22.10.2014
Leben unter dem „Islamischen Staat" - eine Stimme aus Mohassan
Plakat in Deir ez-Zor, 2007: "Unser Ziel ist die Sicherheit Syriens - wir sind alle mit Dir, Bashar". Beide Aussagen sind ad absurdum geführt. Bild: Simon Welte.
Plakat in Deir ez-Zor, 2007: "Unser Ziel ist die Sicherheit Syriens - wir sind alle mit Dir, Bashar". Beide Aussagen sind ad absurdum geführt. Bild: Simon Welte.

Der „Islamische Staat" (IS) und seine Gräueltaten gegen Minderheiten und Andersdenkende sind in aller Munde. Die Frage, wie die Menschen vor Ort die neuen Herrscher wahrnehmen, steht dabei häufig nur am Rande. Wir haben einen Syrer gefragt, dessen Heimatstadt vor vier Monaten von IS eingenommen wurde. Überraschende Ansichten aus Mohassan.

Mohassan ist eine Kleinstadt mit etwa 10.000 Einwohner_innen; sie liegt am Euphrat im Nordosten Syriens, in der Nähe der Provinzhauptstadt Deir ez-Zor. Den Kontakt zu Said (Name verändert), Ende 20 und Physiklehrer, hat für uns ein in Deutschland lebender syrischer Freund hergestellt, der ebenfalls aus Mohassan stammt. Said hat den Einmarsch des IS (auch bekannt als Daesch oder ISIL) in Mohassan am 20. Juni 2014 miterlebt und beschreibt für uns die Situation und den Alltag vor Ort.

Wir kennen Said nicht persönlich und wissen nicht, ob und wenn ja, wie er mit dem IS in Verbindung steht, und welchen Einfluss der IS gegebenenfalls auf seine Antworten zu unseren Fragen genommen hat. Dennoch wollen wir seinen auch für uns überraschenden Aussagen hier ein Forum bieten, weil sie eine Innensicht zu einem aktuell viel diskutierten Thema bieten. Durch Gespräche mit anderen Syrer_innen im Umfeld von Said und des in Deutschland lebenden syrischen Freundes gehen wir davon aus, dass diese Aussagen die Sichtweise vieler in Mohassan lebender Syrer_inenn widerspiegelt.

 Ein verschlafenes Städtchen im Osten Syriens. Muhassan im Februar 2007: Ein verschlafenes Städtchen im Osten Syriens. Bild: Simon Welte.

Dass es in Syrien (viele) Menschen mit anderen, deutlich kritischeren Meinungen zum Verhalten und zur Präsenz des IS gibt, haben wir unter anderem bei der Alsharq-Veranstaltung zum IS (mit Video) am 25. September 2014 in Berlin gesehen. Auf Alsharq folgen in den kommenden Wochen weitere Innenansichten.

Alsharq: Wann genau hat der IS die Stadt Mohassan eingenommen?

Der IS hat die Stadt Mohassan und die benachbarten Dörfer am 20. Juni 2014 ohne Waffengewalt eingenommen.

Wer hat die Stadt vorher kontrolliert?

Zuvor hatte die Freie Syrische Armee (FSA) die Kontrolle über die Stadt inne. Die FSA ist eine Gruppe von Kampfeinheiten, jede Gruppe hat ihren eigenen Führer und ihre eigenen Unterstützer. Um ihren eigenen Vorteilen gerecht zu werden, haben diese Kampfeinheiten bislang ihre Aktivitäten koordiniert, unabhängig davon, ob es für uns Menschen hilfreich ist oder nicht.

Wie haben die Menschen in Mohassan auf die Veränderungen reagiert?

Die Menschen waren zunächst entsetzt und hatten Angst. Manche sind bereits vor oder während des Einmarschs des IS geflohen, da sie annahmen, getötet zu werden. Die IS-Mitglieder sind jedoch in Frieden gekommen und haben den Menschen vor Ort erklärt, dass sie sie unterstützen wollen und die bestrafen wollen, die die Revolution ruiniert haben. Mittlerweile ist die Situation gut und die Menschen sind froh, ihren Alltag friedlich verbringen zu können. Es ist ihnen auch möglich, jederzeit zu verreisen. Sie können sogar Mohassan in Richtung türkische Grenze verlassen, ohne Angst vor gefährlichen Banden auf dem Weg, von denen es während der Besatzung durch die FSA viele gab.

