Jordanien unterliegt ähnlichen Problemen und Dynamiken wie andere Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, die im Arabischen Frühling und im Zeichen der Grünen Bewegung im Iran zu heftigen Demonstrationen und weitreichender Mobilisierung der Bevölkerung gegen die Regimes geführt haben. Doch die jordanische Revolution blieb bisher aus. Bisher - weitab von der Medienberichterstattung über den Nahen Osten, die in den letzten zwei Jahren vor allem mit Tunesien, Libyen, Ägypten, Syrien, Israel und Palästina beschäftigt war - entwickelt sich auch hier eine explosive Stimmung.
Von Vinzenz Hokema
Premierminister Abdullah Ensour kündigte am Dienstag, dem 13. November 2012 an, die Subventionen für Erdölprodukte wie Treibstoff und Gas zu streichen, was den Preis um 30 bis 50 % in die Höhe schnellen ließ. Innerhalb einer Stunde nach dieser Ankündigung fanden in jeder größeren jordanischen Stadt spontane Demonstrationen statt, die sich in der Nacht und in den nächsten Wochen fortsetzten.
Spontane Demonstrationen in ganz Jordanien
In Amman besetzten mehr als 2000 Demonstranten am ersten Abend der Proteste den zentralen Kreisverehr vor dem Innenministerium und skandierten Parolen gegen die Preiserhöhungen, die Regierung und den König. Die Demonstranten wurden in den frühen Morgenstunden vertrieben und zu Dutzenden verhaftet. In den folgenden Tagen wurden Demonstranten daran gehindert, wieder zum Kreisverkehr zu ziehen und in den Zufahrtsstraßen mit Tränengas und Schlagstöcken bekämpft. Sie setzten Autoreifen in Brand und bewarfen die Gendarmerie mit Steinen. Spontane und mobile Demonstrationen in anderen Stadtteilen verliefen weit friedlicher, es kam jedoch zu Schlägereien, als Regimeunterstützer in Zivil, unbehelligt von den Sicherheitskräften, die Demonstranten angriffen.
In der südjordanischen Stadt Karak wurden ähnliche Forderungen laut, die spontane Demonstration wurde in den Morgenstunden gewalttätig, als zunächst Autoreifen und schließlich ein Gerichtsgebäude abbrannten. Die Regionalverwaltung musste durch die Gendarmerie abgeschirmt werden.
Hunderte Demonstranten in Ma’an, ebenfalls im Süden, verbrannten Reifen und randalierten im Stadtzentrum. Andere errichteten ein Protestzelt, das in der Folge von den Sicherheitskräften geräumt wurde. Das Haus des Premierministers in Salt wurde von Demonstranten belagert, die auch zwei Regierungsfahrzeuge in Brand setzten. Mehrere wichtige Verbindungsstraßen des Landes wurden besetzt.
Die Demonstrationen wurden nach anfänglicher Zurückhaltung der Gendarmerie mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst. Insgesamt nahmen die Sicherheitskräfte weit über 100 Personen fest.Kundgebungen an den folgenden Abenden wurden schon in ihren Anfängen aufgelöst, die Demonstranten setzten Reifen und Mülltonnen in Brand, wurden aber von der Gendarmerie zurückgedrängt. Verhaftete wurden gefoltert und Verletzten wurde medizinische Behandlung versagt. So wurde einem verhafteten Demonstranten durch Prügel der Arm gebrochen, er wurde aber erst mehrere Tage später behandelt, bezeugte seine Mutter bei einer Demonstration der Familien der Verhafteten vor dem Büro des Premierministers Ende November.
Am Freitag nach Ausbruch der Demonstrationen, dem 16.11.2012, fiel die Freitagsdemonstration in der Innenstadt von Amman ungewöhnlich groß aus. Die Kundgebung, sonst meist von den Muslimbrüdern dominiert, zog bis zu 10.000 Demonstranten aller politischer Couleur und Herkunftan.
Die Hauptforderung der Protestierenden war die Rücknahme der Preiserhöhungen. Dazu gesellten sich schnell Forderungen nach dem Rücktritt der erst vier Wochen alten Regierung und nach dem Sturz des jordanischen Königs Abdallah II.. Diese Slogans sind aus dem Arabischen Frühling bekannt, wurden in Jordanien aber bisher nur selten skandiert und nie von einer so breiten Masse der Bevölkerung. Die Demonstranten repräsentierten alle politischen Gruppen, obwohl die wenigsten Parteien offiziell dazu aufriefen. Die Muslimbrüder blieben bei ihrer traditionell versöhnlichen Rolle und lehnten die Forderungen nach dem Sturz des Regimes rundheraus ab, wie auch einige linke und nationalistische Parteien.
