Der Nahost-Konflikt macht vor der antiken und mit heiligen Plätzen gefüllten Altstadt in Ostjerusalem nicht halt. Inmitten der aufgeladenen Atmosphäre werden dabei insbesondere die Kinder der Altstadt immer wieder zu Opfern von Übergriffen, wie lokale Beobachter berichten. Ein Gastbeitrag von Elisa Tappeiner
Isra ist neun Jahre alt. Sie lebt zusammen mit ihrer Familie im muslimischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Ihr Zuhause befindet sich in einer engen Seitengasse, im zweiten Stock eines Apartmenthauses. Wohnhäuser in der Altstadt sind sehr begehrt und haben besonders für gläubige Christen, Juden und Muslime einen hohen symbolischen Wert. In den vergangenen Jahren nahmen Hausbesetzungen und angeordnete Hausabrisse durch jüdische Israelis zu. „Die Räumlichkeiten über uns werden schon seit mehr als zehn Jahren von israelischen Siedlern besetzt,“ sagt Isras Vater, Mazen Abu Sbaih. „Sie werden als jüdische Schule genutzt.“
An einem Tag im September ging Isra aus dem Haus, weil sie in ein nahe gelegenes Geschäft wollte. „Es war früher Nachmittag“, erinnert sie sich. „Ich sollte Chips für meinen kleinen Bruder kaufen. Als ich die Treppe zur Straße hinunter stieg, sah ich drei Jungen der jüdischen Schule. Mit ihren schwarzen und weißen Kleidern, den Mützen und den langen Haaren ist es nicht schwer für mich, die Schüler zu erkennen.“
Die Jugendlichen versperrten Isra den Weg zur Straße. „,Zlikhaʻ sagte ich, das bedeutet Entschuldigung auf Hebräisch, aber sie ließen mich nicht vorbei“, erzählt Isra. „Als ich versuchte, mich an ihren Beinen vorbei zu drängen, fühlte ich, wie ich von hinten von einer Hand gestoßen wurde. Dann stolperte ich über den Fuß eines der Jungen.“ Das Mädchen fiel mit dem Kopf voraus auf das Kopfsteinpflaster der Gasse. „Ich blutete an der Stirn und der unteren Lippe. Bevor ich es schaffte aufzustehen, näherte sich mir einer der Jungen und sprühte mir mit dem Pfefferspray direkt ins Gesicht.“
Jüngste Entwicklungen in der Altstadt führen zu vermehrter Gewalt gegen Kinder
„Abseits der wichtigen Marktstraßen und außerhalb der geschäftigen Zeiten, wenn Touristen und Pilger nicht mehr die Plätze füllen, wird die Altstadt zu einem hart umkämpften Ort“, so Yasser Qous vom Bürgerverein der lokalen afrikanischen Gemeinde. Zurzeit gibt es im muslimischen Viertel über 20 jüdisch-israelische Siedlungen. Zwei werden als private Wohnhäuser genutzt, die restlichen dienen als Schulen und Synagogen, so Qous, der sein ganzes Leben hier verbrachte. Zudem haben die Siedler begonnen, religiöse Umzüge durch das Viertel zu veranstalten. Daran nehmen auch hunderte Juden aus anderen Orten teil.
„All diese Entwicklungen führen zu einer erhöhten Siedlerpräsenz im muslimischen und im christlichen Viertel. So viel war es noch nie“, bekräftigt Qous. „Noch 2011 waren körperliche Übergriffe an Kindern die Ausnahme. Auch kamen die Täter ausschließlich aus Kreisen fundamentalistischer Siedler, was man mittlerweile nicht mehr behaupten kann.“
Derselbe Trend wird auch von den monatlichen Analysen des Applied Research Institute Jerusalem bestätigt. Deren Daten zeigen, dass Attacken von Siedlern bis 2011 Einzelfälle waren. Bemerkbar wurde der Anstieg der Übergriffe im Jahr 2012, als 23 Muslime aus Jerusalem von Siedlern angegriffen wurden. Im vergangenen Jahr dann wurde die Zahl noch alarmierender: Allein bis Ende September 2013 wurden in Jerusalem 20 Kinder Opfer von Siedlergewalt; 13 der Übergriffe geschahen in der Altstadt.
