06.10.2012
Jordanien und der Arabische Frühling
Von Andreas W., Amman

 

Äußerlich wirkt es, als ob der arabische Frühling an Jordanien spurlos vorbeigegangen ist. In der Tat gab es in den vergangenen beiden Jahren keine Massendemonstrationen, die in ihrer Intensität auch nur ansatzweise mit denen anderer arabischer Staaten zu vergleichen wären. Als auf dem Höhepunkt der Protestwelle im März 2011 ein Demonstrant (vermutlich an den Folgen eines Herzinfarktes) ums Leben kam, war die allgemeine Bestürzung groß.
Dennoch befindet sich Jordanien seit Jahrzehnten am politischen Abgrund, den das haschemitische Königshaus mit einer fein nuancierten Salamitaktik bislang geschickt vermeiden konnte: Immer wenn der Druck der Straße zu groß wurde, reagierte der jeweils herrschende König mit der Entlassung der gesamten Regierungsmannschaft.
Dieses machtpolitische Kalkül ging bislang auf und der Unmut der Bevölkerung richtete sich vor allem gegen die meist von Inkompetenz und Korruption gezeichneten Regierungen. Die Monarchie insgesamt wurde nicht einmal von ihren schärfsten Kritikern in Frage gestellt.
So zynisch es auch klingen mag, aber der Bürgerkrieg in Syrien spielt dem Regime König Abdallahs II. bislang in die Hände und festigt seine Machtposition. Zwar fällt es dem kleinen Land auf politischer und wirtschaftlicher Ebene immer schwerer, mit dem nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom fertig zu werden und angesichts ohnehin düsterer ökonomischer Aussichten und begrenzter Ressourcen nehmen auch die Ressentiments gegenüber den Flüchtlingen zu. Allerdings dient die Gewaltorgie im Nachbarland auch als negatives Fanal und die Furcht, dass auch Jordanien in blutiges Chaos abgleiten könnte, mahnt selbst dezidierte Königskritiker zur Mäßigung.
Denn Potenzial für ethnische Spannungen ist auch in Jordanien zur Genüge vorhanden, aber die haschemitischen Herrscher haben es immer verstanden, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Stämmen herzustellen.
In jüngster Vergangenheit sind die Rufe nach Reformen und die Forderung einer konstitutionellen Monarchie vor allem von Seiten der Islamic Action Front (IAF, politischer Arm der jordanischen Muslimbruderschaft) jedoch immer lauter geworden. Die heutige Demonstration unter dem Titel „Inkath al-watan" („Rette das Vaterland") ist ein weiterer Zug im Spiel um die politische Macht zwischen den Muslimbrüdern und dem König.
„Rettet das Vaterland": Ein Augenzeugenbericht von der Demonstration am 5.10.

