Im Interview mit dis:orient spricht Saifora Paktiss von der Frauenorganisation Medica Afghanistan über die Herausforderungen in der Gesellschaft als Frau, ihre persönliche Motivation weiterzumachen und islamisch-feministische Ansätze in der Frauenarbeit.
Saifora Paktiss ist seit 2015 als Programmleiterin bei der afghanischen Frauenrechtsorganisation Medica Afghanistan in Kabul tätig. Aufgebaut wurde die Organisation 2002 von der in Köln ansässigen feministischen Frauenrechtsorganisation medica mondiale e.V. 2010 wurde Medica Afghanistan (MA) als Organisation von afghanischen Frauen für afghanische Frauen selbstständig. Heute zählt sie zu einer der einflussreichsten Frauenorganisationen des Landes. Die Besonderheit der Arbeit ist ihr holistischer Ansatz: die psychosoziale, trauma-sensible und juristische Betreuung von Frauen und Mädchen als Überlebende von (sexualisierter) Gewalt.
Saifora, die aktuelle Situation in Afghanistan, vor allem mit dem Wiedererstarken der Taliban und dem Aufkommen des sog. Islamischen Staates-Provinz Khorasan, ist gerade für Frauen Besorgnis erregend. Wie bleibst du angesichts dieser Umstände motiviert?
Jede Minute bei MA ist eine Motivation für mich. Afghanistan ist ein Land mit vielen Konflikten. Insbesondere Frauen stehen vor vielfachen Herausforderungen — nicht nur innerhalb der Gesellschaft, aber auch aufgrund der Gesetzeslage. Überlebende von Gewalt sind von verschiedenen Seiten Gewalt ausgesetzt: durch ihre Ehemänner, ihre Schwiegerväter und -mütter. Die Liste ist endlos. Wenn wir diese Frauen in unserer Organisation empfangen, geben wir ihnen Hoffnung. Das Lächeln auf ihren Gesichtern ist eine Motivation für mich. Damit das funktioniert, stehen wir sogar in Kontakt mit dem afghanischen Präsidenten, Aschraf Ghani. Er kennt Medica Afghanistan, wenn es um Recht, Gesetzgebung und die Unterstützung von Frauen geht.
Gibt es eine Geschichte, die einen besonderen Einfluss auf dich hat?
Leider hören wir jeden Tag allzu viele Geschichten. Ein Fall, den wir aktuell juristisch betreuen, ist besonders schmerzlich. Ein 7-jähriges Mädchen wurde durch drei Brüder vergewaltigt. Sie sind die Söhne eines bekannten lokalen Warlords. Als sich die Mutter des Mädchens, selbst Polizistin, an die offiziellen Stelle wandte, wurde sie auf MA verwiesen. Das Mädchen war sehr verängstigt, als eine unserer Betreuerinnen sie antraf. Sie sprach kaum. Nach einer Weile erzählte sie ihre Geschichte und dass die Brüder ihr weitere Gewalt angedroht hätten, falls sie jemandem von dem Vorfall erzählt. Die drei Täter wurden kurz danach identifiziert - durch ein Video auf dem Handy eines der Brüder, welcher die Vergewaltigung aufgenommen hatte.
Die Mutter, betreut von Medica Afghanistan, klagte die Täter an. Als der Vater der Täter davon erfuhr, schlug er die Mutter des Mädchens. Sie erlitt mehrere Brüche an ihrem Körper und wurde zur Rücknahme der Klage erpresst. Es war der Versuch, ihren Willen zu brechen. Der Warlord stritt die Tat ab. Aber die Mutter ließ die Anklage nicht fallen. Sie stellt sich dieser Herausforderung und MA mit ihr. Es gibt Fortschritte im Gerichtsprozess - wir hoffen auf einen Erfolg. Das ist jedoch nur eine Seite, mit der Geschichte umzugehen. Mutter und Tochter müssen in die Normalität finden. Dazu betreuen wir sie auch psychosozial. Dieser Fall darf sie nicht für ihr Leben zeichnen. Gerechtigkeit für diese Menschen gibt uns Kraft.
Was bedeutet “Gerechtigkeit” konkret? Wie will das Medica Afghanistan erreichen?
