Das Bildungswesen bis zum Bürgerkrieg
Gleich zu Beginn des unabhängigen Staates Libanon stand die Bildungspolitik im Fokus und drehte sich vor allem um zwei Punkte: Zum Einen sollte der Lehrplan weiter bzw. eigentlich neu zentralisiert werden, zum Anderen stand die Beziehung des neuen souveränen Libanon zum Privatschulwesens auf der Agenda[1].
Schon der erste Punkt sorgte für großen Dissens, schließlich wurde die bisherige Zentralisierung durch Französisch durch Arabisch abgelöst, das von nun an für alle Schultypen obligatorisch zu unterrichten war[2]. Die Befürworter beriefen sich dabei auf den ungeschriebenen Nationalpakt von 1943, der den Libanon als Land „mit arabischem Gesicht“ (balad bi-waºh þarabÍ) definierte. Die Gegner, vorwiegend die französischen Schulen, hingegen machten einen deutlichen Unterschied zwischen „Libanisierung“, die sie unterstützten, und „Arabisierung“, die sie ablehnten. Die Sprachenfrage war also wieder eindeutig ideologisch überladen, die Gegner der staatlich verordneten Arabisierung fürchteten mithin einen einhergehenden Assimilierungsversuch auch in religiöser und kultureller Hinsicht[3] – auch dieser Aspekt ist bis heute eine wesentliche Konstante in der Auseinandersetzung um Bildungsreformen.
Was die Bildungsstufen angeht, so wurde das französische Modell weitgehend übernommen, allerdings mit einem „nationalen“ Curriculum gefüllt. Die Fächer Geschichte und Geographie wurden für alle verpflichtend gemacht und sollten zudem auf Arabisch unterrichtet werden[4] – ein klarer Hinweis für die Wichtigkeit, die die libansesische Staatsführung dem formativen Charakter dieser Disziplinen zumaß.
Der zweite zentrale Punkt bereitete der libanesischen Regierung noch viel mehr Probleme. So sah ein 1950 verabschiedetes Gesetz eine gewisse staatliche Überwachung der Privatschulen durch das Bildungsministerium vor, ohne das jedoch genau zu definieren. Wenn es auch für den Staat praktisch unmöglich war ein solches Inspektionssystem zu unterhalten, empfanden die für das private Bildungswesen zuständigen Religionsgemeinschaften diese staatliche Einmischung an sich als Affront und ließen das Gesetz zum Scheitern bringen[5].
Zudem scheiterte der libanesische Staat in einem weiterem Bereich, der in den kommenden Jahrzehnten, besonders aber in der Nachbürgerkriegsära, an Bedeutung gewinnen sollte, nämlich der Ausarbeitung verbindlicher Geschichtslehrbücher. Prinzipiell sah ein ebenfalls 1950 erlassener Gesetzteszusatz vor, dass alle Geschichtsbücher über libanesische Geschichte dem Bildungsministerium zur Genehmigung vorzulegen seien. Lehrbücher, die nicht-libanesische Geschichte behandeln unterlagen damit keinerlei Kontrolle – ebenso wurde den Privatschulen zugestanden, neben dem nationalen Curriculum weitere Fächer zu unterrichten sowie eigene Abschlüsse einzuführen[6].
Ein grundsätzliches Problem, das jegliche Reformversuche konterkarierte, stellte dabei stets die Konfiguration der politischen Elite dar. Die meisten in solch hohe Positionen gekommenen Politiker hatten ihre Ausbildung an eben jenen Privatschulen genossen, standen also gewissermaßen auch persönlich in einem Interessenkonflikt[7]. So wurde der Ansatz, das System über die partielle Inkorporation der Privatschulen zu reformieren, fallen gelassen.
Wenn an dieser Front kein Übereinkommen zu erzielen war, so wandte man sich jetzt dem Aufbau des staatlichen Bildungswesens zu. Besonders Präsident Fouad Chehab erhob den Bildungsaufbau besonders unterentwickelter Regionen, wie des Nord-, des Südlibanons und der Bekaa zur vorrangigen Priorität. Dennoch offenbarte sich auch hier ein weiteres Charakteristikum libanesischer Politik an sich: So konnte man zwar die infrastrukturelle Lage deutlich verbessern, die Kontrollmechanismen jedoch fehlten der Staatsmacht oft genug[8].
Eben jene Auflösung staatlicher Autorität wurde für den Libanon in den 60/70er Jahren zunehmend kennzeichnend. Es wurde deutlich, dass knapp drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit mehrere, konkurrierende Versionen von Loyalität und Identität nebeneinander existierten. Ein nationales, intergratives Miteinander war nicht nur vefehlt worden, schlimmer noch, eskalierte die Auseinandersetzung in den bis 1991 andauernden Bürgerkrieg.