„Brutale Übergriffe von israelischen Siedlern auf junge Palästinenser kommen im Westjordanland häufig vor“, sagt der verantwortliche Direktor von Defence for Children International in Palästina, Ayed Abu Eqtaish. „In Jerusalems Altstadt jedoch waren uns solche Angriffe bis vor zwei Jahren unbekannt.“
Belästigungen und Übergriffe geschehen täglich, meistens werden sie verschwiegen
Auch wenn meist nur die schwersten Vorfälle wie Schläge mit Holzstöcken, harte Stöße und Pfefferspray-Attacken gemeldet und bekannt werden, sind Tritte, verbale Belästigungen und Drohungen oder das Bewerfen mit Steinen, Eiern und Müll ebenso alarmierend. Der Grund für die unvollständige Aufzeichnung solcher Übergriffe liegt zum einen darin, dass sie so häufig vorkommen, und zum anderen, dass betroffene Kinder und Eltern oft darüber schweigen.
„Kinder wie Isra, die im selben Haus wie die Siedler oder in der Nähe von besetzten Gebäuden wohnen, leiden mehr unter gewaltsamen Übergriffen und Belästigungen als andere,“ sagt Hiyam Elayyan, Direktorin des Al-Saraya Zentrums zur Förderung der Entwicklung von Kindern und Frauen in der Altstadt. So erzählt Isra, dass die Schüler von der Schule im Stock über ihr Kaffee auf ihre Terrasse kippen. „Immer wenn ich getroffen werde, muss ich zurück ins Haus, um mich zu waschen und meine Kleider zu wechseln. Deshalb bin ich schon einige Male zu spät zum Unterricht gekommen.“
Aus Isras Mund klingt es so, als erzähle sie von der normalsten Sache der Welt. Für sie gehören solche Zwischenfälle ebenso zum Alltag, wie für die vielen anderen betroffenen Kinder in der Nachbarschaft. Sie müssen ständig fürchten, dass ihnen selbst etwas zustößt oder dass ihr Eigentum beschädigt wird, so wie es dem elf jährigen Abu Assab häufig passiert. Er erzählt, dass Siedler immer wieder seine Fußbälle nehmen und Löcher hinein stechen.
Kinder, die als Muslime erkannt werden, werden häufiger zu Opfern
„Es ist schwierig zu sagen, wer häufiger Opfer von Angriffen wird, Mädchen oder Jungen,“ sagt Elayyan. „Was ich jedoch beobachte, ist, dass jene Kinder, die eindeutig als Muslime erkannt werden, wie zum Beispiel Mädchen, die ein Kopftuch tragen, häufiger Attacken zum Opfer fallen.“
Auch die beiden Cousinen Thikra und Ghada, beide 13 Jahre alt, tragen ein Kopftuch. Sie sind die Opfer der jüngsten schweren Attacke in der Altstadt, die Schlagzeilen machte. Vier junge Israelis attackierten und verletzten die Mädchen am 28. September 2013 im jüdischen Viertel.
„Wir gingen wie immer durch das jüdische Viertel, da das der kürzeste Schulweg für uns ist“, sagt Thikra. „Normalerweise werden wir von den Israelis, die in den Gassen unterwegs sind, ignoriert. Doch an diesem Tag, als wir an einer Gruppe von vier Jungen vorbei gehen wollten, stieß uns einer von ihnen gegen die Wand. Mein rechtes Auge wurde dabei verletzt und ich musste ärztlich behandelt werden.“
Schulwechsel anstatt strafrechtlicher Verfolgung
Ghada und Thikra meldeten den Überfall sofort bei der nächsten Polizeistation. Obwohl sie die vier Jugendlichen auf einem Überwachungsvideo erkennen konnten, hatten sie auch nach über einem Monat keine Nachricht von der Polizei erhalten.
„Dass Täter nicht verfolgt werden, ist keine Ausnahme“, sagt Qous von der afrikanischen Gemeinschaft. „Täter werden kaum strafrechtlich verfolgt und müssen keinerlei legale Konsequenzen fürchten. In den seltenen Fällen, in denen sie auf eine Polizeistation gebracht werden, werden sie nach wenigen Stunden wieder entlassen.“
„Seit wir auf dem Schulweg im jüdischen Viertel angegriffen wurden, gehen wir einen anderen Weg“, sagt Ghada. Die neue Route verläuft außerhalb der Mauern der Altstadt und bedeutet für die Mädchen 20 Minuten zusätzliche Gehzeit. Solche Reaktionen sind häufig nach Überfällen. Einige Eltern beschließen, ihre Kinder fortan persönlich in die Schule zu begleiten; in anderen Fällen ist ein Schulwechsel die einzige Lösung.
