Aschura – für Schiiten im Iran und in der ganzen Welt Tag des Gedenkens an die Schlacht von Kerbela, als Hosein und seine Begleiter einer feindlichen Übermacht erlagen. 1333 Jahre später ist in Teheran die Erinnerung immer noch lebendig – und dient oft als Anlass zu Flirts und politischen Diskussionen. Ein Bericht von Christian Funke.
Die Trommeln und Trompeten sind weithin zu hören. Im Norden Teherans haben sich vor Einbruch der Dämmerung etwa zweihundert Männer und Frauen versammelt. Einige von ihnen weinen, andere schlagen sich rhythmisch auf die Brust. Währenddessen drohen mit ausufernder Gestik und überspitzter Mimik zwei kostümierte Darsteller einem Dritten in der Mitte einer improvisierten Bühne. Sie bereiten sich auf ihren finalen Schlag vor. Der Dritte steht taumelnd da, ein Pfeil steckt in seinem Kopf, ein weiterer in seiner Brust. Das weiße Leinen, das ihn kleidet, ist blutbefleckt. Dann schlagen die beiden Darsteller mit ihren Säbeln auf das wehrlose Opfer ein, der Geschlagene schwankt abermals und fällt zu Boden. Während die Täter hinter die Bühne entweichen, überdeckt ein älterer Mann den Gefallenen mit einer schwarzen Fahne. Er steigt auf einen Plastikstuhl und greift zum Mikrophon. Er und die Menschen singen aus voller Kehle „beyno 'l-harameyn, beyno 'l-harameyn” („Zwischen den beiden Heiligtümern”), denn der Getötete ist Abo 'l-Fazel, Imam Hoseins Bruder und Bannerträger, dessen Grab sich nur unweit desjenigen Hoseins in Kerbela befindet.
Da bricht der Himmel auf, und nach schon bald sind alle Zuschauer durchnässt. „Wir sind noch immer beschämt!”, ruft der Redner unbeeindruckt ins Mikrophon und fordert zu Spenden auf. „Zu Aschura wird sich der Himmel wie jedes Jahr von seiner schönsten Seite zeigen!” Viele der Männer drängen jetzt zum Leichnam', legen Geldscheine auf ihn, küssen ihn oder versenken ihr Gesicht klagend in der schwarzen Fahne. Während sie sodann im prasselnden Regen auseinanderströmen, erinnert der vom Regen durchtränkte Redner an die Kranken, die Soldaten, die Gefangenen und all diejenigen, die Leid erfahren.
Die Schlacht von Kerbela und ihre rituelle Reinszenierung
Es ist der Vorabend von Aschura, jenes Tages also, an dem sich der schiitischen Überlieferung zufolge die Schlacht von Kerbela und das Martyrium des dritten Imams Hosein und seiner Begleiter jährt. Die Vorgeschichte jener Konfrontation, die 1333 Jahre später in Teheran und der gesamten schiitischen Welt kommemoriert und reinszeniert wird, ist eng mit der Frage nach legitimer Herrschaft im frühen Islam verbunden. Nach zwölferschiitischer Auffassung fällt jene allein einer Reihe von unfehlbaren und sündenlosen Imamen zu. Als jedoch mit dem Tod des Kalifen Muawiyya (661-680) sein Sohn Yazid nach der Macht greift und damit im Begriff ist, ein dynastisches Herrschaftsprinzip zu etablieren, ruft der dritte schiitische Imam Hosein seine Anhänger zu den Waffen. Da diesem Aufruf nur Wenige folgen, kommt es im islamischen Monat Moharram bei der Ebene von Kerbela zu einer ungleichen Schlacht. Den Truppen Yazids stehen der Tradition zufolge nur Hosein und sein zweiundsiebzigköpfiges Gefolge gegenüber. Die männlichen Begleiter Hoseins fallen auf dem Schlachtfeld und auch Hosein selbst erleidet am 10. Moharram das Martyrium. Lediglich die anwesenden Frauen und Kinder, darunter Hoseins jüngster Sohn Ali, der vierte schiitische Imam, überleben die Schlacht und geraten in Gefangenschaft.
