Die Welt streitet über einen möglichen Militäreinsatz der USA in Syrien. Währenddessen geht dort das Sterben weiter. Aleppo - das als Finanzhauptstadt Syriens galt - ist inzwischen eine Stadt, die nicht nur entlang der Frontline zwischen Regime und RebellInnen geteilt ist. Der Syrer Faysal beschreibt, wie die BewohnerInnen oft nur die Wahl zwischen Beschuss oder Verhungern haben.
Wir veröffentlichen den Brief eines Syrers, der in einem Nachbarland wohnt und dabei hilft, dass humanitäre Hilfe aus dem Ausland die syrische Bevölkerung erreicht. Er schrieb den Brief Anfang Juli und schickte ihn an seine Verwandten und Freunde in Europa.
Liebe Familie, liebe FreundInnen,
Ich muss euch über die schwierigen Zeiten erzählen, die unsere Familien derzeit in Aleppo erleben. Weil europäische Medien nicht mehr über die Stadt berichten, wird sie bald vergessen sein. Die Sommerferien stehen bevor und wir sollten sie nicht verderben, da in der Krise die Moral bereits sinkt. Im Gegensatz zur Ruhephase im Juni, die Ahmads Bruder, Schwester und Mutter zur Rückkehr nach Aleppo bewegte, ist die Lage derzeit katastrophal. In den vom Regime kontrollierten Nachbarschaften ist nichts mehr erhältlich. Wirklich überhaupt nichts. Es ist unmöglich, auch nur ein Kilo Tomaten oder Gurken zu finden, ohne stundenlang zu suchen. Eier sind extrem teuer, sie sind nun dreißig Mal teurer als vor dem Krieg.
Das syrische Pfund bricht zusammen. Man braucht ganze Tüten an Geld, um ein paar Essensvorräte zu kaufen; bald wird man Koffer brauchen, so schnell verliert das Pfund an Wert. Derzeit entspricht ein Euro noch 400 syrischen Pfund; vor dem Krieg waren es 60. Ahmads Mutter hat 20 Liter Benzin gekauft, das hat sie zwei Monatsrenten gekostet, rund 80 Euro. Vor Zwei Jahren betrug der Wert ihrer Rente 250 Euro im Monat; heute, nach der Entwertung, sind es nur noch 37 Euro. Sie braucht ihr Auto um Maher, Ahmads Bruder, zur Universität zu bringen, damit er seine Prüfungen ablegen kann. Wegen der explodierenden Benzinpreise fahren keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, und man muss unmögliche Entfernungen zu Fuß zurücklegen. Es heißt, dass der klare Himmel aufgrund des Ausbleibens von Verschmutzung durch CO2 der Vorteil davon sei.
Aleppo ist heute in zwei unterschiedliche Teile geschnitten, wie es der Fall mit Beirut war. Doch während Beirut durch konfessionelle Linien getrennt war, trennen soziale Klassen Aleppo. Im Osten regiert die Freie Syrische Armee über die armen Viertel der Arbeiterklasse; im Westen kontrolliert das Regime die Mittelklasse und die bourgeoisen Teile der Stadt. Zurzeit kann man fast alles auf der Seite der Freien Syrischen Armee finden. Das war noch vor einem Monat ganz anders. Es ist verrückt. Von einer Woche auf die andere ändert sich alles. Es besteht eine komplette Blockade zwischen den beiden Seiten: die Menschen müssen nach Ost-Aleppo gehen, um Essen zu bekommen, aber es ist ihnen nicht erlaubt, irgendwas in den Westen zu nehmen. Stattdessen versuchen sie Essen in Kissen, Fernsehern oder lockeren Anziehsachen zu schmuggeln. Einige Frauen täuschen vor, schwanger zu sein. Sie machen all das für ein paar Kilo Gemüse, Fleisch oder Brot.
Warten auf die große Schlacht
Leider klappt es nicht oft. Die Kontrollen sind sehr gründlich. Die Checkpoints zu überqueren ist nicht einfach nur schwierig, es ist gefährlich. Scharfschützen zielen auf die Straße, die die beiden Seiten trennt. Ihr solltet sehen, wie die Menschen rennen, um die Straße zu überqueren, die Angst in ihren Körpern, da sie jeden Moment erschossen werden könnten. Es ist die Hölle! Nur Hunde können sich frei bewegen. Ihre Ausbreitung ist beunruhigend, ganz besonders, wenn man sie in den Straßen rumliegende Leichen essen sieht.