Sind die Menschen, die im Namen des IS in Mohassan handeln, überwiegend syrische Staatsbürger oder kommen sie aus anderen Ländern? Und aus welchen Ländern kommen sie genau?

Es gibt Menschen verschiedener Nationalitäten in Mohassan. Unter dem Mantel des IS koordiniert, hat jede Gruppe ihre eigenen Aufgaben. Der IS rekrutiert immer noch gebildete Menschen und Expert_innen um das Leben in Mohassan zu organisieren. Da die IS-Mitglieder aus verschiedenen Ländern kommen wie Saudi-Arabien, Ägypten, Marokko, Algerien, Tunesien, und da auch viele andere Mitglieder aus nicht-arabischen Ländern stammen und sich an den Kämpfen beteiligen, ist die Kommunikation untereinander schwierig; das gleiche gilt für die Einprägung des Koran und der sunnitischen Regeln des Propheten. Daher ist es wahrscheinlicher, dass die lokalen Führer des IS syrische Staatsbürger sind.

Gibt es so etwas wie eine Scharia-Polizei in Mohassan? Und wenn ja, was kontrollieren Sie?

Ja, es gibt Scharia-Polizisten, die mit ihren Autos auf Streife sind und sicherstellen, dass die islamische Scharia auch Anwendung findet. Wenn zum Beispiel eine Person beim Rauchen erwischt wird, wird sie angehalten und ihr gesagt, dass Rauchen gegen das Gesetz der Scharia verstößt. Sie beschlagnahmen die Zigaretten der Person und lassen sie dann gehen. Im Gegensatz zur FSA gelang es dem IS, viele Zivilisten zu entwaffnen, die ihre Waffen zur Abschreckung anderer benutzt hatten.

Und finden Bestrafungen in der Öffentlichkeit statt?

Der IS führt keine Bestrafungen in der Öffentlichkeit durch, solange diese nicht per Gericht verfügt worden sind. Öffentliche Bestrafungen werden unter bestimmten Umständen und nach den Regeln der Scharia betrieben. Für gewöhnlich führen sie öffentliche Bestrafungen dann durch, wenn sie anderen Menschen beibringen wollen, die Gesetzte einzuhalten und Handlungen zu vermeiden, die nach der Scharia verboten sind. Zum Beispiel gab es den Fall, dass ein verheirateter Mann ein Verhältnis mit einer Krankenschwester hatte. Er wurde dann verurteilt und öffentlich bestraft, nachdem er die Tat gestanden hatte. Diese Bestrafung findet Anwendung nach einem Geständnis, das entweder ohne den Druck anderer selbst abgelegt wurde oder durch die Darlegung von Beweisen durch Zeugen. Die islamische Scharia agiert, wie jede andere Staatsgewalt, gerecht und setzt sich für eine faire Bestrafung ein, nachdem ein Verbrechen begangen wurde. Gemäß der Scharia ist die Bestrafung für Ehebruch entweder öffentliche Steinigung oder öffentliches Auspeitschen.

Inwiefern hat sich das Leben der Frauen durch den IS verändert?

Die Frauen gehen ihrem normalen Alltag nach. Sie gehen auf den Markt, zur Universität, zur Schule und sie reisen auch. Es ist jedoch grundsätzlich empfehlenswert, dass sie von einem Familienmitglied begleitet werden, um potenziellen Belästigungen vorzubeugen. Frauenangelegenheiten sind ein sehr sensibles Thema in unserer Gesellschaft. Eine Frau ist so bedeutend, dass sie als „heilig“ bezeichnet werden kann und sollte dementsprechend respektiert werden. Es versteht sich von selbst, dass durch die Präsenz des IS und deren Behörden niemand versuchen würde, eine Frau zu stören oder zu belästigen, da in solchen Fällen die Bestrafung gemäß der islamischen Scharia angewendet werden müsste.

Zahlt der IS die Gehälter von Lehrer_innen und anderen öffentlichen Angestellten, die zuvor vom syrischen Staat bezahlt wurden?

