Im Mittelmeer sind allein seit Beginn des Jahres fast 2000 Menschen gestorben, vor den Küsten Europas spielt sich eine beispiellose Katastrophe ab. Doch die EU führt ihre Politik der Abschottung unbeirrt fort. Nina Perkowski kommentiert die Beschlüsse des Europäischen Rates.
„Einstein hat Wahnsinn damit definiert, stets das Gleiche zu tun und ein anderes Resultat zu erwarten“, erinnerte letzte Woche der UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, François Crépeau, in einem Zeitungsinterview. Da war noch nicht bekannt, welche Antworten die EU auf den Tod von bis zu 1300 Menschen innerhalb von nur einer Woche im Mittelmeer geben würde. Spätestens seit Bekanntwerden der Beschlüsse der außerordentlichen Sitzung des Europäischen Rates, der sich am Donnerstag in Brüssel eilig mit der Notlage an Europas Außengrenzen auseinandersetzte, ist – dieser Definition folgend – der Wahnsinn der Verantwortlichen kaum noch anzuzweifeln. Denn was die EU als neue Antworten auf das Massensterben im Mittelmeer präsentiert, sind weitgehend bereits bestehende Regelungen, die lediglich verstärkt oder fortgeführt werden. Es sind jene Regelungen, die allein seit Beginn des Jahres zu 1750 Toten geführt haben. Die Zahl der Opfer verdeutlicht, wie außerordentlich zynisch die europäische Antwort auf anhaltende Gewalt in Syrien, Libyen, im Irak und anderswo ist.
2015 tödlichstes Jahr seit Ende des Zweiten Weltkriegs
Die Internationale Organisation für Migration warnt, dass bei anhaltenden Trends bis zu 30.000 Menschen auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren könnten. 2015 könnte das tödlichste Jahr seit Ende des zweiten Weltkriegs werden. Offizielle Statistiken dazu, wie viele Menschen in den letzten Jahrzehnten im Mittelmeer zu Tode kamen, gibt es nicht, da diese – im Gegensatz zu Asylbewerberzahlen, gefälschten Pässen, Festnahmen von Menschen ohne Aufenthaltsstatus und anderen für den „Grenzschutz“ interessanteren Daten – von europäischen Behörden nicht erfasst werden. Auswertungen von Zeitungsartikeln des italienischen Autors und Aktivisten Gabriele del Grande haben jedoch ergeben, dass bis zum letzten Oktober bereits mindestens 21.439 Menschen ihr Leben verloren. Seitdem hat es mehr als 2000 weitere Tote gegeben.
Trotz der Toten – kein Umdenken findet statt!
Die Antwort der EU auf diesen Schrecken ist wiederum erschreckend simpel. Der letzte Woche verabschiedete Maßnahmenkatalog sieht hauptsächlich ein schärferes Vorgehen gegen „Schlepper“ vor. Es wird eine engere Kooperation mit Tunesien, Ägypten, Sudan, Mali, Niger, der Türkei und anderen Ländern angestrebt, um Landgrenzen und –routen besser zu überwachen. Europäische Verbindungsbeamte sollen in Drittstaaten stationiert werden, um dort Informationen über Migrationsbewegungen zu sammeln und direkt mit lokalen Behörden zusammenzuarbeiten. Frontex soll ein neues „Rückführungsprogramm“ implementieren, um Unerwünschte aus der EU schneller wieder abzuschieben. Zudem werden die Frontex-Operationen Triton und Poseidon deutlich stärker finanziell unterstützt. Keine dieser Maßnahmen zielt auf verstärkte europäische Anstrengungen ab, Menschenleben zu retten. Frontex-Operationen, das sagt die Agentur selbst deutlich, sind Grenzschutzmaßnahmen – sie sind nicht darauf ausgerichtet, Seenotrettung zu betreiben und tun dies nur dort, wo internationales Recht sie in konkreten Notsituationen zum Handeln verpflichtet. Patrouillen zur Menschenrettung hingegen – zum Beispiel weit draußen auf Hoher See, wo rettende Küsten fern und die See rau sind –, so betont Frontex immer wieder, sind nicht vom Mandat der Agentur abgedeckt.
