Ein Gastbeitrag von Sofian Philip Naceur
2012 jährt sich Algeriens Unabhängigkeit zum 50. Mal. Doch in Paris und Algier tut man sich mit einer ehrlichen Aufarbeitung von Kolonialzeit und -krieg schwer, die politisierte Erinnerungskultur verhindert die Aussöhnung.
Auch 50 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich sind die alten Wunden nicht verheilt, ganz im Gegenteil. Die politische Klasse beider Länder hat nach wie vor Schwierigkeiten, das bilaterale Verhältnis zueinander vom alteingesessenen Kolonialdiskurs zu lösen. Der 1954 ausgebrochene Befreiungskampf der Front Libération National (FLN) hat tiefe Spuren im nationalen Selbstverständnis beider Gesellschaften hinterlassen – und bahnt sich noch heute regelmäßig einen Weg an die Oberfläche.
Algeriens enge wirtschaftliche, administrative und ideologische Anbindung an Frankreich während der 132-jährigen Kolonialherrschaft spielt dabei gewiss eine wichtige Rolle, die innenpolitische Instrumentalisierung von Fragmenten der gemeinsamen Geschichte beherrscht jedoch ebenso die kollektive Erinnerungskultur in beiden Ländern. Frankreich hat bis heute Probleme im Umgang mit seinem kolonialen Erbe, der starke Einfluss des rechtsextremen Front National (FN) auf die französische Politik ist eng verknüpft mit dem Kollaps der »L’Algérie française«. Algerien hingegen zelebriert Jahr für Jahr am 5. Juli überschwänglich die Loslösung von Frankreich.
Die FLN, die seit 1962 durchgängig die Exekutive kontrolliert, bezieht ihre Legitimität und ihren Sonderstatus im politischen System Algeriens einzig aus ihrer Führungsrolle im Kampf gegen das Kolonialregime. Folglich hat die Erinnerung an die Kolonialzeit für die FLN eine existentielle Bedeutung. Paris hingegen hat nach wie vor mit dem Verlust seiner wichtigsten Kolonie zu kämpfen.
Algerien war keine gewöhnliche Kolonie, sondern der Prototyp einer französischen Siedlungskolonie und galt in Frankreich als elementarer Bestandteil der Republik. Bis in die 1990er Jahre hinein fand der algerische Unabhängigkeitskrieg nur sehr zurückhaltend in Literatur und Massenmedien Beachtung und sorgte regelmäßig für heftige innenpolitische Auseinandersetzungen in Frankreich. Auch in den Schulbüchern wurde der Algerienkrieg lange Zeit geflissentlich ignoriert. Doch warum tut sich Paris mit seiner Vergangenheitsbewältigung derart schwer und aus welchen Gründen betreibt das autoritäre Regime in Algier noch heute eine so aggressiv überbetonte Erinnerungspolitik?
»L’Algérie, c’est la France«
Am 1. November 1954 begann der algerische Unabhängigkeitskrieg unter Führung der FLN mit koordinierten Bombenanschlägen in ganz Algerien. Für Paris stand Algeriens Selbstbestimmung nicht zur Diskussion, ganz im Gegenteil. Der Verlust Indochinas kurz zuvor stellte die ideologischen Fundamente der Kolonialmacht Frankreich, die sich weiterhin als »Grande Nation« verstand, infrage und erklärte die Entschlossenheit, Algerien unter keinen Umständen aufzugeben. Der wirtschaftliche und militärische Niedergang Frankreichs im 20. Jahrhundert machte das Kolonialreich zum letzten Anker Pariser Weltmachtsfantasien. Bis 1954 erhöhte sich die Zahl der in Algerien lebenden Siedler auf eine Million. Die systematische Enteignung der autochthonen Bevölkerung und die Monopolisierung der Wirtschaft in den Händen der »Pieds noir« brachte ein faktisches Zwei-Klassen-System hervor. Paris implementierte in Algerien trotz seines republikanischen Laizismus einen entlang religiöser und ethnischer Kriterien definierten Sonderstatus für Berber und Araber, die fortan als französische Untertanen galten, nicht jedoch als französische Staatsbürger.
Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs erwachte der algerische Nationalismus, angefacht durch die Ereignisse am 8. Mai 1945. Französische Siedler und die Armee hatten Demonstrationen algerischer Nationalisten in Sétif und Guelma blutig niedergeschlagen. Noch im Herbst 1954, kurz nach Beginn des landesweiten Aufstandes, betonte Frankreichs Innenminister François Mitterand »L’Algérie, c’est la France«. Die FLN wurde sukzessive unter dem massiven Militäraufgebot nach der Schlacht von Algier 1957 aufgerieben und verlagerte ihre Aktivitäten nach Frankreich. Erste Anzeichen für eine Abkehr vom Dogma Französisch-Algerien ließen die IV. Republik schließlich unter der Last des Krieges kollabieren. Am 13. Mai 1958 putschten die in Algerien stationierten Generäle und schwemmten Charles de Gaulle ins höchste Staatsamt. Die Verfassung der V. Republik war eine Zäsur für Frankreichs politisches System und transformierte die parlamentarische VI. Republik in eine autoritäre Präsidialdemokratie.
Die blutigen Ausschreitungen vom Dezember 1961 in Paris nach einer Demonstration für Algeriens Unabhängigkeit und die Niederschlagung der von Gewerkschaften und der französischen KP organisierten Kundgebung im Februar 1962 gegen die »Organisation de l’armée secréte« (OAS), eine am Vorabend der algerischen Unabhängigkeit formierte rechtsextremen Terrorgruppe, die für den Erhalt der »L’Algérie française« kämpfte, zeigten deutlich, dass Paris selbst im Mutterland nicht mehr Herr der Lage war.
Die vornehmlich aus radikalisierten Siedlern rekrutierte OAS verübte zahlreiche Bombenanschläge in Algerien, gezielte Exekutionen von FLN-Funktionären und Befürwortern der algerischen Selbstbestimmung. Die Folgen der algerischen Unabhängigkeit 1962 für Frankreichs Sozialgefüge waren verheerend. Gewaltsame Ausschreitungen gegen Algier-Franzosen nach der offiziellen Loslösung von Paris am 5. Juli lösten einen Massenexodus der »Pieds noir« aus. Allein 1962 erreichten 800.000 ehemalige Siedler französisches Festland. Das Gros der Ankommenden ließ sich im Süden des Landes nieder und begründet bis heute den starken Einfluss der FN in der Region.
Le Pen und Frankreichs Dolchstoßlegende
Der Algerienkrieg verschwand in den 1960er Jahre konsequent aus der Öffentlichkeit. Der »Krieg ohne Namen« lieferte keine Fragmente für die französische Kolonialideologie, keine Helden, keine Namen von ruhmreichen Schlachten. Erst in den 1970er Jahren begann sich das der »L’Algérie française« nahe stehende Milieu um OAS und Algier-Franzosen nach Jahren der parlamentarischen Orientierungslosigkeit neu zu formieren. Nach anfänglicher strafrechtlicher Verfolgung der Organisation folgte bereits in den 1960er Jahren eine Amnestie für ehemalige OAS-Mitglieder und unter der Präsidentschaft Mitterands eine weitgehende Rehabilitierung der OAS-Führung. Die Putschisten wurden materiell entschädigt. Man muss im Nachhinein konstatieren, dass die Amnestie für die OAS den Aufstieg der im Oktober 1972 gegründeten FN mit begünstigte.
Wenige Monate nach der von Mitterand durchgesetzten »Wiedergutmachung« erzielte die FN ihren ersten Erfolg bei einer Kommunalwahl. Im Juni 1984 erreichte die Partei bei den Europawahlen 11 Prozent der Stimmen, nachdem man beim Urnengang 1981 nur 0,3 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Die von der FN und der OAS nahen Siedler-Verbände beschworene Dolchstoßlegende in Zusammenhang mit dem Verlust Algeriens ermöglichte es der extremen Rechten, sich als Anwalt einer großen nationalen Sache in Szene zu setzen und das konservative politische Establishment unter Druck zu setzen.
Der Algerien-Besuch des französischen Außenministers Claude Cheysson im November 1984 anlässlich der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Kriegsausbruchs provozierte scharfe Kritik an der Politik gegenüber Algerien seitens gaullistischer Politiker, wie dem damaligen Bürgermeister von Paris Jacques Chirac sowie der rechtsgerichteten revisionistisch orientierten Siedler-Verbände, die vor allem in Südfrankreich zahlreiche Demonstrationen organisierten. Seit Mitte der 1980er Jahre ist die Front National aus dem parlamentarischen Betrieb der V. Republik nicht mehr wegzudenken.
Frankreichs Präsidenten vermieden eine offene Aufarbeitung
Europas Bemühungen, sich Zugang zu den Ölvorkommen Libyens zu verschaffen sorgten im Herbst 2008 für eine Sensation. Silvio Berlusconi, damals italienischer Ministerpräsident, entschuldigte sich für die von Italien begangenen Kolonialverbrechen und sagte Tripolis Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe zu. Trotz wiederholter Forderungen Algeriens, auch Paris möge seine Verantwortung für die während der Kolonialzeit verübten Gräueltaten eingestehen, vollzieht sich die französische Vergangenheitsbewältigung nur langsamen Schrittes.