Die verhinderten Parteigänger plagen hiernach Schuldgefühle: Wie konnten sie ihren Anführer, dazu noch einen Enkelsohn des islamischen Propheten Mohammad, im Stich lassen? Das kollektive Versagen der frühen Schiiten findet in der beschriebenen Aufführung ihren kontemporären Widerhall, wenn der Redner ruft: „Wir sind noch immer beschämt!” Die Hinterbliebenen pilgern fortan zu den Gräbern der Toten, büßen gleichsam für ihre Untätigkeit. Das historische, politische Geschehen von Kerbela bekommt somit auch eine religiöse Dimension und im Laufe der Jahrhunderte bilden sich komplexe Rituale und literarische Formen über das Kerbela-Thema heraus. Heute lassen sich drei Haupttypen beobachten: die Moharram-Umzüge, die Trauerelegien und die Passionsspiele. Dabei ist das Passionsspiel, in Iran ta‘ziye genannt, die jüngste Entwicklung, die in kadscharischer Zeit (1779–1925) ihre Blüte erlebte und das Hof und gesellschaftliche Elite finanziell und ideell großzügig unterstützten. So liegen etliche europäische Reiseberichte aus dem 19. Jahrhundert vor, die von den zahlreichen dargebotenen Speisen und Getränken berichten, die aus der Kasse des Staates oder der reicher Gönner bezahlt wurden, und sogar Darsteller mit Starallüren sind nicht unbekannt.
Heute setzt der moderne Staat diese Tradition der Patronage in kleinerem Maßstab fort. So finden in Teheran während des Moharrams täglich eintrittsfreie Aufführungen von ta‘ziyes im Kulturzentrum Niavarans statt – bei denen im Anschluss ebenfalls warme Speisen und Tee angeboten werden. Dies geschieht teils auch in präservatorischer Absicht, denn nachdem die Passionsspiele in der Pahlavi-Zeit aus dem urbanen Alltag fast verschwunden und ab 1935 auch verboten waren – obwohl sie auch beim Schiras-Kunstfestival wieder staatliche Anerkennung erhielten – spielen sie neben den Prozessionen und Rezitationen mittlerweile nur noch eine Nebenrolle, wenn auch eine prominente und geschätzte.
Neben größeren Moscheen und den bedeutenden Schreinen der Imame bzw. ihrer Nachkommen, die häufig über eigene Aufführungsräume für die Rezitation von Trauerelegien verfügen, verantworten insbesondere private religiöse Vereinigungen (hey’at) die Ausrichtung von Moharram-Ritualen. Wie bei anderen Festen auch vollzieht sich der Übergang zur Festzeit allmählich und kündigt sich visuell im Stadtbild an. Zu den ersten sichtbaren Veränderungen zählen der sprunghafte Anstieg an kalligraphischen Aufschriften, die an der Heckscheibe oder auf der Motorhaube von Autos angebracht werden. Sie lauten meist einfach „Ya Hosein” oder „Ya Aba 'l-Fazel”. Die religiösen Vereinigungen stellen Zelte und Teestände an den Straßenrändern auf und bewirtschaften jene. Dabei dienen die Zelte zugleich als Versammlungsort für Rezitationen und Predigten und auch als Ausgangspunkt für Prozessionen. Gleichzeitig werden dort die Speisen zubereitet, die zum Abschluss des Tages, meist in der Nacht, an alle Anwesenden ausgeteilt und gemeinsam verspeist werden – von der Schlachtung bis zur Abpackung in Plastikschalen.
Hosein-Party
Im prestigeträchtigen Nordteheraner Viertel Kamranieh stehen an einer prominenten Kreuzung gleich zwei Zelte solcher religiöser Vereinigungen. An einer vielbefahrenen Straße ist seit dem 1. Moharram zudem eine kleine Teebude aufgebaut, die in den frühen Abendstunden Tee oder auch heißen Kakao und Gebäck an Passanten und Autofahrer aushändigt. Vor ihr stehen mehrere junge schwarzgekleidete Männer mit Dreitagebart, die sich ihre Polohemden lässig um den Hals gewickelt haben. In einer Gesellschaft, in der über Kleidung Klassenidentitäten gestiftet und vermittelt werden, beherrschen sie es meisterlich, den Anforderung des Trauermonates zu folgen und gleichsam noch einen gewissen ‚Collegestil' zu pflegen. Sie scherzen miteinander und beobachten die vorbeifahrenden Autos. Unter die dominierenden Peugeots, die in Iran unter Lizenz hergestellt werden, mischen sich viele Toyota Land Cruiser, ein in der iranischen Oberschicht beliebtes Auto. Auch der eine oder andere Porsche Cayman oder Porsche Cayenne hält vor dem Teestand. Die Fahrer tauschen ein paar Worte mit den jungen Männern aus und lassen sich einen Kakao reichen. Einige der Fahrer lassen Noheh laut aus ihren Fenstern tönen, eine musikalische Form der Rezitation, die bei Prozessionen oder Versammlungen gesungen wird, was gerade unter jungen Männern im Moharram als besonders ‚in gilt. Dabei werden CDs auch als „Auto-Spezialaufnahme” verkauft – mit besonders vielen Beats.