Die Bildungsfrage war dabei nicht vorrangig, aber zumindest Teil in einem Paket von ideologisch überladenen Streitfragen. Interessanterweise fallen denn auch die ersten ernsthaften Reformversuche nach über einem Jahrzehnt in jene Zeit der Eskalation und Ausweitung der libanesischen Krise Ende der 60er Jahre, erfuhren jedoch eben dadurch ein jähes Ende.
Als neuer Akteur trat dabei das staatliche Hochsculwesen erstmals in Erscheinung. Die Université Libanaise hatte bis 1959 lediglich aus der Fakultät für Erziehung bestanden, war also thematisch voll in die Diskussion involviert[9]. Der wesentliche Impuls jedoch kam durch die rasante Penetration der Universität(en) durch Parteien jeglicher Couleur. Besonders links ausgerichtete Parteien setzten die Bildungspolitik auf ihre Agenda und verbanden sie mit gesamtgesellschaftlichen Forderungen[10]. Die Bewegung der Studenten schwappte sehr schnell auf das staatliche Schulwesen über - Im Falle der UL sehr naheliegend, schließlich waren viele (junge) Lehrer Absolventen erwähnter UL-Fakultät.
Die Parteien erkannten im Bildungswesen, ebenso wie der kaum existente Staat, also ein Reservoir potentieller Unterstützung, welches normativ gemäß ihrer ideologischen Ausrichtung genutzt werden könnte – Somit avancierte die Unterwanderung des Schulwesens durch die Parteien in den Jahren vor dem Bürgerkrieg zu einem weiteren Merkmal, das sich bis heute hartnäckig hält.
d) Das Bildungswesen während des Bürgerkriegs
Der von 1975 bis 1991 wütende libanesische Bürgerkrieg wirkte sich fundamental auf die Bildungslandschaft des Landes aus. Während viele Libanesen das Exil wählten, mussten die Verbliebenen mit erheblichen Ausfallerscheinungen kämpfen.
Obwohl die Intensität des Krieges ständig schwankte und es auch zu monatelangen Friedenszeiten kommen konnte, verringerte sich das durchschnittliche Schuljahr auf gerade drei Monate[11]. Besetzungen von Schulgebäuden, Bombardements und ständig fluktuierende Schüler- und Lehrerzahlen ließen kaum an einen normalen Schulalltag denken. Für Lehrer wie Schüler barg der Schulweg oft genug Gefahren, besonders in den hart umkämpften urbanen Zentren Beirut und Tripoli. Die Eltern standen vor einem Dilemma: Sollten sie ihren Kindern ein gewisses Maß an Bildung und sozialem Umgang ermöglichen oder sie lieber sicher im Haus bewahren?[12]
So überrascht es kaum, dass ein Großteil der Wissensvermittlung während des Krieges von den Eltern geleistet wurde, so wie sich die Sozialbeziehungen oft auf die Familie und die unmittelbare, gleichkonfessionelle Nachbarschaft zurückzogen[13].
Fundamental und vielschichtig wirkte sich der Krieg insbesondere für die Jugendlichen aus.[14] Sie standen in einem oft widersprüchlichen Spannungsfeld von Opfer und Täter, schließlich füllten sie in großer Zahl die Reihen der Milizen. Neben dieser nicht selten zwangsweisen Rekrutierung an den Schulen, schlossen sich viele auch freiwillig bewaffneten Verbänden bei. Angesichts der düsteren Zukunftsaussichten mochte der Dienst in einer Miliz durchaus eine Perspektive bieten, zumal sich die Heranwachsenden in relativ kurzer Zeit Status erwerben zu hofften[15].
Mögen die zu Beginn des Krieges vorgetragenen Programme und Argumente noch ideologische Zugkraft besessen haben, so führte der notorische Allianzenwechsel jegliche rationale Rechtfertigung für das Blutvergießen ad absurdum. Resignation, Desinteresse, inneres und äußeres Exil waren die Folge und drohte die Basis der Parteien-Milizen zu untergraben[16]. Gerade zu dieser Zeit lässt sich eine neue ideologische Ausrichtung der Milizen beobachten: So spielten sie ab Anfang/Mitte der 80er Jahre bewusst mit Existenzängsten auf konfessioneller Basis. Die rechtsgerichteten maronitischen Lebanese Forces (Al-QuwwÁt Al-LubnÁnÍyya) beispielsweise warnten vor der vermeintlich geplanten Auslöschung der christlichen Präsenz im Libanon, gar im gesamten Orient[17].
