Der Religionswissenschaftler Benjamin Raßbach und die Fotograf_innen Maciej Staszkiewicz und Miriam Stanke begleiteten 2012 eine Familie der Bakhtiari-Nomaden im Iran auf ihrer Wanderung ins Winterlager. Alsharq zeigt die beeindruckende Bilderstrecke und hat die nachdenklichen Macher zum Interview gebeten.
[slideshow_deploy id='7404']
Alsharq: Ihr habt eine Familie der Bakhtiari auf ihrer Wanderung ins Winterlager begleitet. Entstanden sind eindrückliche Bilder und Notizen. Worum ging es euch bei diesem Projekt?
Miriam: Für mich war es das erste Mal, dass ich mit dem Land in Berührung kam. Das alleine hat es schon aufgrund der anderen Kultur spannend gemacht. Eine Lebensweise wie die der Bakhtiari-Nomaden dokumentieren zu können war für mich eine einmalige Chance. Der Einfluss der Moderne ist zweifellos sichtbar und die Zahl der Semi-Nomaden steigt stetig. Viele geben diese Lebensform sogar ganz auf und ziehen in größere Städte. Die Herbstmigration ist somit auch Teil der Vergangenheit, eine Tradition, die nach und nach verloren geht und es wert ist, festgehalten und dokumentiert zu werden.
Benjamin: Ich hatte vor zehn Jahren einige Notizen von Bruce Chatwin über die Qashqa’i-Nomaden im iranischen Zagrosgebirge gelesen. Es ist dort von einer Situation während der Frühlingsmigration die Rede, als die Qashga'i-Familien mit ihren Herden gerade an den Ruinen von Persepolis vorbeiziehen. Chatwin versucht einen jungen Mann, der neben ihm reitet, zu einem Kommentar zu dieser antiken Stadt zu bewegen, dem wichtigsten Symbol der persischen Zivilisationsgeschichte. Dieser aber schaut einfach in die entgegengesetzte Richtung, als würde er sie gar nicht wahrnehmen. Ich war damals ziemlich beeindruckt von seinen Erfahrungen mit Nomaden und den Theorien, die er daraus entwickelte. Es ging ihm um das Prinzip und den Wert der Bewegung, stolzes Traditionsbewusstsein und grenzenlose Verachtung der sesshaften Sucht nach der Ansammlung von Besitz. Ich habe dann studiert und Persisch gelernt und bei meiner ersten Reise in den Iran eine Qashqa’i-Familie in der Halbwüste bei Firuzabad besucht.
Dort habe ich auch erfahren, dass die tradionelle Migration zu Fuß keinesfalls generell der Vergangenheit angehört, weder dort, noch sonst irgendwo im Mittleren Osten. Ich lernte, dass es im nomadischen Millieu immer eine Schicht gibt, die nicht die ökomomischen Mittel hat, um ihre Herden per LKW zu transportieren oder deren Weiden in Gegenden liegen, die nicht mit Kraftfahrzeugen zu erreichen sind – Menschen also, die gar nicht in der Lage sind, ganz und gar sesshaft zu werden. Es handelt sich also meist nicht um eine freie Entscheidung zu dieser Lebensform. Das hat Chatwin, glaube ich, nicht besonders interessiert. Es ist sinnlos zu bestreiten, dass die globalisierte westliche Kultur auch diese Menschen erreicht und ihr Leben sowohl in für sie positiver als auch in negativer Weise verändert. Trotzdem scheinen mir die objektiven ökonomischen Bedingungen hier zur Erhaltung einer Lebensweise zu führen, die nicht nur die vermutlich sinnvollste Nutzung der hochgebirgigen, halbwüstenartigen Landschaften ist, sondern bestimmte Kulturformen und Geisteshaltungen erhält, die in rein sesshaften und besonders in städtischen Zusammenhängen der Menschheit mit der Zeit einfach verloren gehen.
So ist die Idee gewachsen, die Migration einer iranischen Nomadenfamilie in diesem Fall der Bakhtiari zu begleiten und zu dokumentieren. Nicht um eine Theorie zu prüfen, sondern um einen Austausch auf verschiedenen Ebenen aufzubauen. Ich bin durch diese Erfahrungen mehr denn je davon überzeugt, dass Nomadismus – wie auch immer er sich mit der westlichen Massenkultur arrangiert – auch eine moderne und zukunftstaugliche Lebensform ist.
Chatwin hat also richtig beobachtet?