Erst im Juni 1999 verabschiedete die Pariser Nationalversammlung ein Gesetz, in dem der Algerienkrieg als solcher offizielle Anerkennung fand. Das Wort »Krieg« ersetzte den bisher gebräuchlichen Terminus »Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung«. Die öffentliche Auseinandersetzung über die Rolle Frankreichs in Algerien entfachte kurz darauf die Folterdebatte von neuem, in deren Mitte sich der ehemalige Vorsitzende der Front National, Jean-Marie Le Pen, wieder fand. Le Pen, im Algerienkrieg als Mitglied der Fallschirmjäger für den französischen Geheimdienst tätig, leugnete in mehreren Gerichtsverfahren, eigenhändig gefoltert zu haben, obwohl er noch 1962 in der Zeitung Combat genau dies bestätigt hatte.
Wie umstritten die Bewertung der Kolonialgeschichte in Frankreich heute noch ist, veranschaulicht eindrucksvoll die öffentliche Rhetorik der französischen Exekutive. Bei seinem Algerienbesuch im Dezember 1981 sagte Staatspräsident François Mitterand vor dem algerischen Parlament: »Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Blicken wir jetzt, und zwar entschlossen, in die Zukunft.« Auch Jacques Chirac nahm im Rahmen seines Staatsbesuches in Algerien 2003 Stellung zum schwierigen Verhältnis beide Staaten zueinander, vermied jedoch wie seine Vorgänger ein Schuldeingeständnis zu formulieren. Vielmehr sagte er, beide Seiten hätten schmerzende Narben davon getragen und betonte die Bedeutung von noch zu erbauenden Fundamenten für die gemeinsame Zukunft.
Geschichtsklitterung per Gesetz?
Wie der Historiker Frank Renken in seinem Buch »Frankreich im Schatten des Algerienkrieges« ausführt, vermeidet es Paris weiterhin, konsequent einzugestehen, dass die Schmerzen beider Seiten aus der kolonialen Unterwerfung resultieren und keineswegs gleichmäßig verteilt sind. Der Algerienkrieg wird in Chiracs Lesart zu einer bloßen »Störphase« der gemeinsamen Beziehungen degradiert. Auch Chiracs Nachfolger im höchsten Staatsamt, Nicolas Sarkozy, bemüht ähnliche Termini im Umgang mit Algerien. Im Juli 2007 sagte dieser in Algier, er sei »weder gekommen, um zu verletzen, noch um sich zu entschuldigen, sondern als Freund.« Auch er betonte die Notwendigkeit, mit der Vergangenheit abzuschließen und sich »entschlossen der Zukunft zuzuwenden.«
Auch von Sarkozy war ein »Pardon« nicht erwartet worden. Dennoch sollte sein Besuch die Wogen zwischen Algier und Paris glätten, die ein im Februar 2005 in Frankreich erlassenes Gesetz ausgelöst hatte, welches die positive Rolle Frankreichs in seinen Kolonien hervorhob. »Die Nation spricht den Männern und Frauen, die am von Frankreich verrichteten Werk in den ehemaligen französischen Départements in Algerien (...) teilgenommen haben, ihre Anerkennung aus«, heißt es in der Präambel des Textes. Als besonders delikat entpuppte sich der Wortlaut von Artikel 4 des Gesetzes, der entgegen festgeschriebener gesetzgebender Kompetenzverteilung bildungspolitisch Einfluss zu nehmen versuchte und den Wissenschafts- und Lehrbetrieb dazu aufforderte »die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee und besonders in Nordafrika« zu betonen. Zwar erklärte Chirac in der Folge Artikel 4 aufgrund formaler Gründe für verfassungswidrig und ließ ihn streichen, der Text wurde dennoch von der Nationalversammlung angenommen und ist nach wie vor in Kraft.
Die UMP versucht insbesondere seit der Aufsehen erregenden Präsidentschaftswahl 2002, bei der der Sozialist Lionel Jospin die Stichwahl überraschend verpasste und Chirac gegen den rechtsextremen Le Pen antreten musste, der wieder erstarkten FN vermehrt am rechten Rand Stimmen abzujagen. Sowohl Chirac aber auch sein Nachfolger Nicolas Sarkozy nutzen die rechte Rhetorik immer wieder, um sich Gehör bei der einflussreichen Siedler-Lobby zu verschaffen. In diesem Sinne formuliert auch das »Gesetz vom 23. Februar 2005« neue Bestimmungen zur finanziellen Entschädigung von OAS-Mitgliedern. Auch die französischen Präsidentschaftswahlen 2012 stehen im Zeichen wahlkampftaktischer Manöver zwischen Konservativen und Rechtsextremen. Marine Le Pen, Tochter von Jean-Marie Le Pen und seit 2011 Chefin der FN, erreichte in Umfragen teils weit über 20 Prozent. Das Milieu um die nach 1962 nach Frankreich zurückgekehrten »Pieds noir« nährt noch heute die Stammklientel der FN und ist eine Hypothek für die algerisch-französischen Beziehungen.
