Das Werk des ägyptischen Autors Waguih Ghali berichtet von den frühen Tagen des Nasser-Regimes, der Ortlosigkeit der postkolonialen arabischen Eliten - und auch von der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Nun ist sein Roman „Beer in the Snooker Club“ auf Deutsch erschienen. Eine Besprechung von Michael Hack.
Wer dieser Tage durch die Kairoer Innenstadt läuft, wird die Fassade des imposantesten Gebäudes am zentralen Talat Haarb Square in Downtown von einer Bauplane verhüllt antreffen. Es ist die Heimat von Groppi, einem der berühmtesten Cafés der ägyptischen Hauptstadt. Diesen Umstand verhüllt die Plane nicht, nein, sie trägt Schriftzug und die Konturen des Lokals in modischer Stilisierung nach außen.
Sie steht damit exemplarisch für die Überhöhung einer glorreichen Vergangenheit, die das ägyptische Sisi-Regime und einige Geschäftsleute als Teil einer propagandistischen Geschichtspolitik betreiben, um der Hauptstadt noch die letzten Reste der postrevolutionären Katerstimmung auszutreiben.
Verbunden mit dem Bau einer neuen Hauptstadt in der Wüste[1], in die nur die fleißigsten und folgsamsten Landsleute umziehen sollen, stehen Modernisierungsmaßnahmen wie die am Groppi-Gebäude für den Versuch, ägyptische Gespenster zu vertreiben. Denn Groppi ist einer der Orte, an dem diese sich noch herumtreiben.
In seinem kargen Gastraum kann man noch immer gelegentlich wohlgekleidete, stark geschminkte alte Damen antreffen, die die jungen Angestellten auf Französisch anreden und sich ihre Eclairs in elegante Kartons verpackt nach Hause schicken lassen. Dass der Ort dieser phantomatischen Begebenheiten nun in weißem Stoff verhüllt ist, lässt das Gespenstische an ihm nur umso stärker hervortreten.
Die Gespenster des Waguih Ghali
Im Groppi (genauer: vermutlich an dessen anderem Standort ein paar hundert Meter entfernt) beginnt auch Beer in the Snooker Club, der einzige Roman Waguih Ghalis. Über fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des englischen Originals liegt er nun in der – leider recht braven und hölzernen – Übersetzung von Maria Hummitzsch auch auf Deutsch vor.
Aus den Ritzen, Widersprüchen und Leerstellen dieses Buchs und Ghalis weiteren Texte entspringen viele dieser Gespenster. Wer sie näher kennenlernen will, dem empfiehlt sich die Lektüre von Ghalis Werk, zu dem auch zwei Bände mit seinen Tagebüchern (herausgegeben von May Hawas) gehören. Es sind unsichere Erkenntnisse aus unsicheren Gefilden, die auch fünfzig Jahre später kaum an Stabilität gewonnen haben.
Ghali schreibt, um das eigene, stets von Depression und Selbstmordgedanken geplagte Leben zu beglaubigen („notierte ich es nicht, so wäre es nicht geschehen, oder, noch genauer, … notierte ich es nicht, so wäre etwas wichtiges verloren“[2]). Seine Texte sind so gespenstisch und fragil, wie die Verhältnisse, die sie beschreiben – sie geraten schon durch das schiere Lesen in Gefahr. Als seine Gefährtin und Gönnerin Diana Athill noch zu seinen Lebzeiten gegen seinen Willen die Tagebücher liest, schreibt Ghali: „Durch das Lesen machte sie aus dieser harmlosen Kinderei eine Ungeheuerlichkeit.“
Die Lebensgeschichte Ghalis lässt sich teils aus seinen Tagebüchern, teils aus den Erinnerungen seiner Verlegerin und Freundin Diana Athill (in ihrem Band After a Funeral), teils aus der Einführung in die Tagebücher und den wenigen kenntnisreichen Essays über ihn rekonstruieren[3]. Vieles spielt sich in Europa ab. Als Oppositioneller gegen das stetig autoritärer werdende Regime Gamal Abdel Nassers[4] verließ Ghali Ägypten Mitte der 1950er Jahre. Er ging zuerst nach Paris, eine Weile nach England, dann nach Schweden und Deutschland, wo er sich nach eigenen Angaben als unterbezahlter Hafenarbeiter in Hamburg verdingte und seinen Roman schrieb.
