05.12.2015
Kaum eine Wahl: Ägyptens Parlamentswahlen zementieren die autokratische Ordnung
Stimmabgabe in Shubra. Photo: Nehal el-Sherif/Flickr (https://www.flickr.com/photos/nelsherif/7380143392/, CC BY-ND 2.0)
Stimmabgabe in Shubra. Photo: Nehal el-Sherif/Flickr (https://www.flickr.com/photos/nelsherif/7380143392/, CC BY-ND 2.0)

Ägypten hat schon wieder gewählt. Während Regierungsvertreter und das politische Establishment den mittlerweile achten Urnengang seit dem Sturz des Mubarak-Regimes als abschließenden Schritt zu einer stabilen und demokratischen Ordnung deuten, erreicht das Wahlergebnis tatsächlich kaum mehr, als eine Zementierung des autoritären Status quo. Von Jannis Grimm

Bereits im Kontext der Parlamentswahlen 2005 machte ein Witz in Ägypten die Runde, in dem ein Mann während der Wahlen die Augenarztpraxis betritt. Vom Augenarztarzt nach dem Grund seines Besuchs gefragt, schildert er diesem sein Leid: „Wissen Sie, Herr Doktor, etwas scheint mit meiner Sehkraft nicht in Ordnung zu sein, denn alle Kandidaten für das Parlament sehen für mich gleich aus.“ Darauf der Arzt: „Ich verstehe. Dann bleiben Sie lieber ein paar Tage im Bett, bevor Sie am Ende noch falsch wählen.“

Auch die aktuellen Parlamentswahlen, die diese Woche in ihre letzte Runde gingen, wären eine ebenso steile Vorlage für Kabarettisten gewesen – stünde die Berichterstattung nicht unter so strenger Zensur. Die ersten legislativen Wahlen seitdem Präsident Abdel Fattah al-Sisi in einem Militärputsch die Macht im Land übernommen hat, sind gleichzeitig der achte Wahlgang seit dem Sturz des Mubarak-Regimes. Drei Verfassungsreferenden im März 2011, Dezember 2012 und Januar 2014, zwei Abgeordnetenhauswahlen zur ägyptischen Volksversammlung und zum Schura-Rat von November bis Februar 2012, und zwei Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2012 und 2014 gehen ihnen voraus.

Formales Ende der Roadmap

Im Zuge dieser Urnengänge sank die Wahlbeteiligung stetig. Immer wieder – insgesamt fünf Mal – waren die Abstimmungen im Vorfeld aufgrund von Verfahrensfehlern und juristischer Streitigkeiten verschoben worden. Teils wurde dies mit Unzulänglichkeiten im Wahlgesetz und bei der Verteilung der Wahlkreise, teils mit der instabilen innenpolitischen Situation begründet.

Nachdem das Verfassungsgericht jedem weiteren Aufschub dieses Mal einen Riegel vorschob, fand der Urnengang schließlich mehr als zwei Jahre nach dem ursprünglich angesetzten Termin im Frühjahr 2013 statt: Gewählt wurde zwischen Mitte Oktober und Mitte November 2015 in mehreren Etappen, die letzten Stichwahlen fanden am 2. Dezember statt. Gestern verkündete die Nationale Wahlkommission dann das vorläufige Ergebnis für die einzelnen Wahlkreise – das tatsächlich keine Überraschung mehr war. Eine Visualisierung der Stimmverteilung bietet das Tahrir Institute for Middle East Policy.

Offiziell schloss die Wahl damit die „Roadmap“ des ägyptischen Militärs ab. Diese Roadmap wurde von Al-Sisi, damals noch in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der Streitkräfte, nach dem Sturz seines Vorgängers im Präsidialamt Muhammad Mursi im Juli 2013 verkündet. Neben der Verabschiedung einer neuen Verfassung und raschen Präsidentschaftswahlen hatte sie als dritten und letzten „Meilenstein“ auf dem Weg zu einer zivil-demokratischen politischen Ordnung die Abhaltung von Parlamentswahlen vorgesehen.