Benjamin: Ich kann Chatwin trotz seiner viel kritisierten Heroisierungen und Vereinfachungen in Bezug auf das Nomadische immer noch in gewisser Weise zustimmen, wenigstens auf der philosophischen Ebene. Dass er richtig beobachtet habe, wäre aber wohl zuviel gesagt. Er hat eher versucht, seine eigene Rastlosigkeit mit ethnografischen Beispielen zu begründen, wobei Dokumentation und Fiktion meist nicht zu trennen waren. Damit hat er gleichzeitig einen sehr sinnlichen und direkten Zugang zur Anerkennung beweglicher Lebensformen und deren besonderen Werte für die Zivilisation geschaffen.
Chatwins „nomadische Alternative“ scheint mir in mancher Hinsicht mittlerweile sogar notwendig: Es handelt sich um eine lebendige Alternative zur Erosion der gewachsenen Identitäten in der städtischen Sesshaftigkeit. Dieser Gedankengang hat mich dazu gebracht, Ziele und Hintergründe ethnologischer Arbeit generell zu hinterfragen. Die Ethnologie tendiert ja dazu, alle philosophischen und politischen Zielsetzungen seitens der Forschenden für unzulässig zu erklären. Ich glaube aber, dass unsere Aufgabe über die reine Dokumentation vermutlich verschwindender Kulturen hinausgehen sollte. Damit meine ich nicht die Rückkehr zu primitivkommunistischen Theorien, sondern die Anerkennung und Nutzbarmachung der tradierten Erfahrung lokaler Gesellschaften. In diesem Zusammenhang könnten Chatwins Ideen genutzt und verbessert werden.
Zu den positiven Nebeneffekten der Globalisierung gehört es auch, dass kleine, wenig bekannte kulturelle Gruppen wie die Bakhtiari oder die Qashga‘i den städtischen Gesellschaften zu einem Vorbild werden können, zum Beispiel in Hinblick auf Ökologie und Demokratie.
Das Projekt habt ihr über Crowdfunding finanziert. Rund 2000 Euro privater Spenden kamen zusammen. Wie funktionierte das – und kann Crowdfunding für hintergründigen Journalismus zukunftsweisend sein?
Miriam: Crowdfunding ist eine gute Möglichkeit, unabhängig Projekte realisieren zu können. Auch medial weniger präsente Themen und Projekte finden so ihren Weg an die Öffentlichkeit. Für mich ist das definitiv zukunftsweisend. Nicht ein Komitee entscheidet, sondern jeder, der sich für das Thema interessiert. Jeder hat potenziell Mitspracherecht. Und die Zustimmung geht bei guten Projekten auch schnell über den eigenen Freundeskreis hinaus. Man hat also die Möglichkeit, eine Stimme zu bekommen und diese auch zu nutzen, ohne an weitere Auflagen gebunden zu sein. Das Interesse und die Leidenschaft stehen somit über anderen Kriterien. Das ist zumindest eine gute Basis für hintergründigen Journalismus.
Benjamin: Ich war auch sehr positiv überrascht davon, wie gut das Crowdfunding funktioniert hat, obwohl ich weniger überzeugt davon bin, dass es in dieser Form zu mehr Mitspracherecht und gemeinsamer Ideenentwicklung führt. Die Spendenden sind ja außer durch den finanziellen Beitrag und den Erhalt eines vorher festgelegten Dankeschöns eigentlich nicht am Projekt beteiligt. Es handelt sich um die Vermarktung einer Idee an Freunde und ähnlich Denkende. Gleichzeitig umgeht man damit aber so einige bürokratische Umwege, die oft zu unproduktiver Anpassung an irgendwelche Vorgaben führen. Ich könnte mir vorstellen, dass das Prinzip entwicklungsfähig ist und in Zukunft tatsächlich eine demokratischere und weniger zentralisierte Informationsproduktion gewährleisten kann.
Journalisten arbeiten im Iran unter erschwerten Bedingungen: Der Staat kontrolliert genau, wer ins Land darf und was veröffentlicht wird. Wie seid ihr damit umgegangen?
Miriam: Die Einschränkung der Pressefreiheit war natürlich schon ein gewisses Thema, vor allem, wenn wir durch größere Städte gereist sind. Wir haben darauf geachtet, nicht zu sehr aufzufallen mit unseren Kameras und keine offiziellen Gebäude zu fotografieren. Unsere Ausrüstung war auch auf ein Minimum beschränkt. Das ist erst einmal etwas ungewohnt. Aber in den ländlichen Gegenden ist von Überwachung wenig zu spüren und generell haben wir uns relativ frei bewegen können.