In Rheydt bei Mönchengladbach arbeitete er schließlich für die britische Besatzungsarmee, wovon der erste Band seines Tagebuchs berichtet. Seine letzten Lebensjahre, die im zweiten Band dokumentiert sind, verbrachte er in London, im Wesentlichen im Haus Diana Athills, wo er, der Zeit seines Lebens unter schweren Depressionen litt, 1969 sein Leben beendete.
Affektiertes Französisch und ungehobeltes Amerikanisch
Im Zentrum von Beer in the Snooker Club stehen drei junge Leute, die von den revolutionären Umbrüchen ihres Landes – der Machtübernahme durch Nasser, Naguib und die Freien Offiziere – an den Rand gedrängt wurden, obwohl sie selbst daran mitgewirkt hatten.
Ram, der Ich-Erzähler, und sein bester Freund Font sind Kopten, verarmte Mitglieder der ägyptischen Oberschicht, die auf ihren Ländereien über Jahrhunderte die Landbevölkerung brutal ausgebeutet hat. Edna, die letztlich unerfüllte Liebe Rams, ist Teil einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie.
Sie hat lange freiwillig bei der bitterarmen Familie ihres Kindermädchens gelebt und sich nun, nachdem Nasser ihre Familie weitgehend enteignet und ins Ausland getrieben hat, eine kleine Wohnung in Kairos wenig glamouröser Altstadt genommen („In jeder anderen Stadt der Welt wären hier schon längst die Kunsttypen eingezogen“, mutmaßt der Erzähler, „aber die Kunsttypen in Kairo fahren, wenn sie nicht gerade in Europa rumgammeln, in ihren Jaguars durch Zamalek“).
Obwohl Ram keinen einzigen Cent hat, lebt er das mondäne Leben der Kairoer Oberschicht – wenn auch ohne die Zwänge derjenigen ihrer Mitglieder, die nach der Revolution und der Unabhängigkeit 1952 ihr Vermögen mit allen erdenklichen Listen trotz der Verstaatlichungspolitik Nassers in die neue Zeit bringen wollen.
Rams Geld ist wie so vieles in diesem Text flüchtig. Die Rechnungen für dutzende Whiskeys, für seine dunkelblauen Anzüge oder für Schiffspassagen werden ohne viel Aufhebens von standesbewussten Familienmitgliedern oder Freunden beglichen.
Während er sich ungeniert durch die Bars und Clubs der arabischen Metropole säuft und keine Gelegenheit auslässt, Ausländerinnen zu verführen, beobachtet Ram, wie sich Teile der alten mit der neuen Elite verbinden, affektiertes Französisch auf ungehobeltes Amerikanisch trifft, wie die Arroganz gegenüber den unflätigen Militärs einer Bewunderung für die fleißigen Offiziere weicht und das Feindbild Israel zum Kitt für die Bruchlinien des neuen arabischen Nationalismus gemacht wird. Diese Beobachtungen sind präzise und oftmals wahnsinnig komisch.
Die postkoloniale Verfassung
Zugleich aber zeigt dieser Text die Risse auf, die nicht nur diese Gesellschaft, sondern auch das Schreiben über sie aufweist. Das beginnt mit dem Denken des Schreibers selbst – ein Kunstgebilde. Es ist das Produkt der Erziehung der Protagonisten durch die englische Kolonialmacht: „Die geistige Bildung Europas hat etwas Gutes und Natürliches in uns abgetötet (…) Schritt für Schritt habe ich mein angeborenes Ich verloren. Ich bin zu einer Figur in einem Buch geworden; mein eigener Schauspieler in meinem eigenen Theater; mein eigener Zuschauer in meinem improvisierten Stück. Handelnder und Publikum in einem – eine Kunstfigur.“ (Nicht ohne Grund klingt das hier im Englischen verwendete Wort „spectator“ fast wie „specter“ – Gespenst.)
Das Englisch des Romans selbst ist eine artifizielle Sprache, weil sie in der Oberschicht das Arabische ersetzt hat, ohne dass seine Sprecher*innen mit der Lebensrealität Englands verbunden wären. Das Englische ist also einerseits eine Kunstsprache, die aber zugleich die Realität der alten wie der neuen, durch die 1952er-Revolution an die Macht gespülten, herrschenden Klasse des Landes ist.