Frontext – Grenzschutz, keine Seerettung
Zusätzlich zu diesen auf Abschottung und Migrationsabwehr ausgerichteten Maßnahmen stehen seit letzter Woche weitere bedrohliche Ankündigungen der EU im Raum. Im Kampf gegen „Schmuggler“ und organisierte Kriminalität sollen „Schmugglerboote“ zerstört werden bevor diese zum „Menschenschmuggel“ genutzt werden können. Eine maltesische Zeitung berichtet, dass Großbritannien und Frankreich die Autorisierung eines militärischen Einsatzes in Libyen durch den UN-Sicherheitsrat zu eben diesem Zweck anstreben werden. Der „Krieg“, den die EU laut Aktivist_innen seit Jahren gegen Migrant_innen führt, könnte somit eine neue Stufe der Eskalation erreichen.
Europas Beziehungen zu seinen Nachbarn sind schon lange auch dadurch geprägt, dass die EU diese als „Pufferstaaten“ in die Pflicht nimmt, um ungewollte Migrationsbewegungen von ihren Grenzen fernzuhalten. Im Fall von Libyen schloss Italien bereits 2010 einen „Freundschaftsvertrag“ mit Gaddafi, der eine bessere Überwachung libyscher Küstengebiete zum Zweck der Migrationskontrolle mit finanziellen Zuwendungen belohnte. Noch während der Unruhen 2011 vereinbarte die EU mit den damaligen Rebellen, im Falle ihres Sieges diese Art der Kooperation fortzuführen. Seit 2013 existiert die europäische Mission EUBAM, die in Libyen Polizei und Grenzschutz ausbilden und die libyschen Grenzen für Migrant_innen und Geflüchtete schwerer passierbar machen soll. Im Chaos, das die Revolution und nicht zuletzt auch die militärische Intervention der NATO in Libyen hinterließen, gibt es aber derzeit zwei Regierungen, die ihre Machtansprüche auf das Land geltend machen. Gewalt und Unruhe halten auch vier Jahre nach Ende des NATO-Einsatzes an. Sie machen es Flüchtlingen und Migrant_innen oft unmöglich, in Libyen zu bleiben, und schwächen gleichzeitig die Kapazität des lokalen Grenzschutzes, Migrationsbewegungen gen Europa zu unterbinden.
EU trägt Verantwortung für Chaos in Libyen
Der Anstieg der Zahlen von Migrant_innen seit Sommer 2013, die versuchen, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, liegt allerdings nicht nur an der politischen Krise in Libyen. Weltweit sind – auch aufgrund der Intensivierung von Gewalt in Syrien und im Irak, der Zentralafrikanischen Republik und dem Südsudan – derzeit mehr Menschen auf der Flucht als seit Ende des Zweiten Weltkriegs je gezählt wurden. Legale Wege, Europa zu erreichen, existieren für den Großteil dieser Menschen nicht: Die zunehmend restriktiven Einreiseregelungen machen es ihnen unmöglich, Europa ohne große Gefahren für Leib und Leben zu erreichen.
Nun gibt es den Plan, die Boote, die für viele den letzten verbleibenden Weg nach Europa darstellen, zu zerstören. Nicht nur ethisch ist das ein äußerst zweifelhaftes Vorhaben. Es gibt auch erhebliche praktische Komplikationen: Boote, die zum Transport von Menschen über das Mittelmeer genutzt werden, sind in der Regel Fischerboote, die den Fischern kurz vor einer geplanten Überfahrt von „Schmugglern“ abgekauft werden. Wie also wollen EU-Einsatzkräfte identifizieren, bei welchen Booten es sich um „Schmugglerboote“ handelt? Der Außenminister der libyschen Regierung in Tripoli hat zudem angekündigt, dass unilaterale Angriffe der EU auf libyschem Territorium „konfrontiert“ werden würden. Libysche Regierungen und Milizen würden kaum tatenlos akzeptieren, dass die EU in ihrem Land eigenmächtig Gewalt ausübt. Dem Militäreinsatz 2011 folgten bis heute andauernder Bürgerkrieg und Gewalt, ein erneuter Militäreinsatz könnte zu einer weiteren Destabilisierung des Landes führen.
