Der gesellschaftliche Kontext der Bildungsreform der 1990er Jahre
Bevor ich die Initiativen zur Bildungsreform präsentiere, möchte ich diese zunächst in den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Nachbürgerkriegszeit einbetten, die von einem Nebeneinander aus Kontinuitäten und Brüchen gekennzeichnet ist.
Der physische Wiederaufbau des Landes stand dabei ganz klar an erster Stelle, eine gesamtgesellschaftliche psychische Aufarbeitung hingegen wurde vermieden. Ohnehin war eine wirklich offene Diskussion bis zum (offiziellen) Ende der syrischen Hegemonie 2005 kaum möglich, zudem stand ein Großteil des Südlibanon bis 2000 unter israelischer Besatzung, so dass nicht einmal der physische Frieden überall durchgesetzt war.
In der Schule äußerte sich das in unausgesprochenen Konventionen, die bestimmte Themen insbesondere die syrische Rolle im Libanon, aber auch generell Fragen zu Verlauf und Ursachen des Bürgerkrieges tendenziell unterdrückte[1]. Nicht nur die Schule verschloss der Nachkriegsgeneration die Türen zu Information und Aufarbeitung, auch im Elternhaus fanden sie nur bedingt offene Antworten.
Die im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Einwirkungen der Bürgerkriegsgeneration prägte diese nachhaltig und determinierte ihr Verhältnis als Eltern gegenüber den Fragen der Kinder. Die Palette von Verhaltensmustern war und ist ebenso vielfältig wie auch während des Bürgerkrieges. Während viele die düsteren Jahre verdrängten und einem romantisierten Bild von der „Schweiz des Nahen Ostens“ nachhingen, klammerten sich andere an den konfessionalistischen Rückhalt, der ihnen während des Krieges das Überleben ermöglichte. Die Reaktion der Jugendlichen präsentierte sich genauso gegensätzlich. Während einige die Elterngeneration als „Gefangene der Vergangenheit“ sahen, fügten sich andere in die durch den Krieg gefestigten konfessionalistischen Rahmen[2].
Interessanterweiser wirkten sich diese Gegensätze anscheinend kaum auf die Wahrnehmung von privatem und staatlichem Schulwesen aus: Bis heute schicken libanesische Eltern, soweit sie es vermögen, ihre Kinder lieber auf Privatschulen. Diese genießen einen deutlich besseren Ruf und verfügen über wesentlich modernere Einrichtungen[3] – ob die Schulen allerdings mental eher spalten, denn einen spielt dabei offensichtlich kaum eine Rolle. Dementsprechend hielt sich die Bildungspatronage auch im Nachkriegslibanon, schließlich bestimmte die Nachfrage nach guten Abschlüssen und damit Zugang zu Jobs und Ressourcen, nicht die Aufarbeitung der Vergangenheit die Rolle des Privatschulwesens[4].
Die Jugendlichen wiederum konnten es sich teilweise erlauben, sich diesen Fragen zu entziehen, schließlich bot die neu florierende Konsumkultur genug Ablenkungsmöglichkeiten – Resignation und Politikverdrossenheit wurden deutlich sichtbar und erinnern an ähnliche Muster in westlichen Gesellschaften[5]. Wenn sie doch nach Antworten suchten, so fanden sie sie oft genug bei den politischen Parteien, von denen der Großteil in die Nachkriegsordnung eingebunden wurde[6].
Strukturell besaßen viele Parteien und Politiker immer noch großen Einfluss auf Bildungseinrichtungen und waren kaum bereit so viel Einfluss und Prestige zugunsten zentralisierter Standards aufzugeben, auch wenn sie selbst Mitglieder der Regierung waren. Ideologisch und persönlich waren sie zudem tief verstrickt in die Geschehnisse des Bürgerkrieges, so dass den wenigsten eine wirkliche Aufarbeitung im Rahmen des Erziehungswesens am Herzen lag[7].
Unter diesen Bedingungen verfügten die Reforminitiativen zum Bildungswesen also über denkbar schlechte Ausgangsvoraussetzungen.