An der Sprachfrage, die sowohl die Erziehung der Protagonisten berührt wie ihre Zugehörigkeit zu einer international orientierten Schicht, kristallisieren sich im Roman zwei gegensätzliche Bewegungen: der Wunsch nach dem Natürlichen und Echten, danach, zu einem Land zu gehören, andererseits das Bekenntnis zur kommunistischen Partei und ihrer internationalistischen Ideologie, zu einer kosmopolitischen Bewegung, die in der Gedankenwelt Europas verhaftet ist und sich gleichzeitig als Teil der Befreiungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent versteht.
Das ist der Grund für die existenzielle Bedeutung, die sein erster Aufenthalt in England für Ram annimmt. Seine geistige Heimat wird für ihn physisch erfahrbar, aus Lesen wird Leben: „Obwohl ich las und las, es blieb bloß Lesen (…) Bis ich irgendwann [gemeint ist der Moment seiner Ankunft in England, Anm. d. Verf.] unbewusst verstand, dass ich auch ,leben‘ konnte.“
Von zentraler Bedeutung sind die Anführungsstriche, die das „leben“ umschließen und als bloßes Zitat ausweisen. Der Denker – so kann man folgern –, der seine Welt durch die Sprache der Gebildeten (und gäbe es denn eine andere?) reflektiert, ist für die natürliche, gebürtige Zugehörigkeit verloren.
Körper, Sex und Politik
Diese Sehnsucht nach natürlicher, körperlicher Zugehörigkeit schlägt sich in den sexuellen Begierden Rams und Fonts nieder, und die Distanz zu ihren Landsleuten in der (durch die gesellschaftlichen Sitten begründeten) Unmöglichkeit einer körperlichen Vereinigung mit den Ägypterinnen. Font habe in England zum ersten Mal „seinen Körper und zugleich seine politischen Ideale mit einer Person des anderen Geschlechts teilen können“, stellt sein Freund Ram fest, „hier ist das unmöglich.“
Auch diese Vereinigung bleibt temporär. Font und seine englische Geliebte können ihre Heiratspläne nicht umsetzen, weil England gemeinsam mit Israel und Frankreich Ägypten im Suezkrieg 1956 angreift und eine solche Verbindung politisch nicht mehr tragbar erscheint.
Die einzige körperliche wie geistige Verbindung zwischen den verschiedenen Realitäten der Protagonist*innen, zwischen Ägyptens Elite und dem Rest des Landes, zwischen europäischem und arabischem Denken ist Edna, die Jüdin, die im Begriff steht, aus ihrem eigenen Land vertrieben zu werden.
Ram und sie verbindet eine lange, immer wieder auflebende, aber letztlich vergebliche Liebesbeziehung. Die Beiden – aus unterschiedlichen Gründen der moralischen Beschränkungen weiter Teile ihrer Gesellschaft enthoben – teilen Ideale und ihre Körper. Edna ist nicht nur die beste Arabischsprecherin im Roman, sie hat die Brüchigkeit der ägyptischen Gesellschaft in ihrem eigenen Leben erfahren: Als Heranwachsende begann sie gegen alle Konventionen eine Liebesgeschichte mit einem Jungen aus der Familie ihres Kindermädchens.
Während sie zwei Jahre im Internat im Ausland verbringt, wird der junge Mann für die ägyptische Armee an die Front des israelischen Unabhängigkeitskriegs geschickt und dort von Soldaten des jüdischen Staats erschossen.
Edna also, die sich anschickt, einen gesellschaftlichen Riss zu schließen, ist in Beer in the Snooker Club das ägyptische Gespenst par excellence. Als Ram sie zu Beginn der Geschichte fragt, weshalb sie das Land nicht verlässt, trägt sie einen Riss in Form einer Wunde ganz physisch in ihrem Gesicht. Vermutlich wurde sie von einem Polizisten angegangen, der sie mit einer Peitsche so misshandelte, dass eine Gesichtshälfte, vom Mund bis zum Ohr, vollständig gezeichnet ist.
Ihre Antwort auf die Frage ist so schlicht wie bedeutsam: „Weil ich Ägypterin bin.“ Trotzdem ist ihr Schicksal im Land besiegelt. Was mit ihr geschieht, verrät der Roman nicht, wohl aber ein Blick auf die zahlreichen verlassenen Synagogen Kairos, deren Zahl vermutlich größer ist als die der Juden in der heutigen Stadt.
Auf der Suche nach Ägypten
Immer wieder versuchen sich die Figuren des Romans an der Definition dessen, was ihr Land eigentlich ist. Die Kunst des Textes liegt darin, hier keine klare Position zu beziehen. Er zeigt die Flüchtigkeit aller Versuche, Ägypten – oder auch nur irgendeine Nationalität – zu definieren, festzulegen.
