10.02.2015
Hinter verschlossenen Mauern: In Marokko soll das jüdische Erbe wieder sichtbar werden
Der jüdische Friedhof in Essaouira wird von Ehrenamtlichen gepflegt. Foto: Isabelle Daniel (C)
Der jüdische Friedhof in Essaouira wird von Ehrenamtlichen gepflegt. Foto: Isabelle Daniel (C)

Seit dem Sechstagekrieg 1967 ist die einst größte jüdische Diaspora in der arabischen Welt auf ein Minimum geschrumpft – zum Bedauern vieler Muslime. Ehrenamtliche engagieren sich daher für die Restaurierung religiöser Stätten und eine Wiederbelebung jüdischen Lebens in Marokko. Von Isabelle Daniel

Essaouira, am achten Tag des Chanukka-Festes: Wenig deutet darauf hin, dass die windige Hafenstadt am Atlantik einst mehrheitlich von Juden bewohnt war. Bis in die 1960er Jahre lebten hier Juden, Christen und Muslime Seite an Seite. Heute gibt die einst florierende Mellah, das jüdische Viertel, ein verwahrlostes Bild ab. Zumindest auf den ersten Blick: Denn hinter den heruntergekommenen Fassaden arbeiten Stiftungen, der Staat und muslimische Freiwillige an der Restaurierung der beiden bedeutendsten Synagogen der Stadt.

So auch Brahim. Er arbeitet im ersten Stock eines unscheinbar wirkenden Gebäudes in der historischen Mellah. Nur der oberhalb der Hausnummer 119 eingelassene Davidstern lässt darauf schließen, dass es sich um ein jüdisches Gotteshaus handelt. Die bewegte Geschichte der Slat-Lkahal-Synagoge fand 1972 ein jähes Ende. Es war das letzte Mal, dass in Essaouira ein jüdischer Gottesdienst abgehalten werden konnte, der den Minjan – das für einen Gottesdienst im Judentum nötige Quorum von zehn mündigen Gläubigen – erfüllte. „Heute leben nicht mehr genug Juden in Essaouira, um zum gemeinsamen Gebet zusammenzukommen. Soweit ich weiß, sind es noch zwei oder drei“, sagt Brahim. Er gehört zu jenen muslimischen Ehrenamtlichen, die sich um die jüdischen Stätten kümmern und Besucher über die multireligiöse Geschichte der Stadt aufklären.

Narrative für den Exodus

Für Brahim heißt Essaouira noch Mogador – wie vor der Unabhängigkeit Marokkos. Der Name symbolisiert für ihn allerdings nicht die koloniale Vergangenheit, sondern das multikulturelle Erbe seines Landes. „Die Juden kamen vor mehr als 2000 Jahren nach Marokko – weit vor den Arabern also. Noch vor 50 Jahren gab es hier fast eine halbe Million Juden. Das wissen viele Besucher nicht.“

Anders die Marokkaner: Die Lokalbevölkerung kommt schnell über die „verlorenen Juden“ ins Gespräch, wie es oft heißt. Mit zwei scheinbar konkurrierenden Narrativen wird die Abwanderung der einst bedeutenden Minderheit zu erklären versucht: Die vehemente Rekrutierungspolitik Israels nach der Staatsgründung habe die jüdische Emigration aus Marokko befeuert, beklagen viele. Andere geben dem besonders in Nordmarokko wenig beliebten früheren König Hassan II. die Schuld am Exodus der Juden. Als in der zweiten großen Auswanderungswelle nach den Nahostkriegen 1967 und 1973 Zehntausende gut ausgebildeter Juden Marokko verließen, habe sich das damalige Staatsoberhaupt zu wenig bemüht, die meist staatsloyalen jüdischen Mitbürger zum Bleiben zu bewegen.

Breites Bewusstsein für jüdisch-marokkanische Geschichte

„Die meisten Erwachsenen wissen um das jüdische Erbe Essaouiras. Anders als die Präsenz des Christentums wird die jüdische Geschichte nicht mit der Protektoratszeit assoziiert und ist deshalb eher positiv konnotiert“, sagt Lynn Sheppard. Die Autorin und Expertin für die Geschichte Essaouiras leitete in den Jahren 2012 und 2013 ein von der US-Regierung gefördertes Projekt der amerikanisch-marokkanischen High Atlas Foundation (HAF) zur Erhaltung der christlichen, muslimischen und jüdischen Friedhöfe in Essaouira.