Am Rand der Teebude steht ein junger Mann und ärgert sich: „Im Ernst, die Meisten hier kommen doch gar nicht wegen Imam Hosein, sondern zum Flirten. Aber warum nennen sie sich dann Muslime?” Verschwörerisch fügt er hinzu: „Dort unten, nur ein paar hundert Meter weiter, da gibt es einen Ort, dort trinken die Leute Kakao und dann zeigen die Frauen den Männern ihre Brüste im Auto!” Just in diesem Augenblick laufen zwei Iranerinnen mit kurzen Mänteln die Straße entlang. Mit seinem Kopf macht der junge Mann eine verächtliche Bewegung und meint „Siehst Du!” Und auch anderenorts äußert ein junger Student aus der Oberschicht Kritik an der Verwässerung des Gedenkens. Er sei gerade von einer Prozession zurückgekehrt. Dort hätten die Männer, während sie sich mit Ketten geißelten, mit jedem Schlag eine Ziffer ihrer Telephonnummern ausgerufen und somit den der Prozession folgenden Frauen mitgeteilt. An sich sei es schon gut, dass sich Männer und Frauen unbehelligt in der Öffentlichkeit unterhalten können, doch sei der Moharram dafür nicht die richtige Zeit.
Dabei zeigt die Sittenpolizei in den ersten Tagen des Moharram wieder starke Präsenz in den Straßen und an den Hauptplätzen der Stadt. Doch wagt sie es nicht, Prozessionen und mit religiösen Vereinigungen zusammenhängende Orte zu überwachen. So entstehen im Moharram Orte, die abseits von Parks, Restaurants und kulturellen Einrichtungen einen relativ zwanglosen öffentlichen Raum eröffnen. Als gesellschaftlich akzeptabel werden Bekanntschaften romantischer Natur, die im Rahmen der Festlichkeiten geschlossen werden, jedoch keineswegs akzeptiert und auch ist das Flirten auf der Straße kein singuläres Phänomen, das sich auf den Moharram beschränkt. Allerdings gibt es eine persische Bezeichnung für die Kombination von Moharram-Prozession, Kakao, Flirt und Ulk: „Hosein-Party”.
Schwarze und weiße Schafe
Ein paar Meter vom Teestand in Kamranieh entfernt hält unterdessen ein Geistlicher im Zelt eine Predigt vor rund einem Dutzend junger Männer. Er folgt dabei einer Elegie, die er immer wieder für Erläuterungen und Ausführungen unterbricht. Seine Ansprache gilt den Alten, Kranken und besonders denjenigen, die an Krebs erkrankt sind. Daneben führt er Allgemeines zum Islam aus, erörtert zum Beispiel die theologische Notwendigkeit eines jeden Laien, einem Großajatollah (mardscha) zu folgen. Er sei in Kerbela gewesen, sagt der Geistliche, dort hätten die Massen ehrfürchtig und steif das Heiligtum betreten, in Teheran jedoch flössen mehr Tränen für den Imam. Doch dies sei noch nicht genug, fährt er fort: „Wir müssen für den Imam auf die Straße gehen, wie wir es nach der Qualifikation für die Fußballweltmeisterschaft getan haben!” Zum Ende seiner Erbauungsansprache nehmen die Rezitationsanteile zu, das Licht wird gedimmt, die Anwesenden schlagen sich auf die Brust, der Geistliche schluchzt mit sich überschlagender, belegter Stimme. Er schließt mit Segenswünschen für den schiitischen Islam, den Iran und die Parlamentsabgeordneten und fügt Flüche über die Feinde des Irans, des Islams und insbesondere über Saudi-Arabien hinzu. Vor dem Zelt bittet er dann noch darum, „ein Erinnerungsphoto für Facebook” zu schießen und tauscht Nummern aus.
