18.11.2012
Eskalation in Gaza: Viel Lärm gegen das Nichts
Die Lage im und um den Gazastreifen spitzt sich zu. Israels Armee bereitet eine Bodenoffensive vor. Foto: Tobias Pietsch
Die Lage im und um den Gazastreifen spitzt sich zu. Israels Armee bereitet eine Bodenoffensive vor. Foto: Tobias Pietsch

Im Gazastreifen eskalieren seit fünf Tagen die seit einigen Jahren anhaltenden militärischen Konfrontationen. Das Getöse des Bomben- und Raketenhagels schreckt die Weltöffentlichkeit auf. Und so übertönt militärische Gewalt die betäubende Stille politischer Visionslosigkeit für Gaza.

Gaza ist der Inbegriff politischer Kurzsichtigkeit und Lebensferne. In der Küsten-Enklave leben mehr als 1,6 Millionen Menschen auf einer Fläche kleiner als das Land Bremen. Gaza besteht im Zustand ständiger Belagerung, überwacht und unter konstant drohender Gewalt. Um den Gazastreifen herum leben ähnlich viele Menschen in Angst vor der Willkür halb-professioneller Raketen. Nun bombardiert Israel das eingeschlossene Gaza und Militante in Gaza schießen Raketen auf Israel. In was für eine Zukunft die Akteure Gaza damit steuern wollen, bleibt indes unklar.

2007 übernahm die Hamas die Macht in Gaza, seitdem blockiert Israel den Personen- und Warenverkehr aus dem mit Hochsicherheitsanlagen abgeriegelten Streifen. Die Hamas hat sich als erstaunlich funktionales autoritäres Regime etabliert. Militante Kräfte in der Hamas selbst sowie eine Vielzahl kleiner islamistischer Milizengruppen bäumen sich mit anhaltendem Raketenbeschuss in das südliche Israel gegen den ‚zionistischen Feind’ auf. Teils befiehlt oder toleriert das die Hamas, teils fehlt ihr die Kontrolle über Splittergruppen. Außer israelischen Gegenschlägen und weiterer Repressionen erreichen die Raketen wenig.
In Israel wird der Beschuss aus Gaza zwar oft als Teil der Bedrohung gegen den ‚jüdisch-demokratischen Staat’ angeführt. Doch hinkt der Süden Israels dem Rest des Landes wirtschaftlich hinterher und ist politisch marginalisiert. Die Bevölkerung dort leidet seit Jahren unter den Angriffen, muss aber um jede Unterstützungsleistung der Zentralregierung ringen. Die momentane Eskalation der Gewalt lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit kurzzeitig zurück auf ihr Leid, doch ziehen die wenigsten im Süden Israels die kurzfristige Militäraktion wahren Bemühungen für ein nachhaltiges Ende der Waffengewalt vor.

Die politischen Entscheidungsträger aller Seiten jedoch bemühen sich stärker für Machterhalt und Ideologie als um das Wohl der Menschen, deren Loyalität sie einfordern. Die palästinensischen Gebiete sind politisch tief gespalten zwischen Hamas im Gazastreifen und Fatah im Westjordanland. Palästinensische Forderungen nach Selbstbestimmung haben so immer mehr an Gewicht verloren. Die Bevölkerung zieht sich indes immer weiter aus dieser Politik der Rivalitäten zurück.

In Israel ist es kaum mehr möglich ernsthaft über Frieden zu debattieren: Der öffentliche Diskurs wird mit nationalistischen Argumenten für ‚die Sicherheit’ geradezu erstickt. Regierung und Staatsapparat verlassen sich auf ihre Position der Stärke und Kontrolle. Israel schottet ab, überwacht und degradiert die Palästinenser und stützt sich dabei auf immer gezieltere und allgegenwärtige physische Gewalt. Nicht nur durch Sperranlagen, auch auf politischer Ebene sind die Konfliktparteien immer deutlicher getrennt. Und so schlingert man nun seit mehr als einem halben Jahrzehnt ratlos in einem Zustand der Nicht-Lösung und Nicht-Diskussion.