Die gescheiterten Bildungsreformen der 1990er Jahre
Ebenso wie seine Vorgänger Verfassung und Nationalpakt erwies sich auch das dritte Gründungsdokument der Libanesischen Republik in seinen Vorgaben vage und interpretationsoffen[8]. Das Taif-Abkommen versuchte wieder einmal den Ausbau des staatlichen Schulwesens und den gleichzeitigen Schutz des Privatschulwesens miteinander in Einklang zu bringen. Zudem sollte an die schon vor dem Krieg geplanten Standardisierung in Curricula und Lehrmittel angeknüpft werden[9].
Zu diesem Zweck wurde das Educational Centre for Research and Development (ECRD[10]), eine Unterabteilung des Bildungsministeriums, ins Leben gerufen. Erstmals in der libanesischen Geschichte sollten Curricula und Lehrmittel auf Basis erziehungswissenschaftlicher Forschung erstellt werden, gefördert wurde die Initiative von UNESCO[11].
Zwar ging es um eine Neuausrichtung aller Fachbereiche, dennoch wurde bald klar, dass der Bereich Geschichte eines der wichtigsten und das zugleich umstrittenste Feld darstellte. 1994 wurde ein Bildungsplan vorgestellt, der auch diesen Bereich umfasste und einen einheitlichen Lehrplan sowie einheitliche Lehrbücher enthielt[12]. Wie zu erwarten war, scheiterte die Umsetzung am Widerstand der Religionsgemeinschaften. In sonst seltener Einmut machten sie damit ihren Anspruch auf Bildungsautonomie und -autorität deutlich[13]. Vielleicht aber scheiterte das CERD auch an seinen unrealistischen Zielvorgaben zur Konstruktion einer libanesischen Identität. Die Forscher lehnten konfessionelle Geschichtssichten zwar ab, versuchten stattdessen aber einen einheitlichen „homo libanicus“ herbeizuschreiben[14].
Bereits im nächsten Jahr präsentierte das CERD einen neuen Ansatz. So sollte das Fächerspektrum um Staatsbürgerkunde und gemeinsamen Religionsunterricht erweitert werden, die Reform des Geschichtsunterrichts hingegen erst einmal vertagt.
Während die Etablierung des Staatsbürgerkundeunterrichts bis heute als der wohl größte Erfolg des Zentrums gesehen werden kann[15], stieß der interkonfessionelle Religionsunterricht auf den Widerstand der Religionsgemeinschaften, die sich keine Einmischung in ihr ureigenes Metier bieten ließen[16].
Erwartungsgemäß erging es auch dem überarbeitem Plan für den Geschichtsunterricht nicht anders. Der neue Curriculum war darauf bedacht, die sonst sehr verschieden gewichteten historischen Epochen gleichwertig zu behandeln, endete jedoch mit der libanesischen Unabhängigkeit 1943[17]. Schlimmer noch, gab es immer noch keine verbindlichen Geschichtsbücher, da auch der bislang letzte Versuch solch eines zu veröffentlichen vom damaligen Bildungsminister höchstpersönlich unterbunden wurde. Diesmal warf man den Forschern vor, Libanon habe im neuen Lehrbuch gar keine erkennbare Identität. Wenn diese Erkenntnis auch näher an der Wahrheit gelegen haben mag, als die Konstruktion einer einzelnen, distinkt libanesischen Identität, so war das Ergebnis für die Politik untragbar, schließlich war doch gerade Identität zum Vehikel für Loyalität vorgesehen[18].
Die Abwesenheit standardisierter Lehrbücher betraf sowohl den staatlichen als auch den privaten Bildungssektor. Während in den staatlichen Schulen weiterhin mit den veralteten, letztmalig Ende der 60er Jahre überarbeiteten Büchern Vorlieb nehmen mussten, verwendeten die konfessionellen Privatschulen weiterhin ihre eigenen Lehrmittel und entzogen sich somit den staatlichen Reformbemühungen[19].