Bröckelt die Machtbasis des Königs?
Die Demonstranten sind sowohl Jordanier palästinensischer Abstammung, die als eher regimefern angesehen werden, als auch Jordanier ländlicher Herkunft mit Stammeshintergrund, die als traditionelle Machtbasis des Regimes gelten. Ausgesprochen tribale Gegenden wie Salt und Tafileh waren Schauplatz heftiger und teilweise gewaltvoller Demonstrationen. Das kann als Indiz gesehen werden, dass die traditionelle Machtbasis des Königshauses und des Regimes bröckelt.
Innerhalb von einer Woche flauten die nächtlichen Demonstrationen und die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften ab, nach vier Wochen waren auch die Freitagsdemonstrationen wieder auf gewohnte Größe geschrumpft und eine gewisse Enttäuschung verbreitete sich in Aktivistenkreisen. Ein Blogger und Aktivist der Social Left Party kritisiert, dass die breite Bevölkerungsmasse, also die Familien, die Älteren und die Frauen nicht bereit waren, den Demonstrationen die kritische Masse zu verleihen, mit der die Gendarmerie zurückzudrängen wäre.
Die Aktivistenszene rechnet jedoch mit neuen und weit größeren und heftigeren Demonstrationen für den Fall, dass die Regierung die Subventionen auf die Strompreise streicht.
Hintergrund für die Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise ist die schlechte ökonomische Lage des Landes. Viele Familien und Einzelpersonen leben von minimalen Löhnen, die im Kontrast zu den hohen Lebenshaltungskosten in Jordanien stehen. So können es sich viele junge Männer nicht leisten zu heiraten, da ihnen die Mittel für die Mitgift und einen eigenen Haushalt fehlen. Die Gas- und Benzinpreiserhöhungen kamen zu Beginn des Winters zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt, da die meisten Wohnungen mit Gas- und Kerosinöfen beheizt werden. Der neue Preis für eine Gasflasche liegt statt bei 6 jetzt bei 10 Dinar, umgerechnet 10,70 Euro.
Neoliberale Reformen
Die Vorgängerregierung von Premierminister Fayez al-Tarawneh hatte im vergangenen Jahr beim Internationalen Währungsfonds einen Kredit zum Stopfen des Haushaltslochs beantragt und sich im Gegenzug dazu verpflichtet, neoliberale Wirtschaftreformen wie den Abbau von Subventionen umzusetzen. Diese Politik stößt schon seit Ende der 1980er Jahre auf erbitterten Widerstand der Bevölkerung.
Die Löcher im jordanischen Staatshaushalt sind jedoch weniger auf die lahmende Wirtschaft zurückzuführen als auf die weitverbreitete Korruption und das Verschwinden von großen Beträgen aus dem Staatshaushalt, auf die Vetternwirtschaft und die Unfähigkeit und Bestechlichkeit der Verantwortungsträger. So subventioniert die Regierung verlustreiche Großkonzerne, senkte 2002 den Steuersatz für Großunternehmen und Banken und vergab günstige Konzessionen zum Abbau der jordanischen Bodenschätze an internationale Minenkonzerne, die die Gewinne zu großen Teilen ins Ausland verschieben.
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der wirtschaftlichen Situation in Jordanien scheint weit größer zu sein als die Ablehnung des Königshauses oder des undemokratischen politischen Systems an sich. Die Forderungen nach wirtschaftlicher Besserstellung werden jedoch regelmäßig von politischen Forderungen begleitet, etwa dem Sturz der Regierung. Dass in einigen Demonstrationen im November auch der Sturz des Königs gefordert wurde ist neu und äußerst umstritten. Die Muslimbrüder und die linke und nationalistische Opposition wenden sich gegen diese Forderung, einige Demonstranten und Aktivisten sehen das Ende der politischen Macht des Königshauses aber als einzige Lösung.
Wahlen von Königs Gnaden
Jordanien ist seit 1952 eine konstitutionelle Monarchie mit Gewaltenteilung zwischen Palast, Regierung, Parlament und Justiz. Diese Gewaltenteilung wurde jedoch 1958 durch eine Novellierung der Verfassung wieder aufgehoben. Seitdem hat der König das Recht, die Regierung zu berufen und zu entlassen, das Parlament aufzulösen, die Mitglieder des jordanischen Oberhauses, des Senats zu bestimmen, und hat weitreichenden Einfluss auf die Justiz. Die Regierungsgeschäfte leitet der Premierminister, dieses Amt wurde jedoch in den letzten Jahren mehrmals schon nach wenigen Monaten neu besetzt, um die Reformforderungen der Opposition und der Bevölkerung zu besänftigen.