Der IS zahlt nur den Personen ein Gehalt, die im Gegenzug auch tatsächlich arbeiten, und für niemanden sonst. Menschen, die einfach nur in ihren Häusern sitzen, werden nicht bezahlt, weil dies gegen die islamische Scharia ist. Menschen werden gemäß ihrer verrichteten Arbeit bezahlt. Die Mitarbeiter_innen, die im Bereich Stromversorgung und Öl arbeiten, werden durch den IS bezahlt, wenn ihnen ihre offiziellen Jobs gekündigt wurden. Der IS befindet sich noch im Aufbau und es ist ihm nicht möglich, all die Dinge wieder aufzubauen, die in den letzten Monaten zerstört wurden. Sogar größere Staaten hätten Schwierigkeiten mit dem Wiederaufbau unter diesen Umständen.

Gibt es eine Art von militärischem Widerstand gegen den IS in Mohassan?

Es gibt keine Soldaten mehr, die für die FSA arbeiten. Denen, die gegen den IS gekämpft hatten, wurde vergeben. Ihnen wurde sogar frei gestellt, entweder ihre Waffen abzugeben oder an einem anderen Ort gegen das syrische Regime zu kämpfen. Ein paar Soldaten der FSA kämpfen auf der Flughafenstraße noch immer gegen das Regime. Sie bekommen den vollen Zugang zu Verpflegung, Geld und Treibstoff durch den IS. Andere Soldaten haben ihre Waffen abgegeben, sind in die Türkei gegangen oder haben aufgehört zu kämpfen, um zuhause zu bleiben.

Wie denkst und fühlst Du über Deine Stadt, die nun unter der Kontrolle des IS ist, im Vergleich zu anderen Gruppierungen im syrischen Konflikt?

Ich bin glücklich und entspannt. Die Situation in Mohassan ist besser. Ich war eine der Personen, die in den letzten Jahren während der Revolution versucht hatten, die Region zu organisieren und die FSA unter einer Führung zusammenzuführen, bevor der IS gekommen ist. Die Führungspersonen der FSA waren jedoch gegen eine Zusammenführung, da die Mehrheit derer „autoritäre Liebhaber“ und Rohstoffdiebe sind.

Wie ist die momentane Situation in Mohassan, was die Versorgung mit Nahrung, Strom und anderen Rohstoffen angeht?

Es gibt kein Elektrizitätsproblem in Mohassan, weil die Stadt reich an Erdöl und natürlichem Gas ist. Das Regime kann weder die Stromversorgung stoppen, noch die Stadt zerstören, da Mohassan die einzige Stadt ist, die das Regime mit Treibstoff für die Erzeugung von Strom versorgt. Gottseidank müssen wir uns aus mehreren Gründen nicht über Essen Gedanken machen. Zum einen befindet sich der Euphrat in unmittelbarer Nähe zu Mohassan, welcher die Ernte mit ausreichend Wasser versorgt. Des Weiteren arbeiten die meisten Menschen aus Mohassan im Ackerbau und in der Landwirtschaft. Hinzu kommt, dass es ausreichend Treibstoff gibt. Außerdem können die Menschen aus Mohassan ihre Waren handeln, da die Straßen in Gebiete, die unter Kontrolle des syrischen Regimes stehen, in die Türkei und in den Irak offen sind.  Man kann zusammenfassend sagen, dass die Situation in Mohassan, Deir Ez-Zour und anderen Gebieten unter Kontrolle des IS hervorragend ist.

 Simon Welte. Die Euphrat, hier bei Dura Europos (arabisch Qalat al-Salihiyeh), sichert der Region die Wasserversorgung und ermöglicht intensive Landwirtschaft. Foto: Simon Welte.

Was genau ist seit dem Umbruch in Syrien in Mohassan passiert? Waren viele Menschen in die Demonstrationen und Kämpfe involviert? Und falls ja, was machen Sie heute?

Seit Beginn der Revolution am 25. März 2011 begannen viele junge Männer und Frauen in Deir ez-Zor zu demonstrieren. Eine große Zahl dieser Demonstranten war aus Mohassan, hat aber in Deir ez-Zor gewohnt. Am 25. April 2011 gab es dann die erste Demonstration in Mohassan. Die Einwohner Mohassans waren die ersten, die zu den Waffen griffen und ein Bataillon unter dem Namen Omar Ibn Al Khattab gründeten. Ihr Ziel war, das Regime zu bekämpfen, das Waffengewalt gegen die Demonstranten eingesetzt hatte. Am 11. Juni 2012 wurde das Regime vollständig aus Mohassan verdrängt. Den Demonstranten, die mittlerweile Soldaten sind, gelang es, ein MIG-Kampflugzeug vollständig zu zerstören, nachdem es eine der Moscheen in Mohassan bombardiert hatte. Es gab rund 8.000 Soldaten in Mohassan, 500 wurden getötet, einige verletzt. Andere haben aufgehört zu kämpfen, eine Gruppe ist nach Europa gegangen und der Rest kämpft immer noch. Die Soldaten aus Mohassan sind in allen Gebieten des IS präsent.

