Ägypten erlebt die größte politische Krise seit dem Sturz des Mubarak-Regimes Anfang 2011. Die Gesellschaft ist tief gespalten, ein Kompromiss im Machtkampf zwischen Muslimbrüdern und Militär nicht in Sicht. Und eine ausländische Vermittlung ist unerwünscht. Aus Kairo berichtet Daniel Schreiber.
Als sei nichts gewesen schiebt sich das Wasser des Nils in seiner gewohnten Bahn unermüdlich unter den Brücken Kairos hindurch. Wohin Ägypten allerdings nach den Gewaltexzessen der vergangenen Tage steuert, ist ungewiss.
Ein Einlenken der Muslimbrüder, eine anhaltende blutige Unterdrückung der islamistischen Opposition, das Abrutschen in einen offenen Bürgerkrieg – mehr oder weniger wahrscheinliche Szenarien für die Zukunft gibt es viele. Die vom Chef der Übergangsregierung, Hazem al-Beblawi, angekündigte Prüfung einer Auflösung der Muslimbruderschaft und die derzeit laufenden Festnahmen der Führungsebene lassen zumindest eine Lösung am Verhandlungstisch in weite Ferne rücken.
Die Zerschlagung der beiden Protestcamps am Mittwoch und die brutalen Auseinandersetzungen am Freitag haben einmal mehr unterstrichen, welch tiefer Riss sich durch die ägyptische Gesellschaft zieht. Von einem autoritären Regime jahrzehntelang überdeckt, wird nun die große Konfliktlinie sichtbar. Auf der einen Seite stehen die Bruderschaft und ihre Anhänger, auf der anderen Seite stehen Ägypter, die in den Muslimbrüdern mittlerweile eine staatsgefährdende Terrororganisation sehen. Den Muslimbrüdern droht der dauerhafte Ausschluss aus dem politischen Prozess. Viele ältere Muslimbrüder mögen sich erinnert fühlen an die Verfolgungen der 1950er und 60er Jahre, als sie unter Gamal Abd al-Nasser kurz vor der Auflösung standen und die meisten Führer im Gefängnis saßen.
Der Weg zu stabilen Verhältnissen führt für viele Ägypter momentan nur über die staatlichen Sicherheitskräfte. Im Land herrscht große Sorge, in einen Bürgerkrieg abzurutschen. Davon profitieren insbesondere Teile des alten Mubarak-Regimes, die dankbar die Rolle als Gralshüter der gesellschaftlichen Ordnung annehmen. Das harte Vorgehen der Polizei und die Unterstützung durch das Militär finden großen Anklang in der Bevölkerung oder werden zumindest als notwendiges Übel in Kauf genommen. Einige Ägypter/innen berichten von einem regelrechten Sinneswandel in ihren Familien, in denen die Sicherheitskräfte noch bis vor Kurzem als Bedrohung gefürchtet wurden, jetzt aber als Beschützter des Staates gefeiert werden.
Armeechef Sisi gelang ein beeindruckender Imagewandel
Dem Aufruf der Graswurzelbewegung Tamarod, die sich als militärfreundlich erwiesen hat, Bürgerwehren zum Schutz der Stadtviertel und Kirchen zu bilden, sind viele Bürger Kairos nachgekommen. Dies hebelt das Gewaltmonopol des Staates aus und führt zu willkürlichen Untersuchen durch Zivilisten. Für die Übergangsregierung hat das jedoch gleichzeitig eine symbolische Bedeutung. Dahinter verbirgt sich die klare Botschaft: Volk und Staat stehen Seite an Seite im ägyptischen „Kampf gegen den Terrorismus“.
Innerhalb weniger Wochen ist dem Übergangskabinett und insbesondere Verteidigungsminister, Abd al-Fattah al-Sisi, ein Imagewechsel gelungen, der viele Beobachter erstaunt hat. Einen großen Anteil daran haben die ägyptischen Medien, die versuchen, die Proteste der Muslimbrüder zu dämonisieren und zu belegen, dass ein solch massives Vorgehen der Sicherheitsorgane notwendig gewesen sei, um Zivilisten und sich selbst zu verteidigen.
Doch auch die Bruderschaft hat ihre Kommunikationskanäle in Stellung gebracht, um den Kampf nicht nur auf der Straße auszufechten. Beide Seiten bemühen sich, die Schuld für den Gewaltausbruch von sich zu weisen. Die Muslimbrüder werfen den meisten TV-Sendern und Zeitungen eine ähnliche Rhetorik vor wie nach dem 25. Januar 2011, als staatliche Medien den Auslöser der Gewalt ausschließlich bei den Anti-Mubarak-Demonstranten ausmachten. Für die Anhänger Mursis ist klar, dass es sich bei dem Vorgehen der Armee um ein gezieltes Massaker am politischen Gegner handelt. Sie sehen darin den Beweis für den absolutistischen Machtanspruch des Militärs.
Der Westen macht sich derzeit keine Freunde in Ägypten
Innenminister Muhammad Ibrahim und Premierminister Hazem al-Beblawi machten in Ihren Statements nach der Räumung der beiden Protestcamps, Rabaa al-Adawiya und al-Nahda, hingegen deutlich, dass es Ihnen um die Wiederherstellung staatlicher Ordnung gegangen sei und die Sicherheitskräfte äußerste Zurückhaltung hätten walten lassen. Die stark voneinander abweichenden Opferzahlen sind ein weiteres Mittel dieser Propagandaschlacht; in jedem Fall lassen sie starke Zweifel an der offiziellen Sicht eines Einsatzes mit Augenmaß aufkommen. Der von den Muslimbrüdern an sich selbst gestellte Anspruch eines friedlichen und waffenfreien Protests ist ebenso mehr frommer Wunsch als Realität.
Wie sehr der Hass auf beiden Seiten gestiegen ist, zeigt sich vor allem in der verwendeten Sprache, die der Verunglimpfung des politischen Gegners dient. „Mörder“, brüllen die Muslimbrüder den Sicherheitskräften entgegen und versuchen diese Botschaft auch per Graffiti auf Straßen, Laternenmasten und Hauswänden in die Stadt zu tragen. Mostafa Hegazy, ein Berater des ägyptischen Übergangspräsidenten, bezichtigte die Anti-Putsch-Allianz in einer großen Pressekonferenz am Samstag, das Land in einen „terrorist war“ stürzen zu wollen. Die offizielle Verkündung einer solchen Bedrohungskulisse hat auch schon in anderen Fällen dazu gedient, sich die Legitimation für weitreichende innenpolitische Restriktionsmaßnahmen zu erteilen.
Die martialischen Worte zeitigen auch in anderer Hinsicht ihre Wirkung. In der Stadt tauchen mittlerweile vermehrt Plakate und Banner auf, die sich gegen die überraschend einhellige Meinung der EU-Staaten und der USA richten, deren Regierungen vor allem die ägyptische Führung für die Eskalation der Gewalt verantwortlich machen. Freunde macht sich der „Westen“ damit hier nicht. Viele sehen darin eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten und eine unbegründete Parteinahme für die Islamisten. Vor allem Journalisten berichten von zunehmenden Schikanen an den Checkpoints der eingerichteten Bürgerwehren. Es soll auch schon zu handfesten Übergriffen gekommen sein. Ob sich aber tatsächlich eine Atmosphäre der Einschüchterung gegenüber ausländischen Medien etabliert, bleibt abzuwarten. Sicher ist in diesen Tagen wohl nur, dass der Nil auch weiterhin dem Meer entgegenströmen wird.
Daniel Schreiber ist Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und gerade für kurze Zeit in Kairo. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wider.