Längst ist dieser „Fahrplan“ allerdings zur legitimatorischen Fassade verkommen, um der Restaurierung autokratischer Strukturen einen demokratischen Anstrich zu verleihen. Nicht nur wurden einige seiner Komponenten wie etwa der zivilgesellschaftliche Versöhnungsprozess zugunsten eines weiter polarisierenden „Kriegs gegen den Terror“ aufgegeben. Auch die staatlichen Institutionen kommen den ihnen zugedachten demokratischen Funktionen längst nicht nach. So beschreibt die Pointe des obenstehenden Witzes die traurige Realität der ägyptischen Verfassungswirklichkeit, in der das Volk kaum eine Wahl hat, durch wen es regiert wird. Das neugewählte Einkammerparlament wird hieran aufgrund seiner abhängigen Stellung im Institutionengefüge kaum etwas ändern können. Ebenso bleibt zu bezweifeln, ob es überhaupt willens wäre, die ihm per Verfassung angetraute Kontrollfunktionen gegenüber der Regierung auch auszuüben.

Erfolg der Claqueure

Die absolute Mehrheit der Parlamentssitze (nach ersten Hochrechnungen 324 von 596) ging an unabhängige Kandidaten, die nicht unter dem Dach einer Wahlkoalition angetreten waren und sich wohl auch zukünftig nicht in einem gemeinsamen parlamentarischen Block organisieren werden. Die Zusammensetzung dieser Kandidaten spiegelt die Klientelnetzwerke wieder, die weite Teile des Landes durchziehen. Sie ermöglichen vor allem gut situierten und gut vernetzten Geschäftsleuten und ehemaligen NDP-Parteifunktionären ein politisches Amt. An diesem Status quo etwas zu ändern, dürfte wohl kaum in ihrem Interesse liegen.

Viele Kandidaten, die in das neue ägyptische Parlament einziehen, haben zudem ihre regimetreuen Absichten bereits offen erklärt: Sie wollen eine Volkskammer schaffen, die den Präsidenten stützt. Dabei nehmen sie seine Absicht in Kauf, das Parlament konstitutionell abzuwerten. Bereits im Mai 2015 hatte Präsident Sisi die Führer der größten ägyptischen Parteien dazu aufgerufen, eine Einheitsliste zu formen, um der „Fragmentierung der Nation“ entgegenzuwirken. Kamal Al-Ganzouri, ehemaliger Premierminister unter Mubarak und dem SCAF (Obersten Militärrat), hatte sich daraufhin zunächst erfolglos um die Bildung einer solchen Koalition bemüht. Letztlich macht die Zusammensetzung der neuen Volksversammlung jedoch den mittelfristigen Erfolg dieser Anstrengungen klar: Außer der salafistischen Nour-Partei traten alle größeren Parteien in gemeinsamen Wahlkoalitionen an. Hiervon bekannten sich einige bereits im Vorfeld der Wahlen deutlich zum amtierenden Präsidenten und profitierten infolge von höherer medialer Aufmerksamkeit.

Selbst wenn die Stimmabgabe in dutzenden Wahlkreisen aufgrund juristischer Bedenken wiederholt werden müssen, ist eines klar: Am Gesamtergebnis ist wohl kaum mehr zu rütteln. Größter Profiteur war die Liste Fi Hub Misr („Aus Liebe zu Ägypten“), ein Zusammenschluss aus zehn Parteien, deren patriotische Namensgebung kaum einen Hehl aus ihrer Regimetreue macht. Bereits im Vorfeld der Wahl hatte ihr Koordinator Sameh Seif Al-Yazal, ehemaliger Generalmajor der ägyptischen Armee, das oberste Ziel der Koalition mit den Worten umrissen, „als Verstärkung für Al-Sisi im kommenden Parlament zu agieren.“ Schon bei der Auswahl ihrer Listenkandidaten kooperierte die Koalition daraufhin eng mit den Behörden – offiziell um Mitglieder der Muslimbruderschaft aus den eigenen Reihen auszusondern. Es überrascht vor diesem Hintergrund kaum, dass sich das Führungspersonal der formal unabhängigen Koalition zum Großteil aus ehemaligen Mitgliedern von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei (NDP) und Kritikern der 25. Januar-Revolution zusammensetzt.

