24.11.2011
Interview mit tunesischer Menschenrechtsaktivistin Fidé Hamami: "Unsere Revolution ist nicht in Gefahr"
Zehn Monate sind seit dem Sturz des tunesischen Diktators Zine el-Abedine Ben Ali vergangen. Zeit für eine erste Bilanz. Wir haben deshalb die Aktivistin Fidé Hamami von der "Tunesischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte" interviewt, die unlängst in Berlin zu Gast war. Die Fragen stellte Christoph Dinkelaker. 

Alsharq: Infolge der Selbstverbrennung des Straßenverkäufers Mohammad Bouazizi brachen am 17. Dezember 2010 Massenproteste und Unruhen in Tunesien, die laut manchem Experten den gesamten „Arabischen Frühling“ auslösten. Weniger als vier Wochen später war eines der vermeintlich stabilsten autoritären Regime der Region gestürzt. Wie konnte sich solch eine enorme revolutionäre Energie innerhalb so kurzer Zeit entfalten?

Fidé Hamami: Es stimmt, dass der schmerzvolle öffentliche Selbstmord Mohammad Bouazizis den unmittelbaren Auslöser für die Tunesische Revolution und vielleicht für den gesamten „Arabischen Frühlling“ darstellte. Jedoch gab es andere Elemente, die den revolutionären Funken befeuerten und schließlich das Regime verbrannten:
Wut über Unterdrückung und Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen waren über die Jahre angewachsen. Außerdem erreichte die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Universitätsabgängern, ungeahnte Ausmaße. Schließlich wurde die Meinungsfreiheit immer stärker eingeschränkt, einhergehend mit einer unglaublichen Zensierung des Internets. Die Proteste nach Bouazizis Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 waren nicht die ersten ihrer Art. In der zentraltunesischen Region Gafsa hatte bereits 2008 ein Volksaufstand gegen die Regimepolitik der sozialen Ungerechtigkeit, der Chancenungleichheit und der Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung stattgefunden. Die tunesische Zivilgesellschaft und oppositionelle Parteien informierten des Weiteren seit Jahren über die Verbrechen Ben Alis und seiner Familie, wobei sie sich besonders auf die Aufdeckung finanzieller Korruption konzentrierten. Damit schafften sie ein kritisches Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung. Exzessive Gewaltanwendung seitens der Polizei, vielfach verbunden mit dem Missbrauch ihrer Macht, hatte in den vergangenen Jahren häufig zu Konfrontationen – insbesondere mit jungen tunesischen Männern – geführt. Ein Beispiel sind die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Fußballfangruppen und der Polizei seit dem Jahr 2000. Ich glaube, dass die Kulmination all dieser Elemente und die Jahre gewaltsamer Repression zur Explosion am 17. Dezember führte, die sich schließlich zu einer Revolution entwickelte.

Wenn man die Entwicklung und von außen betrachtet und etwa mit Ägypten vergleicht, scheint Tunesien beeindruckende Fortschritte zu machen: Gerade neun Monate nach dem Sturz Ben Alis erarbeitet eine Nationalversammlung, die aus freien Wahlen hervorgegangen ist, eine neue Verfassung. Schließt du dich dieser positiven Sichtweise an und wie beurteilst du die Entwicklungen zwischen Januar und Oktober?

Das ist in der Tat beeindruckend. Es wurde eine Menge erreicht, weil wir genau wussten, dass die wirkliche Arbeit am 14. Januar erst anfängt und nicht an diesem Tag endet. Ben Ali war weg, aber seine Regierung, sein Parlament, die Institutionen, die alle auf seiner Seite waren, blieben und wirklichen Wandel kann man nun mal nicht erreichen, solange all diese korrupten Leute noch an diesen Stellen sitzen. Forderungen, wie die Auflösung des Parlaments, die Entmachtung des RCD, der Ausschluss führender RCD-Funktionäre, eine Regierung ohne Getreue Ben Alis und besonders die Wahlen für die verfassungsgebende Versammlung waren also für uns die natürliche Fortsetzung der Revolution. Diese Forderungen wurden zwar allesamt erfüllt, dennoch herrscht weit verbreitet Unzufriedenheit mit dem Abschneiden der Interimsregierung, auch weil viele andere Forderungen einfach ignoriert wurden. So behielten beispielsweise die meisten Polizeioffiziere, die für den Tod von Demonstranten während der Revolution verantwortlich waren, ihren Job und wurden nicht vor Gericht gestellt. Es war auch kein wirklicher Wille erkennbar, die korrupten Eliten zu belangen. Die Polizei verhielt sich bei Protesten genauso repressiv und gewalttätig wie vorher. Und auch die Regierung gestaltete ihre Arbeit nicht so transparent, wie es sein sollte. Das sind nur ein paar Beispiele, um zu zeigen, dass auf dem Weg zur Demokratisierung viele wichtige Dinge liegen geblieben sind. Wir haben eine Menge geschafft, aber es liegt noch ein langer Weg vor uns.