Benjamin: Ich habe mir da ehrlich gesagt nicht so viele Gedanken gemacht. Unser Thema war ja kein vordergründig politisches, sondern machte den Anschein eines Reiseberichtes, der den iranischen Staat und seine derzeitige Politik nicht besonders thematisiert. Es scheint im Übrigen auch so, als ob der Islamischen Republik Iran in Bezug auf die offizielle Nomadenpolitik eine – zum Beispiel im Vergleich zu einigen mittelasiatischen Ländern – weniger negative Rolle zukommt. Khomeini hat die nomadisch lebenden ‚Stämme’ als dem ursprünglichen Islam besonders nahestehend bezeichnet.
Der iranische Staat hat vor allem deshalb Angst vor westlichem Journalismus, weil sowohl die stereotypen Bilder als auch die unschönen Wahrheiten, gestützt von der kulturellen Macht des Westens, auf die eigene Bevölkerung zurückwirken und sich so als Gegenbild zur Staatsideologie präsentieren. Ich denke, es ist möglich, auf eine Weise über den Iran zu berichten, die diesen endlos vereinfachten, staatlich-religiösen Antagonismus umgeht. Wir sollten von erlebten Realitäten erzählen und somit zur Auflösung dieses Schemas beitragen.
Drei junge Deutsche wollen mit über die Berge ziehen und das Ganze noch dokumentieren. Wie wurdet ihr von den Menschen, mit denen ihr unterwegs wart, aufgenommen?
Miriam: Ich glaube, für die Menschen dort waren wir genau so spannend wie sie für uns. Es war unglaublich schön, so gastfreundlich, offen und ohne Berührungsängste aufgenommen zu werden. Für mich war das eine einzigartige Erfahrung. Generell haben sich die Menschen einfach gerne Zeit für uns genommen und Interesse gezeigt.
Benjamin: Die Familie ist uns sehr selbstbewusst und mit viel Sinn für Humor begegnet. Nachdem anfangs einige behauptet hatten, es wäre uns physisch nicht möglich, mit über die Berge zu gehen, hatten wir bald einen Status irgendwo zwischen Ehrengästen und zusätzlichen Schafen. Wir wurden sehr herzlich aufgenommen, gleichzeitig war unsere völlig herausgelöste Position immer fühlbar.
In eurer Projektbeschreibung hieß es, ihr wollet den Iran „so zeigen, wie wir ihn wahrgenommen haben“ und einen Blick auf das Land „fernab der Nachrichtenagenturen“ ermöglichen. Was kommt eurer Ansicht nach in der medialen Berichterstattung zum Iran zu kurz?
Miriam: Die Berichterstattung aus dem Iran ist ja ziemlich einseitig und das vorherrschende Bild im Westen eher negativ konnotiert. Die Reaktionen auf unser Vorhaben von Freunden und Verwandten waren deshalb vorab auch oft negativ, zumindest habe ich das so erlebt. Das war schade, da es dem Land nicht gerecht wird, aber es zeigte auch, wie das Land wahrgenommen wird. Neben der offiziellen Riege gibt es auch ein Volk und eine vielseitige und spannende Kultur. Unsere Dokumentation versucht deshalb einen unvoreingenommenen Blick auf andere Aspekte des Landes zu werfen, zuhause bei Menschen, die dort leben. Zumindest für mich war der Iran das gastfreundlichste Land, das ich bisher bereisen konnte.
Benjamin: Wir können ja gar nichts anderes tun, als den Iran so zu zeigen, wie wir ihn wahrgenommen haben. Ich denke, dass jeder Mensch, der in den Iran reist und darüber berichtet, unausweichlich eine alternative Position zum Bild der westlichen Medien einnimmt. Das liegt sicher an der Vielfalt der Kulturen und der unendlichen Offenheit der Leute, die mich immer wieder in Staunen versetzen; es hat aber auch damit zu tun, dass der Staatsapparat mit all seinen negativen Seiten weitgehend von der Bevölkerung abgekoppelt ist. Ich habe selten Menschen getroffen, deren Gefühle und Meinungen erkennbar von der offiziellen Ideologie beeinflusst waren. Es gibt da jede Menge lebendige Widersprüche, zum Beispiel die bereits erwähnte, ziemlich absurde Idee vom ‚ursprünglichen Islam’ der Nomaden. Diese Aspekte sollten in der Berichterstattung über den Iran sehr viel mehr Raum finden.
Vielen Dank für das Gespräch und auf weitere spannende Projekte!