Algeriens FLN setzt noch immer auf anti-französischen Kolonialdiskurs
Die FLN genoss nach der Unabhängigkeit unangefochtene Autorität in Algerien, auch weil sie sich bereits während des Krieges konkurrierender Gruppen entledigen konnte. Die Marginalisierung der sozialistisch orientierten Parteikader nach dem Militärputsch Houari Boumediénnes 1965 erlaubte der Regierung, die Implementierung einer autoritär islamisch ausgerichteten Politik. Boumediénne sicherte sich als Führungsoffizier der Grenzarmee, die sich in den algerischen Flüchtlingslagern in Tunesien und Marokko formierte und das machtpolitische Vakuum nach 1962 auffüllte, die zentralen Schaltstellen im Partei- und Militärapparat.
Seit 1954 propagierte die FLN den Slogan »Der Islam ist meine Religion, arabisch meine Sprache, Algerien mein Vaterland« und die Regierung Boumediénne vollzog ab 1965 eine Politik der Islamisierung der Gesellschaft. Die französische Sprache wurde aus den Schulen verbannt, die arabisch-religiöse Rhetorik verschärft, die touristische Erschließung der Küste zugunsten eines massiven Ausbaus der Erdölindustrie kassiert und die Opposition unterdrückt. »Das Französisch ist unser, es ist eine Kriegsbeute«, schreibt der Schriftsteller Kateb Yacine und brachte damit seinen Unmut über die staatlich verordnete Islamisierung Algeriens zum Ausdruck.
Die FLN monopolisierte die wirtschaftliche und politische Macht und nutzte den antifranzösischen Kolonialdiskurs zur Festigung ihrer autoritären Herrschaft. Ihre Legitimität bezieht dieFLN auch heute noch einzig aus dem antikolonialen Kampf. In »Postlagernd: Algier« schreibt Boualem Sansal: »Dieser Fall ist der Bankraub des Jahrhunderts. Der Kampf des algerischen Volkes für seine Unabhängigkeit wurde noch am Tag der Feuereinstellung, jenem berühmten 19. März 1962, privatisiert und (...) ist zum alleinigen Besitz der FLN (...) geworden.«
Angesichts des islamistischen Terrors der 1990er Jahre mischen sich inzwischen ordnungspolitische Fragmente unter die Legitimitätsstrategie der FLN, schließlich hat das demokratische Experiment die Renaissance der FLN-Herrschaft ermöglicht Der Kampf gegen den Kolonialismus bleibt jedoch wesentliches Element der Parteiideologie. Trotz der Verwicklung des Staates in Massaker an der Zivilbevölkerung wurde der Ruf nach stabilen Verhältnissen wieder lauter, die FLN demonstrierte eindrucksvoll, dass die politischen Instabilitäten ohne die Partei nicht beendet werden würden.
Auch Staatspräsident Bouteflika konnte den alteingesessenen Parteikodex mit seiner kolonialen Überbetonung nicht überwinden und gehörte zu den treibenden Kräften, die im Frühjahr 2010 erneut den Kolonialdiskurs bemühten, eine Entschuldigung des französischen Volkes für die in seinem Namen verübten Verbrechen forderte und ein Gesetz auf den Weg brachte, die Frankreichs Kolonialverbrechen in seinen ehemaligen Kolonien unter Strafe stellen soll.
Algerische Innenpolitik wird auch heute noch von einer Agenda bestimmt, die weniger die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes zu lösen versucht, sondern vielmehr die Vormachtstellung der FLN absichern soll. Fraglich bleibt indes, ob das Regime die koloniale Trumpfkarte weiterhin erfolgreich ziehen kann und auch 2012 den Unabhängigkeitstag am 5. Juli ausgiebig feiern wird, schließlich hat die Mehrheit der extrem jungen Bevölkerung die Kolonialzeit nicht erlebt und ist ausschließlich unter der autoritären Alleinherrschaft der FLN sozialisiert worden. Der Arabische Frühling ist bisher an Algerien weitgehend vorbeigezogen, doch das Land blickt angesichts der am 10. Mai statt findenden Parlamentswahlen einer kritischen Phase entgegen.