Die Erfahrung eines Schulwechsels musste auch Ameer aus dem Westjerusalemer Stadtteil Sur Baher machen. Der Zwölfjährige besuchte die Al-Aqsa Jungenschule im Herzen der Altstadt, bevor er dort im April 2012 von einem jüdischen Siedler auf dem Nachhauseweg verprügelt wurde. Nach dem Überfall beschloss sein Vater, ihn von der Schule zu nehmen. „Nun besuche ich wie meine Schwestern die koptische Schule“, erzählt Ameer. „Ich mochte meine alte Schule und wollte keinen Schulwechsel. Aber ich hatte solche Angst, täglich alleine durch die Altstadt zu gehen, dass mir nichts anderes übrig blieb.“
Rechtliche Diskriminierung der Kinder
Ob auch palästinensische Muslime und Christen zu denselben gewaltsamen Mitteln greifen würden, wenn sie die Gelegenheit hätten? Palästinensische Kinder in Ostjerusalem werfen mit Steinen gegen gepanzerte Siedlerautos und die Mauern der Siedlerhäuser. Es ist die einzige, ihnen bekannte Reaktion gegen ihr Gefühl der Ohnmacht. Sie werden damit gewalttätig und überschreiten das Gesetz.
Dass ihr Verhalten sinnlos und falsch ist, können sie nicht verstehen, denn Ordnungskräfte reagieren auch ihnen gegenüber mit Gewalt und Diskrimierung. Minderjährige und selbst Kinder, die noch nicht straffähig sind, werden zu Hause oder auf der Straße ohne Ankündigung von Dutzenden schwer bewaffneter Sicherheitskräfte festgenommen. Sie erleben Verhöre in Abwesenheit ihrer Eltern und Anwälte und lange Stunden des Wartens in Polizeistationen.
Klar ist, dass jüdische Israelis besser von den Soldaten und Polizisten vor Ort beschützt werden und dass sie die Macht des Gesetzes im Falle eines Vergehens wohl nicht so hart zu spüren bekommen wie Palästinenser.
Seit Israel 1967 den Ostteil Jerusalems annektierte, eine Angliederung, die gegen internationales Recht verstößt, sind die Einwohner Ostjerusalems dem israelischen Zivilrecht unterstellt und nicht dem Militärrecht, welches in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes angewandt wird. Palästinenser mit permanentem Aufenthaltsrecht, wie sie juristisch bezeichnet werden, unterliegen theoretisch den selben Gesetzen und Rechten wie Israelis.
Praktisch hingegen werden sie oft vor dem Gesetz diskriminiert, wie immer wieder berichtet wird. Die palästinensischen Bewohner der Altstadt und ganz Ostjerusalems fürchten Polizeikontrollen und meiden Proteste, aus Angst verhaftet, verhört und eingesperrt zu werden. Dabei fürchten sie nicht nur die Verhaftung, sondern auch den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Israelische Arbeitgeber haben nämlich das Recht, Personen mit Polizeivermerk zu kündigen oder nicht einzustellen.
Dass Kinder jüdischer Israelis unbeschadet in der Altstadt leben können, liegt auch an den privaten Sicherheitskräften, die der israelische Staat den Siedlern zu Verfügung stellt. So kommt es, dass israelische Kinder, deren Schulweg durch das muslimische oder christliche Viertel führt, von einem bewaffneten Sicherheitsmann begleitet werden.
Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) bestätigt in einem Bericht vom Oktober 20131 die Zunahme von Siedlergewalt im Westjordanland und Ostjerusalem. Verantwortlich für den Anstieg der Gewalt sind laut Bericht die unvollständige Anwendung der Gesetze von Seiten der israelischen Behörden, der ungenügende Schutz der Bevölkerung in den besetzten Gebieten, aber auch die gute Organisation der Gewaltübergriffe von Seiten der Siedler. Zu häufigen Überfällen kommt es dort, wo die Lebensräume von Siedlern und Palästinensern aneinander grenzen oder sich überschneiden, wie in der Altstadt von Jerusalem.