Und obwohl es in Zeiten des politischen Umbruchs nötig scheint, ein gemeinsames Verständnis des neuen Gemeinwesens zu schaffen, wird klar, worin der Fluchtpunkt eigentlich liegt: in einer Haltung, die Ram in einem flüchtigen Moment eines innigen, fast utopischen Liebesgesprächs mit Edna artikuliert: „Augen, die in ihrem Blick die ganze Welt umfangen“.
Die Komplexität des Fragens nach Ägypten hat in den letzten fünfzig Jahren eher zugenommen – und die Versuche der derzeitigen Führung des Landes, das völlige Fehlen einer vorwärtsgerichteten politischen und kulturellen Vision durch die mantraartige Beschwörung eines hohlen Nationalstolzes zu verbrämen, wirken vor dem Hintergrund dieses Romans noch hilfloser.
Ein Kosmopolit in der rheinischen Provinz
Dass die Idee eines progressiven Kosmopolitismus, eines Kosmopolitismus jenseits der Geldeliten, der sich als Teil einer weltumspannenden Widerstandsbewegung gegen Autoritarismus und Kolonialismus versteht, nicht nur in Kairo, sondern auch in Europa ein marginales Projekt ist, wird in Ghalis Tagebüchern mehrfach schmerzhaft deutlich.
In Rheydt (bei Mönchengladbach), wo er bis 1966 für einige Jahre im Exil lebte, befand er sich in der Lage, einerseits als „Ausländer“ gesehen zu werden, als, „dreckiger Orientale“, wie die Eltern einer seiner zahlreichen Gespielinnen sagen, andererseits ein kultivierter Exot zu sein, der vermutlich gebildetste und weltoffenste Bewohner seiner Stadt.
Ghalis Beziehung zu Deutschland ist „krankhaft“, wie er selbst zugibt. In gewisser Weise bewundert er das Land. Es hat ihn – im Gegensatz zum von ihm verehrten England – aufgenommen, er hat dort Gesellschaft, viele Aspekte der Kultur interessieren ihn. Das gilt im Besonderen für die jüngere Generation, die sich mit der deutschen Vergangenheit auseinandersetzt.
So bewundert er Günter Grass’ Blechtrommel, die journalistische Arbeit des Spiegel und vieler Fernsehredaktionen, die im Umgang mit der deutschen Vergangenheit seinem Urteil zufolge „sehr objektiv“ sind. Seine britischen Kollegen aus der Besatzungstruppe verurteilt er dafür, dass sie sich für diese Kultur nicht im Geringsten interessieren.
Dennoch hasst er die Deutschen, wie er immer wieder betont. „Es ist undankbar, sie abzulehnen und zu hassen. Ich wünschte, ich könnte einfach die Verachtenswerten verachten und die Liebenswerten lieben“, schreibt er. Dann wechselt er in die dritte Person, so als ob er eine Erkenntnis äußern wolle, deren Gewicht er sich nur widerwillig zu eigen machen will: „Aber das geht nicht … man muss zu einem Urteil über das ganze Land kommen.“
Der Wunsch nach einem objektiven Blick zerfällt schon vor seiner eigenen Unzulänglichkeit, vor dem Bedürfnis, einzuordnen und zu kategorisieren. Das geht sogar seine politischen Kernüberzeugungen an: Als er bei einer Reise nach Berlin mit der Realität der DDR, mit den Grenzsoldaten des ostdeutschen Regimes, konfrontiert wird, wächst seine Distanz zum Kommunismus, weil dieses System eben nicht unabhängig von den Menschen existieren kann, die es tragen: „Ich verstand, dass sie eben Deutsche sind. Und ein Deutscher wird, wenn er Macht hat, zum Untier.“
Auf der einen Seite unternimmt Ghali immer wieder Anstrengungen, sich in das Leben Rheydts einzumischen, am prägnantesten, als er gemeinsam mit einigen Linken im Ort die Naziverstrickungen des Bürgermeisters aufzudecken versucht. Dann aber lässt er sich treiben, von seinen Minderwertigkeitsgefühlen, seiner Depression und der damit einhergehenden Unfähigkeit, emotionale Beziehungen einzugehen.