Boote zerstören, „Schlepper“ verfolgen: Reicht das als Strategie?
Die europäische Antwort auf das anhaltende Sterben im Mittelmeer beschränkt sich erneut darauf, Menschen an der Überfahrt zu hindern. Staatschefs verkünden öffentlich, dass stärkere Kontrollen die Flüchtenden selbst davor schützen würden, ihr Leben auf dem Mittelmeer aufs Spiel zu setzen und von bösartigen „Schmugglern“ ausgebeutet zu werden. Der Großteil derer, die über das Meer nach Europa kommen, flieht allerdings vor Gewalt und Verfolgung anderer Art. Die mit Abstand meisten kommen derzeit aus Syrien. Sie verlassen sich auf „Schmuggler“, weil sie ihre einzige Hoffnung sind, europäische Grenzkontrollen zu umgehen und doch EU-Territorium zu erreichen. Denn sie wissen, dass sie größtenteils Anrecht auf Asyl in Europa haben. Ihnen die derzeit einzige Möglichkeit zu nehmen, diese Sicherheit in Europa zu erreichen, lässt sich nur schwerlich als humanitäre Geste verstehen.
Nach der Sondersitzung des Europäischen Rats am letzten Donnerstag trat Donald Tusk vor die Presse und beteuerte, dass Europa diese „Tragödie“ nicht verursacht habe. Diese Aussage stützt sich auf einen dezidierten Unwillen, die derzeitige Situation in ihrem historischen Zusammenhang zu begreifen. Erst mit einem stetig verschärften Visaregime und immer stärkeren Kontrollen der Außengrenzen begannen Menschen, ihr Leben auf dem Mittelmeer zu riskieren, um nach Europa zu gelangen. Erst diese Gesetze und Praktiken bedinten Nachfrage nach „Schmugglern“, die dieser Tage so oft für die Todesfälle verantwortlich gemacht werden.
Flüchtlinge werden gezwungen, illegale Wege zu gehen
Es ist schlicht Wahnsinn, so erinnerte uns François Crépeau, dass die EU bei gleich bleibender Politik auf eine Veränderung hofft. Dieses Jahr droht auch aufgrund der neuesten Beschlüsse und Reaktionen auf die vielen Toten letzte Woche das Tödlichste seit Bestehen der EU zu werden. Angesichts dessen erinnerte Crépeau daran, was statt mehr Abschottung, Gewalt und Kontrolle seitens der EU getan werden könnte. Europa müsse anerkennen, dass bisherige Regelungen versagt haben und dass menschliche Mobilität nicht zu unterdrücken ist. Es müsse ein groß angelegtes Migrationsprogramm einführen, das Geflüchteten Perspektiven bietet, Europa legal und ohne Lebensgefahr zu erreichen. Und es müsse die Grenzen öffnen für legale Arbeitsmigration, auch für wenig Qualifizierte, die in europäischen Gesellschaften oft dringend benötigt werden, aber derzeit ebenso wie Geflüchtete keine legalen und sicheren Wege haben, die vorhandenen Jobs zu erreichen.
Zu guter Letzt ermutigt der UN-Sonderbeauftragte uns, das Durchhaltevermögen und den Mut derjenigen anzuerkennen, die sich trotz der Gefahr aufmachen und die Überfahrt nach Europa wagen. Auch und vielleicht gerade weil wir in ihrer Situation vermutlich nicht den gleichen Mut aufweisen würden. Dies könnte ein erster Schritt sein, über Migrant_innen nicht nur als potenzielle Bedrohung oder hilflose Opfer zu sprechen, sondern ihre Individualität, ihre Hoffnungen und Ängste, Ziele und Pläne sichtbar werden zu lassen. Weit mehr als 20.000 Menschen samt ihren Träumen, Sorgen, Lebensgeschichten und Erfahrungsschätzen sind in den letzten 20 Jahren im Mittelmeer umgekommen. Die Antwort darauf darf kein „weiter wie bisher“ mehr sein.