Gab es Widerstand in Mohassan, als der IS versucht hat, die Stadt einzunehmen?

Mit der Ankunft des IS in nähergelegene Gebiete von Mohassan sind manche Menschen losgezogen, um zu kämpfen. Der IS hatte Botschafter vorgeschickt, um diesen Menschen zu erklären, dass sie gegen das Regime kämpften und dass die Widerstandskämpfer sie daran hinderten, ihre Mission zu erfüllen.  Manche Dörfer und Städte haben versucht, Widerstand zu leisten, jedoch ohne Erfolg, denn die Soldaten des IS sind sehr gut organisiert und sie kämpfen für ihren Glauben. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Gott sie unterstützen wird im Kampf gegen Bashar Al-Assad und seine Verbündeten, die diese schlimmen Verbrechen gegen die syrische Nation begangen haben.

Die ganze Welt hat die leidenden Syrer_innen ignoriert und die Revolution für Freiheit und Würde als Bürgerkrieg betrachtet. Auf der anderen Seite hat der IS versucht, die islamische Scharia auf den von ihm besetzten Gebieten anzuwenden. Es war mehr als einfach für den IS, die Stadt Mohassan einzunehmen, nachdem die umliegenden Gegenden bereits unter seiner Kontrolle waren. Es ist anzumerken, dass der IS immer versucht hat, Botschafter vorauszusenden mit der Nachricht: „Wir sind Eure Brüder! Wir wollen das Blut keines Muslims vergießen. Kämpft nicht gegen uns. Macht Euch keine Sorgen, auch wenn Ihr bereits hunderte Menschen von uns getötet habt, denn wir wissen, dass Ihr getäuscht wurdet.“ Die Einwohner_innen Mohassans sind gebildet und haben die Verschwörung gegen den IS verstanden, denn er ist vertrauenswürdig und hat bereits Soldaten aus Mohassan.

Mohassan befindet sich vom IS kontrollierten Osten Syriens, wenige Kilometer südlich von Deir ez-Zor. Mohassan befindet sich im vom IS kontrollierten Osten Syriens, wenige Kilometer südlich von Deir ez-Zor. Grafik: Thomas von Linge.

Hat der IS irgendwelche langfristigen Projekte oder Ideen verkündet, wie die Zukunft aussehen könnte?

Wir müssen uns für Gerechtigkeit einsetzen, in Solidarität mit den Unterdrückten sein und die Nation befreien, die vor den Augen der ganzen Welt abgeschlachtet wurde. Der IS versucht, seine Gebiete zu organisieren, gegen Korruption zu kämpfen und religiöse Camps vorzubereiten, sodass Gott ihn gegen das Regime unterstützen wird. Wir müssen uns zusammentun unter einer gemeinsamen Führung und das „Heilige Land“ Damaskus von dem Regime Bashar Al-Assads und Irans befreien und weiter an der Befreiung der ganzen Welt arbeiten.

Sind nach dem Einmarsch des IS in Mohassan auch nicht-sunnitische Muslime zurückgeblieben?

In Mohassan nicht, alle Bewohner in Deir ez-Zor und Umgebung sind Muslime. Syrer_innen haben für mehr als drei Jahre auf die ganze Welt gewartet, um sie von den Verbrechen der Syrischen Regierung und Bashar Al-Assad zu befreien. Sie haben alle notwendigen Informationen und Beweise öffentlich gemacht, welche die schlimmen Verbrechen, die Bashar Al-Assad und seine Regierung gegen die Bürger_innen unternommen hat, verurteilen. Aber die ganze Welt mit all ihren Regeln und dem Veto gaben dem kaltblütigen Bashar Al-Assad die Chance, seine Bürger_innen mit den schlimmsten Mitteln abzuschlachten, auch mit denen, die international verboten sind. Bedauerlicherweise sind aus dem Blut der Syrer_innen nun reine Zahlen in der internationalen Presse geworden. Als eine Folge dessen ist es uns Syrer_innen egal, wer uns retten wird, ob IS oder Satan.