Soziale Benachteiligung der palästinensischen Bevölkerung
Die Diskriminierungen und Vernachlässigungen von Seiten der Jerusalemer Behörden führen zu sozialen Spannungen in der Altstadt. Es ist zwar Teil der arabischen Kultur, dass Großfamilien auf engstem Raum zusammenleben, trotzdem ist die Bevölkerungsdichte des muslimischen Viertels alarmierend hoch. Die englische Zeitung the Guarian berichtete im vergangen Juli von einer dreimal höheren Bevölkerungsdichte als im jüdischen Viertel. Dieser Zuwachs ist nicht nur auf das Bevölkerungswachstum und die vermehrte Siedlerpräsenz zurückzuführen, sondern auch darauf, dass es für Palästinenser mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht in Jerusalem fast unmöglich ist, eine Baugenehmigung für neue Unterkünfte in Ostjerusalem zu bekommen.
Obwohl alle Bewohner Jerusalems gleich viel an Steuern zahlen, sind die Unterschiede bei den Infrastrukturen in den Vierteln gut sichtbar. Zahlreiche Haushalte im muslimischen Viertel sind noch immer ohne Strom und Abwasserentsorgung. Die Müllentsorgung und Straßenreinigung funktioniert dort, wo Touristen und Pilgern eine saubere Kulisse geboten werden soll. Freie Plätze und Spielanlagen für Kinder, wie es sie im jüdischen Viertel gibt, sucht man hier jedoch vergeblich.
Die „Israelische Gesellschaft für Zivilrecht“ (ACRI) schlug im September 2013, pünktlich zu Schulbeginn, Alarm. Trotz der Aufforderung des höchsten Gerichtes an die Stadtverwaltung und das Erziehungsministerium, dringend neue Infrastrukturen für den arabischsprachigen Unterricht zu errichten, fehlt es in Ostjerusalem noch immer an 2200 Klassenräumen.
Laut dem Guardian lebt jedes vierte Kind im muslimischen Viertel unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit beträgt 30 Prozent. Meist muss ein Einkommen für die ganze Großfamilie reichen. Frühe Schulabbrüche, Kinderarbeit und Gewalt in der Familie sind ebenso Realität.
Einige Familien haben genug von der täglichen Unsicherheit. Sie verkaufen ihren Besitz, um außerhalb oder im Westjordanland zu leben. Dabei geschieht es immer wieder, dass Häuser durch Mittelsmänner an jüdische Organisationen weiterverkauft werden. Solche Vorkommnisse schüren das Misstrauen in der palästinensischen Bevölkerung und mindern ihren Zusammenhalt.
Bescheidene Träume
Diese Schilderungen machen deutlich, dass die Kinder, die Schwächsten der Gesellschaft, wie so oft am meisten unter den seit 60 Jahren anhaltenden Auseinandersetzungen leiden. Angst und Unsicherheit beginnen ihr Leben zu bestimmen und die Ausnahmesituation wird zur Normalität. Dabei sind die Wünsche von Kindern wie Isra bescheiden. „Es wäre wunderbar für mich, wenn ich mein Zuhause verlassen und betreten könnte, wann immer ich wollte. Ohne Angst und ohne auf jemanden zu warten, der mich begleitet.“
Damit die Kinder der Altstadt, israelischer und palästinensischer Herkunft, ein angstfreies und Kind gerechtes Leben führen können braucht es nicht eine Zunahme an Kontrollen und Sicherheitskräften sondern vermehrt Initiativen zur Gewaltprävention und demokratischen Erziehung. Die lokalen Behörden kennen die Gründe für fehlende Infrastruktur und soziale Missstände und sie können sie beheben.
Egal was Landkarten sagen oder künftige Friedensverhandlungen beschließen die Einzigartigkeit der Jerusalemer Altstadt liegt in ihrer religiösen und kulturellen Vielfalt, die man auf der nicht einmal einem Quadratkilometer großen Fläche vorfindet. Diese Vielfalt kann nur weiterbestehen, wenn die Rechte aller geachtet werden sodass ein Zusammenleben in der Altstadt möglich ist.
1 Ausschnitt: Im Zeitraum 2006 bis August 2013 verursachten Gewalttaten von Israelis an Palästinenser 10 Todesopfer, darunter 4 Kinder, und 1040 Verletzte, darunter 267 Kinder. Im selben Zeitraum verursachten Gewalttaten von Palästinenser an Israelischen Zivilisten 29 Todesopfer und 368 verletzte.
Die Autorin studierte Arabisch und absolvierte einen Master in Menschenrecht an der School of Oriental and African Studies in London. Dieser Bericht ist während eines Praktikums im Herbst 2013 bei Defence for Children International in Ramallah entstanden.