Monopolstellung des Pro-Sisi Blocks

Frappierend ist allerdings ihr ungeheurer Wahlerfolg: Letztlich stellt Fi Hub Misr den größten kohärenten Block im Parlament: Die 120 Parlamentssitze, die landesweit an Parteilisten ausgeschriebenen waren (ca. 23 Prozent der gesamten Sitze im Abgeordnetenhaus), gingen allesamt an die Allianz. Und auch unter den übrigen 448 Parlamentssitze für individuelle Kandidaten stellen ihre Vertreter*innen die Mehrheit. Dabei haben insbesondere die drei führenden und einflussreichsten Parteien in der regimefreundlichen Koalition einen großen Teil der Stimmen auf sich vereinigt: So gewann Mustaqbal Watan („Zukunft des Heimatlands“) unter Führung des Sisi-Protegés Mohamed Badran letztlich in 50 der 200 Wahlkreise, in denen sie Kandidaten aufgestellt hatte (8 Parteimandate, 42 Einzelmandate). Die traditionsreichen Wafd-Partei kam landesweit auf 33 Mandate (8 Parteisitze, 25 Einzelmandate). Und Al-Masriyin al-Ahrar („Die Freien Ägypter“), die ressourcenreiche Partei des Wirtschaftsmagnaten Naguib Sawiris, konnte mit 65 Sitzen (8 Parteisitze, 57 Einzelmandate) die relative Mehrheit der Mandate für Parteilisten auf sich vereinen. Auch die Parteineugründung Humat al-Watan („Schützer des Vaterlands“) zog mit 17 Kandidaten ins Abgeordnetenhaus ein (8 Parteimandate, 9 Einzelkandidaten).

Das politische Gewicht von Fi Hub Misr ist damit schon jetzt gewaltig. Sollte es der Allianz zudem noch gelingen, gemeinsam mit regimetreuen Einzelkandidaten eine stabile Zweidrittelmehrheit im Abgeordnetenhaus zu schmieden (wie direkt nach dem letzten Wahlgang angekündigt), so kommt dies einer faktischen Monopolstellung des Pro-Sisi Blocks im neuen Parlament gleich.

Jenseits von Fi Hub Misr konnten ebenfalls nur nationalistische und regimefreundliche Parteien und Parteikoalitionen echte Erfolge verbuchen: Die „Republikanische Volkspartei“, die ihr Personal fast ausschließlich aus ehemaligen NDP-Funktionären, Mitarbeitern der Sicherheitsdienste und Judikative rekrutierte, stellt nach derzeitigem Stand mindestens 13 Abgeordnete. Die „Demokratische Friedenspartei“, inoffizieller Nachfolger von Mubaraks NDP, errang derweil 5 Sitze.

Keine parlamentarische Opposition

Die nationalistische Misr („Ägypten“)-Liste der Parteizusammenschlüsse Tayyar al-Istiqlal („Unabhängige Bewegung“) und Al-Gabha al-Misriya („Ägyptische Front“), die vor den Wahlen als größter Konkurrent von Fi Hub Misr gehandelt wurde, schnitt dagegen mager ab. Sie ergänzt dennoch die Ränge der Konterrevolutionäre im Parlament. Durch den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten und Luftwaffenoffizier Ahmed Shafiq ins Leben gerufen, war sie im Vorfeld der Wahlen offensiv als Partei des konservativen Establishments aufgetreten. Dies hatte ihr den Rufnamen „Präsidentenunterstützter-Liste“ eingebracht. Nach fehlgeschlagenen Koalitionsverhandlungen mit Fi Hub Misr gelang ihren Kernparteien Al-Haraka al-Wataniya („Nationale Bewegung“, 4 Sitze) und Misr Balady („Ägypten mein Heimatland“, 3 Sitze) zumindest der Einzug ins Parlament.