Ein Anwesender spricht eine Warnung aus: Den Pfaffen (achund) sei nicht zu trauen, wer ihnen mehr als eine Woche zuhöre, werde in letzter Konsequenz vom Islam abfallen. Das einzige was jene könnten, sei es zu lügen. Und auch in einer anderen religiösen Vereinigung, die ebenfalls im Norden Teherans von Basaris finanziert und ehrenamtlich geführt wird, herrscht ein starkes Ressentiment gegenüber der Geistlichkeit. Während ein Geistlicher das Areal betritt, um eine Predigt zu halten, merkt ein Vereinigungsmitglied apologetisch an: „Er ist nicht einer von den normalen Pfaffen, er ist einer von den Guten, einer von zehn... Nicht alle von ihnen stehen hinter diesem Staat. Und auch Imam Hosein hätte ihn nicht akzeptiert!” Er fügt hinzu, normale Leute benötigten keinen Großajatollah (mardscha), lediglich diejenigen, die trocken den religiösen Vorschriften folgten. Er jedoch wisse, was richtig und was falsch ist. „Im Ramadan faste ich und im Moharram mache ich das hier”, sagt er, deutet auf das Zelt und lenkt das Gespräch zu Angela Merkel und ihrem abgehörten Mobiltelephon.
Während die Kinder mit Trommeln und Flaggen spielen und sich ihre Frauen und Freundinnen etwas abseits vom Geschehen unterhalten oder aber in ihrem abgetrennten Bereich des Zeltes sitzen, bereiten sich die Männer auf die Prozession vor. Sie trommeln sich warm, geben sich letzte organisatorische Ratschläge. Ein Schaf wird geschlachtet: „Keine Fotos! Nachher zeigt es die BBC und nennt uns Barbaren!” Die Prozession (dasteh) formiert sich. An ihrem Kopf laufen Kinder, sie schwenken die grünen, roten und schwarzen Flaggen und künden das Kommen der Prozession an. Hiernach folgt der Alamat, eine schwere, reichgeschmückte Metallkonstruktion, die wie ein übergroßes Tragjoch von mehren Männern getragen wird. Und nach ihr laufen die Geißler, die sich im Takt der in der Mitte laufende Trommler rhythmisch auf die Brust oder sich mit Kettengeißeln schlagen. Am Ende schieben ein paar Männer einen kleinen, häufig dekorierten Wagen mit Lautsprecher und Mischpulten. Die Frauen und andere Begleiter säumen die Straßen. Die Routen sind häufig traditionell, sie laufen zu Schreinen oder alten Hoseiniyyes, permanenten Versammlungshallen für Aschura-Rituale.
Während nach der Prozession Noheh-Musik („Ich bin verrückt nach Hosein!”, „Brustschlagen ist die Krone des Gottesdienstes!”) aus dem Zelt schallt, beginnen die erschöpften Anwesenden wieder zu diskutieren. Sie beurteilen die Qualität der einzelnen Sänger. Dann sagt einer: „Wenn Du den wahren Islam sehen möchtest, dann höre nicht auf die Mollahs, sondern schau Dir an, wie der Schah nach Mekka gewallfahrtet ist. Wie Farah Pahlavi nach Schah Abdolazim [ein Schrein im Süden Teheran] gepilgert ist – ganz ohne Propaganda und Selbstdarstellung!” Darauf ein anderer: „Ich glaube keinem von beiden, auch der Schah war ein Diktator und ein Feigling!” „Nein, er war nur zu stolz!” „Wenn wir den Schah noch hätten, dann würden wir heute nicht hier stehen!” „Das ist nicht wahr, auch in der Schah-Zeit gab es viele religiöse Vereinigungen!” Halb im Ernst und halb im Scherz setzen sie ihre Diskussion fort und wetten 200 Toman (rund 50 €) auf den Ausgang der anstehenden 5+1-Runde in Genf. Und der Erste sagt: „Es gibt schwarze und weiße Schafe und es gibt braune Schafe. Was ist der Unterschied? Am Ende sind es alles Schafe!”
Die Diskussion über Säkularismus und Religiosität geht hier weit über die häufig beschriebene Dichotomie hinaus, die religiösen Akteuren häufig Zustimmung zu den politischen Realitäten unterstellt. Hier sind es jedoch in religiösen Vereinigungen tätige Basaris, die früher auch Teil der Machtbasis der Islamischen Republik waren, die sowohl die religiöse Orthodoxie als auch das Establishment herausfordern. Sie reklamieren – auch im „säkularen Norden” Teherans – über die Aschura-Feiern eigene religiöse Räume. Dabei verfolgen die Kritik an der Verwässerung der Aschura-Feiern und diejenige am Klerus das gleiche Ziel, nämlich die Rückbesinnung auf die „eigentlichen Werte von Aschura”. Wer diese schließlich definieren und ausgestalten kann, bleibt – wie schon seit Jahrhunderten – eine brisante und letztlich offene Frage.
Christian Funke ist Lehrbeauftragter am Institut für Religionswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Religionsästhetik, moderner und kontemporärer Iran sowie schiitischer Islam.