In Gaza wird das Paradox aus vermeintlicher Allmacht und Machtlosigkeit beider Seiten wohl am deutlichsten. Die Blockade des Streifens durch Israel sollte die Hamas schwächen und die Bevölkerung für ihre Wahl bestrafen. Stattdessen begriffen die Menschen in Gaza sie als weitere Boshaftigkeit der Israelis und konnte die Hamas die Macht weitgehend monopolisieren. Die Hamas wiederum, angetreten mit der Rhetorik absoluter Ablehnung gegenüber Israel, musste feststellen, dass sie sich zwar an der Macht halten, die Situation um keinen Deut verändern kann.

Der jüngste Gewaltausbruch ergibt sich aus einer Verkettung gebrochener Versprechen auf beiden Seiten. Die Eskalation steht zweifellos in Verbindung mit den anstehenden Parlamentswahlen in Israel. Die Israelische Armee ermordete den Militärchef der Hamas zu einer Zeit, in der inoffizielle Verhandlungen eine längerfristige Beruhigung gerade möglich scheinen ließen. Die Hamas und andere Milizen wiederum rächten sich einmal mehr mit Raketen und nahmen bewusst zum ersten Mal auch das entferntere Kernland um Tel Aviv und Jerusalem unter Beschuss. In Hinblick auf die Lage der Zivilisten ist das politischer Zynismus beider Seiten.

De facto täuscht doch der beidseitige Beschuss mehr schlecht als recht darüber hinweg, dass allen Parteien wahre Visionen für die Zukunft Gazas mangeln. Ziel des israelischen Militärschlags sei, so erklärte Verteidigungsminister Ehud Barak, den militanten Kräften im Gazastreifen einen „gewichtigen Schlag zu versetzen“ und „die Ruhe im Süden wieder herzustellen“. Die Hamas-Raketen wiederum sollen Israel wachrütteln und den Tod des Militärchefs Ahmad Al-Jabari rächen. Auf mehr als die Aushandlung eines neuen, temporären Waffenstillstandes liefen aber weder eine – von keinem wirklich gewollte – Bodenoffensive, noch der andauernde Schusswechsel hinaus.

Das Getöse der Bomben in Gaza steht für Tod und Zerstörung. Betäubend viel stiller aber liegen Unfreiheit, Perspektiv- und Ausweglosigkeit über den Menschen im Gazastreifen. Ähnlich, wenn auch in diesem höchst asymmetrischen Konflikt deutlich anders, leben die Menschen in Süd-Israel mit der Angst. Die politische Nicht-Lösung der Situation, das Aufrechterhalten eines eindeutig instabilen und unmenschlichen Status Quo der Isolation lässt Hass und Ignoranz weiter gedeihen. Mit unrealistischen, radikalen Forderungen gegenüber Israel lässt die Hamas ihre eigene Bevölkerung im Stich. Mit Unterdrückung und dem so eindeutigen Unwillen zum Frieden verrät Israel den eigenen Staat und jegliches Ideal der Menschlichkeit. Wohin aber soll das führen? Diese Frage stellen sich weder die politischen Akteure noch die Medien mit genug Mut für die Lebensrealität.

Die israelische wie palästinensische Politik braucht neue Visionen, mutige und doch erreichbare Szenarien für die gemeinsame Zukunft. Es bedarf Menschen, die es wagen der Realität ins Auge zu blicken und Auswege zu durchdenken. Die Freiheit und Sicherheit für alle Menschen gleichermaßen anstreben. Und Gaza, Gaza braucht diesen Ausblick am aller dringendsten.

Lea ist seit 2011 bei Alsharq. Sie hat Internationale Politik und Geschichte in Bremen und London (SOAS) studiert und arbeitet seitdem als Journalistin. Mehrere Jahre hat sie in Israel und Palästina gelebt und dort auch Alsharq-Reisen geleitet. Lea ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung Die Zeit.