Sein hellsichtiger, oftmals überheblicher, mitunter gehässiger Blick auf seine provinzielle Umgebung wird gebrochen durch seine fast permanente Trunkenheit und seine ausführlichen, manchmal schreiend komischen, manchmal schmerzlich genauen amourösen Introspektionen (er sei, sagt er von sich, ein Mann über dreißig mit dem Gefühlsleben eines Schulmädchens).
Gerade aber weil sie nicht der Hauptgegenstand seiner Aufzeichnungen sind, wirken seine Schilderungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft umso eindrücklicher. Etwa als ein Freund ihm ganz beiläufig mitteilt, er könne Ghalis Exfreundin, mit der er nun eine Beziehung hat, nie heiraten, weil der Orientale sie verunreinigt habe.
Von London nach Jerusalem und zurück
Sein Umzug nach London 1966 lässt Ghali zunächst wieder aufblühen. „London swingt, und ich swinge vollen Herzens mit. Ich swinge so sehr, dass ich nicht mal Zeit für das Tagebuch habe. Ich liebe es.“ Seine Tagebücher zeugen von einer Stadt, die seinem kosmopolitischen Ideal sehr nahekommt. Er trifft Intellektuelle, Revolutionäre, Magnaten und Vergnügungssüchtige aus Europa, Amerika, der arabischen Welt und Afrika. Und er hat Affären.
Es ist ein Amalgam, das sich immer wieder für eine Weile bildet und dann doch zerfällt. Symptomatisch dafür ist sein Besuch in Israel nach dem Ende des Sechstagekriegs 1967, in dem die arabischen Armeen unter Führung des ägyptischen Präsidenten Nasser durch den jüdischen Staat vernichtend geschlagen worden waren.
Seine differenzierte Darstellung des Nahostkonflikts in Beer in the Snooker Club hatte ihm die Möglichkeit eröffnet, als erster Ägypter nach dem Waffenstillstand nach Jerusalem zu fahren. Es war kein Herzensprojekt Ghalis, aber die Londoner „Times“ versprach ein Honorar, das sich der notorisch klamme Ghali nicht entgehen lassen wollte.
In Jerusalem findet er ein von ihm geliebtes Amalgam vor. Er beschreibt die Atmosphäre der Altstadt:
„Ich erkannte jedes Gesicht, das ich sah, ich wusste etwas darüber, fand mich darin wieder. […] Die religiösen Typen … gleichsam Vertreter irgendeines Hauptgotts, lagen miteinander in einem eifrigen Wettstreit – wie verschiedene Ableger der gleichen Firma, die sich auf ein und demselben Platz gegenseitig unterbieten […] Man hatte das Gefühl, dass jeder alles daran setzte, freundlich zu den Anderen zu sein. Doch wie es jedem klar sein sollte, der einen Blick in die Geschichtsbücher geworfen hat, kann sowas nicht von Dauer sein – nicht wegen der Leute, die sich verbrüdern, sondern wegen der Idioten, die zu Hause sitzen und ,Politik‘ machen.“
Ghali findet sich in Israel in der eigentümlichen Situation, sich einerseits zur Nation zu zählen, die diesen Krieg verloren hat, zugleich aber deren Führung zu verachten. Er erkennt den Sinn des jüdischen Staats, wenngleich er sich über viele der Einwanderer*innen, besonders die amerikanischen, konstant lächerlich macht, und sehnt sich gewissermaßen nach dessen Ethos: „An meinem letzten Tag in Israel holte mich ein General aus meinem Hotel ab und brachte mich in den Garten des Judea Hotels. Er war auf faszinierende Weise einfach, charmant und ehrlich. Warum nur, dachte ich, können wir Ägypter nicht so einfach und demokratisch sein?“
Existenzielle Heimatlosigkeit
Das Ende dieses Moments erlebt Ghali nach seiner Rückkehr nach London. In den Salons der Hauptstadt trägt sich der Nahostkonflikt in Form intellektueller Debatten und eitler Gefechte aus. Ghali, dessen Stimmung auch hier sehr kurzfristigen Schwankungen unterworfen ist, notiert nun: „Der Zionismus ist eine harte, gewitzte, selbstbewusste, umtriebige Luxusnutte. Diese Hure in hellrosa trägt High Heels, Brustpolster und künstliche Wimpern, kennt amerikanische Senatoren, sie ist herzlos und lebt mit einer Bande Gangster, die sich von ihr ernähren und sie schützen.“ Für Ghali zerfällt das Amalgam an dem Ort, den er eigentlich für den kosmopolitischsten in seinem Leben hielt.