Zum Projekt gehörte auch ein Bildungsprogramm, um muslimischen Kindern die multikulturelle Geschichte Essaouiras näherzubringen. Mehr als 400 junge Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien nahmen an dem Programm teil. Sie waren die ersten muslimischen Kinder, die den jüdischen Friedhof betraten. „Viele der Kinder hatten noch nie von der multikulturellen Vorgeschichte ihrer Stadt gehört. Sie waren unzählige Male an den hohen Mauern der christlichen und jüdischen Friedhöfe vorbeigegangen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbarg.“

Gemeinsames Gebet von Muslimen und Juden

Die Ermutigung der jungen Teilnehmer, mit ihren älteren Verwandten über deren Erinnerungen an die Vergangenheit zu sprechen, habe interessante Ergebnisse zutage gefördert. „Die Großeltern vieler Kinder berichteten von einem insgesamt friedlichen Miteinander der Religionen. Das eigentliche Ziel, die Unterschiede zwischen den Religionen aufzuzeigen, wurde ganz automatisch ersetzt durch die vielen Gemeinsamkeiten, die die Schüler entdeckten.“ Gerade die in der jüdischen wie auch muslimischen Gemeinde Essaouiras tief verankerte Kultur der Verehrung von Heiligen und alter, weiser Gläubiger habe die Kinder fasziniert.

Ein Foto aus den 1960er Jahren, das ein älterer Bewohner Essaouiras bei sich gefunden hatte, wiederum beeindruckte auch Sheppard selbst. Es zeigt eine Gruppe von Muslimen und Juden in der Medina, die gemeinsam für Regen beten.
„Sehr überrascht war ich, als wir die Kinder Monate nach dem Abschluss des Friedhofsprojekts erneut trafen, um über ihre Visionen für die Zukunft Essaouiras zu sprechen. In den Antworten zeigte sich, wie sehr sich die Kinder noch an dem orientierten, was sie in unserem Projekt über die Geschichte Essaouiras gelernt hatten. Die Vorstellung einer friedlichen multikulturellen Gesellschaft hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt."

Jüdisch-marokkanisches Miteinander bleibt ein historisches Ereignis

Das HAF-Projekt habe Grenzen überwunden, sagt auch der Direktor der Stiftung, Yossef Ben-Meir. Zwar sei es für Besucher schon immer möglich gewesen, den jüdischen Friedhof zu besuchen. Für junge Muslime habe sich diese Gelegenheit jedoch erst durch die Initiative seiner Stiftung ergeben. „Und umgekehrt: Juden konnten erstmals den muslimischen Friedhof besichtigen“, so Ben-Meir.

Das Problem: Die Interaktion von Muslimen und Juden in Essaouira ist in erster Linie historisch und auf Ausnahmefälle beschränkt. Zwar zieht Marokko mit seinem bemerkenswerten jüdischen Erbe jährlich eine Vielzahl jüdischer Touristen an. Essaouira ist eine typische Station auf solchen Kulturreisen, auch wegen der Grabstätte des wichtigen sephardischen Rabbiners Chaim Pinto.

Die Reisegruppen aus Israel, den USA und Europa übernachteten jedoch, auch in Essaouira, oft in großen Hotels außerhalb der Medina, sagt Sheppard. „Ich bezweifle, dass es viele Begegnungen zwischen der Lokalbevölkerung und den jüdischen Touristen gibt. Gerade für jene Bewohner Essaouiras, die in prekären Verhältnissen leben, stellt sich deshalb die Frage, welchen Nutzen ihnen dieser spezielle Tourismus bringt. Um die Bedeutung der interkulturellen Geschichte für ein modernes Marokko über die intellektuellen Kreise hinaus in die breite Bevölkerung zu tragen, müssten solche Begegnungen unbedingt gefördert werden.“

Slat Lkahal: Jüdisch-arabische Wurzeln

Brahim begegnet den Touristen regelmäßig. Manchmal seien es mehr, manchmal weniger Interessierte, die in die Slat-Lkahal kämen, um sich über die jüdische Geschichte Essaouiras und den Stand der Restaurierungsarbeiten zu informieren. Mindestens einen Besucher pro Tag könne er jedoch verzeichnen, sagt Brahim.

Eine der häufigsten Fragen, die man ihm stellt, ist die nach dem Namen der Synagoge. Slat Lkahal ist halb hebräisch, halb arabisch und bedeutet so viel wie „Synagoge der Gemeinschaft“. Angeblich sollen Mitte des 19. Jahrhunderts Töpfe in Essaouira herumgereicht worden sein, in denen Geld für die Errichtung des Gotteshauses gesammelt wurde – solange, bis es keine Töpfe mehr in der Stadt gegeben habe. Das war im Jahr 1850. Slat Lkahal wurde das wichtigste Zentrum jüdischen Lebens im damaligen Mogador – im sozialen wie im religiösen Sinne.

Für Brahim ist die in unmittelbarer Nähe zur nächsten Moschee gelegene Synagoge daher auch ein Symbol jüdisch-muslimischer Nachbarschaft in Marokko. Seit 2012 fördert die Unesco den Wiederaufbau des Gebäudes. „Wichtiger ist die private Unterstützung“, sagt indes Brahim und deutet auf die Spendenbox am Ausgang. „Fast alle Besucher spenden etwas. Weil sie wollen, dass wir uns wieder an die Vergangenheit erinnern.“

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