Das Parlament wird als einziges Verfassungsorgan in Jordanien durch Wahlen bestimmt. Das Wahlrecht wird jedoch von Oppositionellen und Journalisten als äußerst manipulativ charakterisiert, zusätzlich kommt es zu kleineren direkten Wahlfälschungen. Neben dem Recht des Königs, das Parlament jederzeit aufzulösen und Neuwahlen ausrufen zu lassen lässt das darauf schließen dass auch das Parlament unter größtem Einfluss des Königs steht.
Neben aller Kritik am König genießt dieser jedoch auch breite Wertschätzung in der Bevölkerung, einerseits seitens derer, die vom Staat und seinen Institutionen und den Sicherheitsorganen alimentiert werden, andererseits von denen, die ihn als Garant der Stabilität in Jordanien sehen. Die Negativbeispiele der Kämpfe und Bürgerkriege in Syrien, Ägypten und Libyen sind dabei ebenso wichtig wie die Furcht der Linken, Liberalen und Nationalisten vor einer Machtübernahme der Muslimbrüder im Zuge zukünftiger freier Wahlen.
Kritik ist in begrenztem Rahmen möglich
Die Repression im Königreich ist dabei hintergründiger und sanfter als in den umliegenden Staaten, jedoch nicht weniger nachdrücklich. Demonstranten, Oppositionelle und Aktivisten werden verhaftet, gefoltert und schikaniert. Es kam aufgrund von Folter zu Todesfällen. Die jordanischen Bürger mit palästinensischer Herkunft werden mit dem Entzug ihrer jordanischen Staatsbürgerschaft bedroht, was regelmäßig vorkommt. Die ursprünglich jordanische Bevölkerung wird durch Reise- und Berufsverbot und Gefängnis sowie Einschüchterung durch die Geheimdienste unter Kontrolle gehalten. Trotzdem ist Kritik an der Regierung und dem Königshaus in Zeitungen und in Gesprächen möglich, Folter ist weniger stark verbreitet und Haftstrafen sind weniger lang und schwer als beispielsweise in Syrien.
Ende Dezember legte König Abdullah II. sogenannte Diskussionspapiere vor, in denen er darlegte, wie er das Land "Richtung Demokratie" führen wolle. Doch seine Vorschläge blieben vage und beschränkten sich im wesentlichen auf eine Einladung zu einem nationalen Dialog. Oppositionelle äußerten sich skeptisch über die Initiative des Monarchen. Denn nicht zum ersten Mal hat Abdullah eine Reform des politischen Systems in Aussicht gestellt - passiert ist bisher wenig.
In der Vergangenheit kam es zu drei großen Protestbewegungen in Jordanien. Während der ökonomischen Krise 1989 brach der Wert des jordanischen Dinars ein, was König Hussein dazu zwang, IWF-Kredite anzunehmen und die Subventionen von Bedarfsgütern zu streichen. Daraufhin brachen in der südjordanischen, tribal und konservativ geprägten Stadt Ma’an Aufstände aus, die sich schnell ausbreiteten und sich gegen die ökonomische Benachteiligung der ländlichen Gebiete und die Preiserhöhungen richteten. Unruhen wiederholten sich, als der Brotpreis 1996 unerwartet in die Höhe schnellte. Die Proteste und Streiks von Lehrern, Studenten, Beamten und den Hafenarbeitern in Aqaba im Jahr 2010 waren ein erstes Vorzeichen des Arabischen Frühlings. Sie waren auch die Vorbereitung zu den Demonstrationen, die seit Beginn des Jahres 2011 stattfanden und die seither nie ganz zur Ruhe gekommen. Ihre Fortsetzung fanden sie in den Demonstrationen im November 2012.
Die Proteste im Spätherbst 2012 kommen nicht aus dem Nichts. Sie stellen im Gegenteil eine Konstante der jordanischen politischen Landschaft der letzten drei Jahrzehnte dar, in denen die Bevölkerung ihren Problemen und Forderungen nur auf der Straße, aber nicht mittels der offiziellen Institutionen Gehör verschaffen konnte. Das jordanische politische System versucht, dieses System aufrecht zu erhalten, ein Versuch, den der jordanische Linksoppositionelle Khalid Kalaldeh im Alsharq-Interview auf gefährliche Weise scheitern sieht.