Nach unseren aktuellen Statistiken erhielten ca. 12.000 Frauen und Mädchen eine juristische und ca. 11.000 eine psychosoziale Betreuung durch MA. Jedoch leisten wir nicht nur diese Betreuungsarbeit, sondern werden auch mit Lobbyarbeit aktiv. Diese Gesetzgebung ist das Fundament, um Gerechtigkeit zu ermöglichen. Beispielsweise wurde 2018 über eine Anti-Harassment-Regelung diskutiert. Unsere Kommentare zu den Bestandteilen dieser Regelung waren entscheidend. Wir erreichten es zudem, dass diese “Regelung” als Gesetz verabschiedet wurde, um eine strafrechtlich höhere Wirkung zu haben.
Gibt es weitere rechtliche Beispiele?
Ein weiterer Schwerpunkt bestand für uns in der Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot von Jungfräulichkeitsprüfungen. Wir haben dafür an einer Stellungnahme gearbeitet. Auch die Einführung von Entschädigungen für die Betroffenen — vor allem in Fällen der Prüfung, die durch die eigene Familie veranlasst wurden — ist darin ein Thema. Nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch ihre Umsetzung ist hier wichtig. MA sieht sich hier als die umsetzende Kraft.
Was habt ihr diesbezüglich aktuell geplant?
In diesem Jahr konzentrieren wir uns auf die Stärkung der offiziellen Registrierung von Ehen. Damit wollen wir Kinder- und Zwangs- sowie sogenannten bad-Ehen entgegenwirken.
Du meinst also den alten paschtunischen Brauch, der eine “Blutpreis”-Zahlung vorsieht, wenn ein Mann in einem Konflikt mit einem rivalisierenden Stamm oder einer rivalisierenden Familie getötet oder verletzt wird. Dabei wird für die Familie des Opfers eine weibliche Person zur Ehe bestimmt.
Ja, genau. Zudem arbeiten wir gerade an der trauma-sensiblen und psychosozialen Schulung von Gesundheitsmitarbeiter*innen in öffentlichen Gesundheitszentren.
Was ist besonders wichtig oder auch kennzeichnend für eure Arbeit mit den Frauen und Mädchen?
Der Gemeinde-basierte Ansatz ist uns sehr wichtig — das heißt, wirklich lokal und in direktem Kontakt mit den Betroffenen aktiv zu werden. Darauf aufbauend wurden auch Peer-Support-Gruppen gebildet, also die Beratung und Unterstützung von Frauen und Mädchen auf Gemeindeebene mit jeweils ähnlichen Erfahrungen und Herausforderungen. Betroffene Frauen werden aktiv, um anderen Frauen zu helfen. Sie engagieren sich ehrenamtlich. Das verschafft dem Projekt eine besondere Nachhaltigkeit. Bisher haben wir diese Gruppen in den Provinzen Kabul, Herat und Mazar-e Scharif aufgebaut. Die Nachfrage ist sehr groß, auch über diese Provinzen hinaus. Jedoch stoßen wir auf finanzielle Hürden.
Saifora, MA setzt sich seit Jahren für die Förderung eines islamisch-feministischen Ansatzes in der Frauenarbeit ein. Was hat es damit auf sich?
Ich sprach ja bereits von der Arbeit gegen Kinder- und Zwangsehen. Hier kommt der Ansatz besonders zum Tragen. Wir arbeiten mit lokalen Gelehrten, Predigern und Gemeindevorstehern zusammen, um sie bezüglich dieser Ehen auszubilden. Unsere Argumente basieren dabei ausschließlich auf islamischen Quellen und Interpretationen. Hier kommen keine westlichen, sondern afghanische, islamische Konzepte zum Zuge.
Gleichzeitig arbeiten wir gerade an einem Heft mit dem Thema: Frauenrechte aus islamischer Sicht. Wenn dieses fertiggestellt ist, werden wir eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit und Schulungen für Freiwillige starten, um so viele Frauen wie möglich zu erreichen. Das Entscheidende ist, das (Selbst-)Bewusstsein der Frauen zu stärken. Die islamische Perspektive hat eine breite Anerkennung und Einfluss, die Menschen zum Handeln zu bewegen.