Eine parlamentarische Opposition kommt so nicht zustande, zumal noch weitere 28 Repräsentanten ohnehin durch den Präsidenten direkt bestimmt werden.

Die islamistischen Strömungen des Landes waren in den Wahlen nur vereinzelt durch unabhängige Kandidaten oder individuell kandidierende Funktionäre der Nour-Partei vertreten, nachdem die Muslimbruderschaft bereits für illegal und ihre Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ verboten wurde. Diese Strömungen sind im neuen Parlament praktisch inexistent, und das, obwohl sie einen substantiellen Teil der ägyptischen Bevölkerung ausmachen: In den letzten Parlamentswahlen hatten sie gemeinsam noch knapp zwei Drittel aller Stimmen auf sich vereint; in den jetzigen kam die Nour-Partei dagegen gerade einmal auf 11 Sitze (von vormals 112).

Die salafistische Partei hatte nach dem Putsch 2013 an der Seite des Militärregimes Stellung gegen die Muslimbruderschaft bezogen. Infolge dessen war sie nicht nur von Repressionen verschont geblieben, sondern auch als einzige religiöse Partei zu den Wahlen zugelassen worden. Das Regime hegte damit die Hoffnung, die Stimmen der frustrierten Islamisten zu bündeln. Die massiven Stimmeneinbußen legen nun allerdings nahe, dass der Schulterschluss mit der Armee die Legitimität der Nour-Partei in ihrem potentiellen Wählerspektrum massiv untergrub. Die mehreren Millionen Anhänger der großen salafistischen Gemeinschaften blieben der Wahl daher schlichtweg fern, ebenso wie hunderttausende Mitglieder der Muslimbruderschaft und ihr Vielfaches an Unterstützern.

Erfolglos blieben indes auch oppositionelle Parteien des säkularen und sozialliberalen Spektrums, die gemeinsam als „Demokratische Strömung“ in allen Gouvernements des Landes zur Wahl angetreten waren – aufgrund des Wahlboykotts einiger ihrer prominentesten Mitglieder allerdings nicht als geschlossene Liste. Bezeichnenderweise gingen vor allem diejenigen Mitglieder der Koalition leer aus, die nach den Umbrüchen von 2011 im Fokus der europäischen Medienöffentlichen standen: Die ägyptischen Sozialdemokraten konnten gerade einmal vier Mandate auf sich vereinen; Amr Hamzawys liberale „Freiheits“-Partei kommt ebenfalls auf vier Sitze. Al-Tayar Al-Shabiy, die „Ägyptische Volksströmung“ von Hamdin Sabbahi, der als ehemaliger politischer Gefangener Al-Sisis einziger Konkurrent bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen gewesen war, ging dagegen leer aus. Und auch die Adl („Gerechtigkeits“)-Partei, die von Mitgliedern der revolutionären Jugendgruppen „April 6“, Kefaya und „Nationalen Vereinigung für Wandel“ gegründet wurde, konnte nicht ein einziges Mandat erringen.

Vereinzelt mögen individuell gewählte Abgeordnete des Parlaments zwar Sympathien für die Ziele der Aufstände vom Januar 2011 hegen. Eines wird angesichts der Komposition der neuen Legislative aber schon jetzt klar: Ein revolutionärer Wind wird auch in Ägyptens neuem Parlament nicht wehen.

 

Jannis Grimm ist Doktorand an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS) der Freien Universität Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Mikrodynamiken von Protest und staatlichen Repressionen und analysiert den Wandel von Mustern sozialer Mobilisierung in Ägypten. Zuvor arbeitete er an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zur politischen Transformation des Landes.

 

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