Bilder von der Demonstration folgen morgen

Bereits am Donnerstag wurde der Schauplatz der Demonstration, der in Downtown Amman gelegene Nakheel-Platz, von Sicherheitskräften weitläufig abgesperrt. Ausländern wurde die Teilnahme an der Demonstration unter Strafandrohung verboten. Die Maßnahme ist eine direkte Reaktion auf Gerüchte, dass die Veranstalter gezielt geplant hätten, auch irakische und syrische Flüchtlinge für den Demonstrationszug zu mobilisieren. Darauf deutete heute jedoch nichts hin. Die im angekündigten Teilnehmerzahlen von über 50.000 sind meines Erachtens weit verfehlt worden. Dennoch handelte es sich wohl um eine der größten Demonstrationen in Jordanien seit Beginn des arabischen Frühlings. Damit werden auch die mittlerweile regelmäßig nach dem Freitagsgebet in Amman, aber auch anderen urbanen Zentren wie Irbid und Karak stattfindenden Protestveranstaltungen mit meist wenigen hundert Teilnehmern weit in den Schatten gestellt.
Die Demonstration begann unmittelbar im Anschluss an das Freitagsgebet in einer am Nakheel Platz gelegenen Moschee. Schon auf dem Weg nach draußen fing die Menge von schätzungsweise 3000 Menschen an, politische Slogans zu rufen. Auf der Straße wurde die Menschenmasse dann von bereit stehenden Polizisten flankiert und die Frauen (von denen erstaunlich viele anwesend waren) durch einen Sicherheitskordon von den Männern abgetrennt. Die Demonstranten waren den Aufrufen der Veranstalter gefolgt, auf jegliche Parteifahnen bzw. Zeichen beteiligter Organisation en zu verzichten. Somit war auch keine Fahne der Muslimbrüder weit und breit zu sehen. Neben Spruchbändern wurde ausschließlich die jordanische Flagge hochgehalten. Einen Moment des Schreckens gab es, als die neben mir auf einer Anhöhe versammelten Zuschauer glaubten, die Menge skandiere den spätestens durch die Revolution in Ägypten bekannt gewordenen Slogan „Al-shaab yurid isquat al-nizam" („Das Volk möchte den Sturz des Systems"). Wie sich kurze Zeit später herausstellte, wurde diese rote Linie jedoch auch heute nicht überschritten: Statt isquat forderte die Menge islah (Reformen). Zu diesen gehören u.a. ein modernes und demokratisches Wahlrecht, eine Beschneidung der königlichen Vorrechte, die Bekämpfung von Korruption sowie ein Ende der politischen Einflussnahme durch den Sicherheitsapparat.
Nach ca. 45 Minuten setzte sich die Menschenmasse auf der Sharja Khuraish Richtung Hussein-Moschee in Bewegung, wo sie sich mit anderen Demonstrationsteilnehmern vereinigte. In einem Abstand von ca. 200 Metern folgte dem Protestzug ein massives Aufgebot von mit Knüppeln und Schilden ausgestatteter Bereitschaftspolizei. Gepanzerte Fahrzeuge waren an neuralgischen Punkten stationiert, die Nebenstraßen zusätzlich mit Barrikaden versperrt.
Da die Straßen um die Hussein-Moschee im Gegensatz zum Nakheel-Platz von höher gelegenen Stadtteilen kaum einsehbar sind, lässt sich die Gesamtteilnehmerzahl schwer schätzen. Insgesamt dürften es wohl ca. 8000 gewesen sein, die friedlich demonstrierten.
Am gestrigen Donnerstag hatte ein neu gegründetes Bündnis von selbsternannten Königstreuen eine angekündigte Gegendemonstration in Amman abgesagt. Dies führte schon im Vorfeld zu einer signifikanten Deeskalation der angespannten Sicherheitslage, zumal es Spekulationen gab, die Sicherheitskräfte könnten sich komplett aus dem Demonstrationsgebiet zurückziehen. Ein ungehindertes Aufeinandertreffen beider Blöcke wäre sicherheitstechnisch der GAU gewesen.
Das in Amman während der letzten Tage spürbare Unbehagen im Hinblick auf die Demonstration wurde zusätzlich durch die erratische Kommunikationspolitik des Sicherheitsapparates verstärkt. Ein klares Bekenntnis zu einer starken Polizeipräsenz, die keinerlei Gewalt dulden werde, kam erst spät. Heute waren wohl ca. 2000 Polizisten im Einsatz.
Im letzten Moment haben sich auch andere Gruppen zurückgezogen: Die Jordan Engineers Association (JEA), Jordaniens größter Berufsverband und bislang eine treibende Kraft der Protestbewegung hat ebenso wie andere reformistisch eingestellte Gruppierungen abgesagt. Hauptakteure am heutigen Tag waren somit vor allem die Islamic Action Front (IAF) sowie kleinere Parteien aus dem islamistischen, aber auch linksgerichteten Spektrum.


Der nächste Dominostein?
Wie es mit Jordanien weitergeht, ist schwer abzuschätzen. Mit der gestrigen Auflösung des Parlaments hat König Abdallah II. den Weg für die umstrittenen Neuwahlen Anfang kommenden Jahres freigemacht. Die Muslimbrüder haben bereits zu einem Wahlboykott aufgerufen. Die vor wenigen Wochen erfolgte Zustimmung des Königs zu einem scharf kritisierten neuen Mediengesetz, welches teils drakonische Strafen für die Betreiber von jordanischen Nachrichtenportalen vorsieht, verschärft zusätzlich die zunehmend gefährlicher werdende politische Situation in Jordanien. Mit dem neuen Gesetz wird die politische Meinungsäußerung im Internet erschwert, was die Schar politisch Unzufriedener weiter anwachsen lassen dürfte. Bislang eher systemstabilisierend wirkt hingegen der Bürgerkrieg in Syrien.

Die entscheidende Frage wird sein: Wann ist der Punkt erreicht, an dem der politische und wirtschaftliche Unmut der Bevölkerung derartig groß ist, dass sich der an Intensität zunehmende Protest nicht mehr gegen die ständig wechselnden Regierungen, sondern gegen den König direkt richtet. Derzeit deutet nichts auf eine plötzliche Revolution hin. Allerdings: Der Winter kommt. Und die nächste Benzin- und Strompreiserhöhung ist bereits angekündigt.

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