Begleitet wurde diese ideologische Abgrenzung durch eine territorial-strukturelle. Die forcierte Kantonisierung des Libanon ließ den Staat vollends verblassen und überließ den Milizen in den konfessionell homogenisierten „Kantonen“ die Kontrolle über die öffentliche Ordnung, das Schulwesen eingeschlossen. Die Schulen fungierten in dieser Phase oft genug, um die von der jeweiligen Miliz vertretene Weltsicht zu verbreiten[18]. Die Kontrolle über Geschichte und Geschichtsunterricht stellte hierbei wieder einmal das wichtigste Vehikel dar. Nicht umsonst proliferierten während des Bürgerkrieges eine Reihe von populärwissenschaftlichen Geschichtsdarstellungen, die oft aus konfessioneller, apologetischer Sichtweise agitierten[19].
Zum Ende des Krieges offenbarte sich, dass eine Reform des Erziehungswesens nicht einfach an die Reforminitiativen der späten 1960er anknüpfenkonnte. Der Bürgerkrieg hatte nicht nur unbehandelte Problemfelder und Gegensätze offen gelegt, sondern ganz neue Wunden geschaffen. So sollte der Bürgerkrieg Anstoß und Gegenstand des psychischen Wiederaufbaus nach dem Krieg werden. Das sowieso schon heftig umkämpfte Terrain libansesischer Geschichte wurde um ein weiteres Kapitel ergänzt, das sich als das schwierigste erweisen sollte.
[3] Weit weniger Probleme schienen (und scheinen) die Armenier mit der obligatorischen Einführung von Arabisch zu haben. Arabisch und Armenisch existieren gleichberechtigt nebeneinander, ohne dass die Gemeinschaft sich in ihrer kulturellen Identität bedroht fühlt. Vgl.: Frayha (2002): S. 5.
[4] Klasse 1-5 bilden die Primarstufe, 6-9 die erweiterte Grundstufe und 10-12 die Sekundarstufe. Durch die Aufstockung des französischen Curriculum mit „libanesischen“ Fächern wurde der neue Lehrplan völlig überladen. Die große Anzahl an Fächern erschwerte es also von Anfang an, Konzentration auf die Fächer Geschichte und Geographie zu lenken. Mithin erscheint vielen Schülern das libanesische Bacchalaureat unnötig umfangreich. Vgl.: Frayha (2003): S. 83.
[6] Diese Entscheidung ging vorrangig auf Kosten des libanesischen Bacchalaureat, welches an vielen Privatschulen gegenüber dem französischen das Nachsehen hatte. Vgl.: Bashshur: S. 48.
[8] Seit 1959 sollten die jeweiligen Provinzgouverneure den Bildungssektor überwachen dürfen. Es erscheint jedoch mehr als fraglich, ob und wie sie von diesem Recht wirklich gebraucht machten, und wenn doch, ob es eher partikularen Interessen diente oder national-libanesischen. Hier zeigt sich wieder das überaus große Potenzial von Amtsmissbrauch und Korruption, das jegliche politische Posten im Libanon kennzeichnet. Vgl.: Abouchedid / Nasser / Van Blommestein: S. 2.
[10] Ausführlich zur Studentenbewegung vgl.: Barakat, Halim: Lebanon in Strife: Student Preludes to Civil War, Austin, 1977.
[12] Assal, Adel / Farrell, Edwin: “Attempts to Make Meaning of Terror: Family, Play, and School in Time of Civil War“,in: Anthropology & Education Quarterly 23,4 (1992), S. 281.
[14] Die Zahllen zur Bildungslage während des Krieges sind mit Vorsicht zu genießen: Zwar besaßen laut El Takach am Ende des Krieges 92 % der jungen Erwachsenen einen formalen Schulabschluss, oft genug jedoch mag dieser auch unter vorgehaltener Waffe erzwungenoder erkauft worden sein. Gegen diese Zahl spricht zudem die hohe Durchfallquote, die Inati für das Schuljahr 1981/82 angibt. Vgl.: El Takach, Suzanne: “Das Bildungssystem im Libanon“, in: Neue Lernkulturen: Portfolio, Klasse2000 (Informationsschrift zur Lehrerbildung, Lehrerfortbildung und Pädagogischen Weiterbildung 63), Heidelberg, 2002, S. 31 sowie Inati, Shams: “Transformation of Education: Will it Lead to Integration?“, in: Arab Studies Quarterly Winter 1999, S. 3.
[15] Tannous, Helen: “Religious Diversity and the Future of Education in Lebanon“, in: Mediterranean Journal of Educational Studies 2,1 (1997), S. 28.
[17] Dabei ist die Rede von den legitimen Rechten von „kulturellen Gruppen“ (maºmÚþÁt ½a±arÍya) – ein eher euphemistischer Ausdruck für Konfessionalismus. Vgl.: Bashshur: S. 57.