Und sein Aufenthalt in Israel hat für ihn auch persönliche Konsequenzen. Als er vor einer linken jüdischen Studentengruppe über den Nahostkonflikt spricht, erhebt sich in der Tiefe des Saals ein Vertreter der ägyptischen Botschaft und proklamiert, Ghali sei kein Ägypter mehr, er sei zu Israel übergelaufen.
Obwohl Ghali diese Attacke des Diplomaten (die der Vorgehensweise seiner Nachfahren heute nicht unähnlich ist) eigentlich nicht anficht, löst sie etwas in ihm aus: „Auf einmal, nach all den Jahren, wurde mir klar, dass ich, seit ich etwa zehn war, nicht nur keine ,Heimat‘ mehr habe, sondern nun auch kein Land. Warum mir das erst jetzt aufging – und warum es mich so berührte, das weiß nicht. Aber das tat es – und zwar sehr.“
Es ist, als sei Ghali das Leben, das er stets suchte und durch sein Schreiben festzuhalten, wenn nicht gar herzustellen versuchte, an diesem Punkt einmal mehr abhandengekommen. „Ich möchte hier [in London] leben“, schreibt er zwei Jahre zuvor in einem Moment, in dem er Pläne schmiedet, „aber ich tue nicht genug dafür“. Die Depression gewinnt die Überhand.
Am Ende erinnert er sich noch einmal an einen der ersten Sätze des Tagebuchs: „Ich muss dies aufschreiben, denn ich werde mich umbringen“. Er schreibt bis kurz vor seinem Tod und hält damit sein Leben bis zum Ende fest. „Natürlich weiß niemand, der lebt, dass er ,lebt‘; erst wenn er aufhört zu leben, versteht er das.“
Dieser paradoxale Satz ist der Geburtsort der Gespenster – derjenigen, die das Leben hinterlässt. Sie können gute Geister sein oder böse, vor allem aber sollte man sie als Gespenster wahrnehmen. Wer sie zu vertreiben versucht, den werden sie heimsuchen. Das gilt – und vielleicht liegt darin die wichtigste Erkenntnis in Ghalis Werk – für die Kunst und für die Politik.
Literatur
Athill, Diana, After a Funeral, London: Granta 2012 (1986).
Ghali, Waguih, Beer in the Snooker Club, London: Serpent‘s Tail 2010 (1964), dt. Snooker in Kairo, übers. von Maria Hummitzsch, München: C.H.Beck 2018.
Hawas, May (Hrsg.), The Diaries of Waguih Ghali Vol. 1. An Egyptian Writer in the Swinging Sixties 1964-1966, Kairo, New York: The American University in Cairo Press 2016.
Hawas, May (Hrsg.), The Diaries of Waguih Ghali Vol. 2. An Egyptian Writer in the Swinging Sixties 1966-1968, Kairo, New York: The American University in Cairo Press 2017.
Fußnoten
[1] Die ägyptische Regierung hat mit dem Bau eines neuen „Administrative Capital“ im Osten Kairos begonnen. Sie soll alle Regierungsgebäude beherbergen und Wohnungen für bis zu fünf Millionen Menschen. Präsident al-Sisi kündigte an, zunächst sollten nur besonders verdiente Staatsangestellte dorthin umziehen.
[2] Die Zitate sowohl aus den Tagebüchern wie aus dem Roman wurden vom Autor übersetzt.
[3] Dazu zählen vor allem Ahdaf Soueif, „Goat Face“, London Review of Books, Bd. 8, Nr. 12, Juli 1986, Pankaj Mishra „Beer in the Snooker Club: The Introduction“, Los Angeles Review of Books, Juni 2014, sowie die Einführung in den ersten Band der Tagebücher.
[4] Der damals junge Offizier Gamal Abdel Nasser übernahm 1952 gemeinsam mit der Gruppe der Freien Offiziere in einem Militärputsch die Macht vom ägyptischen König. Damit endete die britische Herrschaft über Ägypten, einzig rund um den Sueskanal verblieben noch britische Soldaten. Nasser versprach ein dezidiert linkes politisches Programm. Während er das Versprechen der materiellen Umverteilung erfüllte, setzte er nie eine echte Demokratie ein. Er konzentrierte die Macht zunehmend auf sich selbst. Die Verbitterung über diese Lage bildet einen wichtigen Hintergrund für Ghalis Roman.