die PLO auf Selbstverwaltung, um der Absicht der libanesischen Regierung zu entgegnen, community policing einzuführen. Mit Verweis auf das erfolgreiche Modell, welches in Syrien angewandt wird, sagt Abdulal, dass es in Nahr al-Bared eine palästinensische Polizei geben soll, welche dem Volkskomitee angeschlossen ist und mit den ISF koordiniert, während letztere außerhalb des Flüchtlingslagers bleiben.

Ein ähnliches Modell wird bislang auf informeller Basis in den meisten palästinensischen Camps im Libanon praktiziert. Deren Sicherheitskomitees koordinieren mit den libanesischen Behörden und haben dem Staat in verschiedenen Fällen Verdächtigte ausgehändigt. Amr Saededine findet, ein seriöser Versuch, die Themen der Steuerung der Camps und der internen Sicherheit anzugehen, müsste sich zwingend daran orientieren, wie die Gesellschaft ihre Probleme bislang selbst zu lösen pflegte. „Aber einfach so das angelsächsische Konzept des community policing mit einem Fallschirm auf das Camp abzuwerfen, ist irrational.“

Nachdem einige libanesische Medien neulich über einen Blendgranaten-Anschlag im Rashidiyeh Camp im Südlibanon berichteten, beschuldigte sie der Fatah-Vertreter Sultan Abu al-Aynayn, diesen Konflikt zwischen zwei Personen aufzublähen und ihn darzustellen als hätte er eine politische und sicherheitsrelevante Dimension. Er argumentierte, dass dieser konstante Fokus auf PalästinenserInnen als Sicherheitsproblem deren legitime Forderung nach zivilen und sozialen Rechten verdecke.

Für Abdulal ist klar, „es ist unmöglich nationale Sicherheit (state security) im Libanon zu erreichen, ohne den PalästinenserInnen menschliche Sicherheit (human security) zu garantieren. „Es muss ein allgemeines Gefühl von Sicherheit unter den PalästinenserInnen geschaffen werden und zwar im politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sinn.“

Im Libanon werden PalästinenserInnen noch immer einzig unter dem Aspekt ihres Gefahrenpotentials betrachtet. In Nahr al-Bared hat die Regierung ihrer Armee erlaubt, eine maßgebliche Rolle im Wiederaufbau-Projekt zu spielen. Sie hat keinerlei Willen gezeigt, die Behandlung der palästinensischen Flüchtlinge durch den Staat zu revidieren und ihre rechtliche Diskriminierung nach mehr als 60-jähriger Präsenz aufzugeben. Gegenwärtige Entwicklungen im Versuchslabor namens Nahr al-Bared deuten eher auf ein einseitiges Aufzwingen direkter Kontrolle über die PalästinenserInnen hin als auf eine „beidseitig nutzbringende Partnerschaft“ zwischen den PalästinenserInnen und ihrem Gastland.


Dieser Bericht wurde von Ray Smith verfasst. Er ist freischaffender Journalist und dokumentiert seit zweieinhalb Jahren die Entwicklungen im Flüchtlingslager Nahr al-Bared. Die englische Originalversion des Beitrags wurde von IPS Inter Press Service veröffentlicht.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...