Der Wahlerfolg der Nahda hat in Europa Ängste über eine mögliche Islamisierung von oben ausgelöst. Teilst du diese Sorgen? Wird die Revolution ihrer Früchte beraubt?

Die Menschen scheinen Namen mehr zu fürchten als Fakten. Bisher kann ich so etwas wie »Islamisierung« nicht erkennen. Die tunesische Gesellschaft war immer vorwiegend muslimisch mit einer moderaten sunnitischen Ausrichtung. Aber viel wichtiger ist, dass die Nahda nur 41 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung errungen hat und somit nicht die Mehrheit der Tunesier repräsentiert. Wenn man bedenkt, dass 84 Prozent aller Tunesier gewählt haben, sind es sogar nur 37,8 Prozent. Eine erzwungene Islamisierung ist unter diesen Vorzeichen nicht vorstellbar, insbesondere, weil alle Augen darauf gerichtet sind, wie die neue Regierung nun handeln wird. Zu den Hauptforderungen nach der Wahl – und auch schon davor – gehörte sogar die Live-Übertragung der Sitzungen der Nationalversammlung. Die Menschen verfolgen sehr genau, ob die Leute, die sie gewählt haben, dort auch die Ziele der Revolution angemessen vertreten und wer dort nur für die eigenen Interessen eintritt. Die Zivilgesellschaft wird auf ihren Platz und den Wert von Menschenrechten in der neuen Verfassung drängen, und dafür, dass die neue Regierung sich auch daran hält. Deswegen teile ich diese Befürchtungen nicht und ich denke nicht, dass Europa sich herausnehmen kann zu beurteilen, ob unsere Revolution in Gefahr ist. Das gilt insbesondere für die Regierung in Frankreich, die nun Alarm schlägt und vorher einer der engsten Unterstützer Ben Alis war und ihm half, das tunesische Volk zu unterdrücken. Die Tunesier haben nun das Recht, ihren eigenen Weg zu gehen und ein eigenes Demokratie-Modell ohne Druck von außen zu entwickeln. Die ersten Früchte der Revolution waren die freien und demokratischen Wahlen. Und obwohl das keine Garantie für Demokratie ist, ist es doch ein Sieg und ich bin zuversichtlich, dass die Menschen, die die Revolution ermöglicht haben, diese Garantie sind.

Als Menschenrechtsaktivistin, wo siehst du in diesem Bereich die größten Defizite in Tunesien?

Ich würde da zwei Ebenen unterscheiden: Zunächst einmal sind die Lebensbedingungen gerade in den ärmeren Gegenden katastrophal. Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard wird nicht erfüllt, wenn Menschen etwa keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Es gibt also klare Defizite im sozioökonomischen Bereich. Auf einer anderen Ebene sind politische Rechte noch immer sehr beschränkt, auch wenn sich das langsam bessert. Friedlichen Protesten wird noch immer mit Gewalt begegnet. Die Herausforderung besteht darin, eine Verhaltensänderung bei der Polizei zu bewirken, die Menschenrechte respektiert. Auf den Polizeistationen gehört Gewalt noch immer zur Tagesordnung. Bei Befragungen wird weiter gefoltert und die Lebensbedingungen in einigen Gefängnissen sind inhuman.

Europäische Regierungen haben lange mit autoritären arabischen Regimes kollaboriert. Wie sollten sie sich nach dem Wandel in Tunesien nun verhalten und welchen Beitrag kann die Zivilgesellschaft in Europa spielen?

Tunesien hat der Welt gezeigt, dass Wandel von innen kommen kann. Aber unsere Zivilgesellschaft ist gegenüber der etwa in Europa definitiv offen. Viele tunesische Organisationen arbeiten mit europäischen NGOs zusammen. Solche Netzwerke sind von immenser Bedeutung, um den Aktivismus aufrecht zu erhalten. Was uns in dieser Phase wirklich hilft, sind ganz praktische methodische Dinge. Wir können von den Zivilgesellschaften eine Menge über Interessenvertretung und Kampagnenorganisation lernen – insbesondere wie man die Anwendung effektiv gestaltet und anpasst. Ein Austausch von Kompetenzen durch eine wirklich horizontale Partnerschaft kann sehr hilfreich sein und unseren demokratischen Prozess positiv begleiten.