Wie dem auch sei, die Menschen von Aleppo versuchen mit dem Leben weiter zu machen. Während des Ramadan, wenn die Stadt sonst vom Sonnenuntergang bis spät in die Nacht und hin zum Morgengebet mit Leben gefüllt ist, bleiben die Menschen jetzt zu Hause. Entweder lebt man heute im Westen, wo man riskiert, zu Tode zu verhungern, oder man lebt im Osten in andauernder Gefahr, beschossen zu werden.
All dies noch bevor die große Schlacht um Aleppo überhaupt begonnen hat. Alle reden darüber, da sie die zahlreichen Milizen und Fraktionen der Freien Syrischen Armee nach Aleppo zurückkehren sehen, die nicht auf offenem Gelände kämpfen wollen. Stattdessen versuchen sie das Regime in Straßenkämpfen herauszufordern, was oft mit willkürlichem Beschuss ohne Rücksicht auf ZivilistInnen beantwortet wird. Dabei unterstützt der Großteil der Bevölkerung von Aleppo weder das Regime noch die Opposition; vielmehr beschuldigen sie beide der Zerstörung Aleppos. Es gibt Aufrufe, eine dritte Kraft zu organisieren, um die beiden Hauptrivalen loszuwerden. Aber ich sehe das nicht als eine Lösung. Im Gegenteil, die Gefahr der Eskalation wächst. Verfluchter Krieg!!
Die Türen aus Syrien heraus schließen sich
Einige von euch kennen Mohammed, Bilals Bruder. Er hat Aleppo endlich verlassen, als letztes Mitglied unserer Familie. Er ist derzeit in Kairo, aber leider sind seine Tochter und Frau nach Istanbul gegangen, um Zuflucht bei einer ihrer Tanten zu finden. Mohammed kann sie nicht besuchen, weil er es nicht mehr riskieren kann zu reisen. So viele Familien sind gegen ihren Willen getrennt. Und es ist nicht möglich Ahmeds Familien herauszulassen. Es gibt keine Busse, die zur Küstenstadt Latakia fahren. Von dort kann man Syrien per Flugzeug verlassen. Doch nach dem Sturz Präsident Morsis verlangt die ägyptische Regierung, dass sich SyrerInnen ein Visum besorgen und sich Sicherheitskontrollen unterziehen.
Deshalb wurden viele Flüge bei ihrer Ankunft in Kairo zur Rückkehr gezwungen. Hunderten von SyrerInnen wurde die Einreise verweigert und sie wurden sofort zurückgeschickt. Die Türen, das Land zu verlassen, schließen sich für SyrerInnen. Es ist nicht einmal möglich, im Ausland Zuflucht zu bekommen. Europa gibt immer noch vor, das Problem nicht zu sehen. Stattdessen ist es den Politikern dort lieber, die hohen Kosten humanitärer Unterstützung für Syrer in den Nachbarländern und innerhalb Syriens zu tragen, anstatt ihnen zu helfen, ihr Leben irgendwoanders wieder aufzubauen.
Viele Syrer denken daher, dass sie dazu verdammt sind, auch in Zukunft in diesem Krieg zu leben. Dabei tun wir alle unser Bestes, um unseren Verwandten eine bessere Perspektive zu vermittlen. Doch angesichts der klaren Absage, normale Visa zu erhalten, während die Maßnahmen für Asylanträge niemals enden, weil sie so komplex sind, ist die Aussicht auf Veränderung ungewiss. In ihrer Not bleibt Vielen nur die „irreguläre Einwanderung“, wie die UN es euphemistisch nennt.
Das ist derzeit das Thema unserer Gespräche. Wie können wir unseren Familien dabei helfen, ein Gastland zu erreichen und eine Zukunft für ihre Kinder aufzubauen? Du kannst Dir vorstellen, wie lebendig unsere Diskussionen sind.
Wir denken an euch und wollen diesen Sommer wirklich kommen und Euch sehen und ein bisschen ausruhen.
Cheers,
Faysal
Dieser Brief erschien am 25. Juli 2013 bei unserem Partner Focus on Syria. Ansar Jasim und Johannes Gunesch haben ihn aus dem englischen Original übersetzt. Auf Alsharq sind weitere Beiträge von Focus on Syria erschienen - hier geht es zu
Zwei Millionen Flüchtlinge - die andere Seite des Syrien-Konflikts