Die Auseinandersetzung um ein neues Geschichtslehrbuch offenbarte mehrere inhärente Schwachstellen der Bildungsreform. Das prinzipielle Problem bestand in der auch nach Taif beibehaltenen Arbeitsteilung von Bildungsministerium und Religionsgemeinschaften. So sollte die Behörde nationale Standards in den Curricula schaffen, während die Gemeinschaften weiterhin über Personal, Lehrmethoden und –mittel in ihren Schulen entschieden[20]. Besonders letzteres aber stand im Mittelpunkt der Reformbemühungen und sollte mit den Curricula in Einklang gebracht werden. CERD schaffte weder dies, noch konnte sie einen vollständigen Curriculum inklusive des Bürgerkrieges durchsetzen. Eindeutig zogen die Bildungsforscher im Kompetenzgerangel gegenüber den Religionsgemeinschaften den Kürzeren. Entscheidungen im Bildungsbereich wurden nicht aufgrund ihrer Expertise, sondern auf politischen Druck hin getroffen[21]. Zudem wurde die Autorität des Zentrums durch konkurrierende Bildungsressorts innerhalb der Regierung unterlaufen, deren Kompetenzen sehr unklar abgegrenzt waren und wohl mehr behinderten denn halfen[22].
Kein Wunder also, dass sich viele Forscher bald frustiert vom CERD abwandten. Doch selbst wenn die Pläne des CERD Eingang in libanesische Klassenräume gefunden hätten, so oblag deren konkrete Umsetzung den Lehrkräften. Zwar hatte es für die staatlichen Schulen Pläne für Lehrerfortbildung, letztendlich scheiterten diese an der fehlenden Rückendeckung durch die Regierung, während in den privaten Schulen jegliche Personalfragen in den Kompetenzbereich der Religionsgemeinschaften lagen[23]. Das für diesen Fall vorgesehene staatliche Inspektionsrecht war wohl kaum mehr als ein Feigenblatt, in Wirklichkeit hatten die Behörden kaum Möglichkeiten tatsächlich zu prüfen, ob vorgegebene Standards auch eingehalten wurden[24]. Die in allen Sektoren notorische Korruption tat ihr Übriges, um diesen Zustand aufrechtzuerhalten, so dass der Geschichtsunterricht auf diesem Wege wohl kaum mehr zu reformieren war.
[1] Fattah, Hassan: “A Nation With a Long Memory, But a Truncated History“, in: The New York Times 10.1.2007.
[2] Volk untersuchte 1999 mit einem anthropologischen Ansatz diesen Generationenkonflikt. Vgl.: Volk, Lucia: Everyday Lives of a New Generation: Growing up Across "Continua of Cultural Space", San Domenico, 2001, S. 4, 18.
[4] Rafiq al-Hariri (1944-2005) und sein rasanter Aufstieg in den 90er Jahren ist nur eines von vielen Beispielen. Vgl.: Klaus: S. 41.
[7] Einzig Geagea, Führer der Lebanese Forces, wurde (allerdings wegen Verbrechen nach dem Bürgerkrieg) 1994 verurteilt, 2005 jedoch begnadigt und ist heute Mitglied der Regierungskoalition. Auf die Lebanese Forces wird später noch kurz eingegangen, da sie als einzige nennenswerte Bürgerkriegspartei zeitweise verboten wurde und sich relativ spät in die Nach-Taif -Ordnung fügte.
[9] “La révision et le développement des programmes dans le but de renforcer l’appartenance et l’intégration nationales, et l’ouverture spirituelle et culturelle, ainsi que l’unification du livre scolaire dans les matières d’histoire et d’éducation nationale“, gefunden unter: http://fr.wikisource.org/wiki/Accord_de_Taef.
[12] Abouchedid / Nasser / Van Blommestein: S. 3 sowie Farah-Sarkis, Fairouz: “Educational Policy-making and Research: The Case of Lebanon“, in: Rokicka, Wanda (Ed.): Educational Documentation, Research and Decision-making, Paris (Unesco), 1999, S. 176.
[14] Mouzoune, Abdelkrim: “From the Duty to the Need to Live Together in Lebanon“, in: Prospects 28,2 (1998), S. 214.
[15] Kriener, Jonathan: „Was Heißt Hier Eigentlich Libanesisch? Wie die Entwicklung von Schulbüchern die Libanesische Identität Herausfordert“, in: Der Arabische Almanach 2004/05, S. 24.
[16] Der Kompromiss bestand in optionalem Religionsunterricht, getrennt nach Konfession. Vgl.: Inati: S. 7.
[17] Vgl.: Sanjakdar, Kamal: “Rewriting Lebanon’s History Remains Complicated“, in: Alternative Online 15.9.2003.