Eine Serie von Anschlägen in Bagdad und Erbil weckt in diesen Tagen abermals die Sorge vor dem Ausbrechen eines irakischen Bürgerkriegs. Während die Welt nach Syrien blickt, versinkt der Nachbarstaat Irak erneut in Chaos und Gewalt. Doch so lange die konfessionellen Spaltungen anhalten, wird sich daran nur wenig ändern. Von Alexander Möckesch
Die aktuellen Nachrichten aus dem Irak erinnern stark an die Zeiten des irakischen Bürgerkriegs. Während der U.S.-Besatzung sind dadurch vor allem in den Jahren 2006 und 2007 mehrere Tausend Menschen ums Leben gekommen. Am vergangenen Sonntag und Montag wurden zuletzt bei Anschlägen auf öffentliche Ziele in verschiedenen Stadtteilen Bagdads über 100 Menschen getötet. Ziele waren sowohl ein Gemüsemarkt wie auch eine schiitische Moschee im Süden der Stadt. Selbst aus dem vergleichsweise ruhigen kurdischen Norden wird von einem Anschlag berichtet. Dort kamen elf Menschen durch zwei Autobomben ums Leben. So schreibt der Irak mit mehr als 800 Anschlags-Toten im August und 1.000 Toten im September erneut traurige Schlagzeilen.
Aktuell gilt der Monat Mai 2013 als der blutigste im Irak seit dem Abzug der U.S.-Kampftruppen im Jahr 2011. Durch zum Teil koordinierte Anschläge, sowohl gegen Zivilisten als auch gegen Regierungseinrichtungen, starben damals 1.045 Personen, mehr als 2.300 wurden verletzt. Oftmals wird als Ursache die Gewalt im Nachbarland Syrien angeführt. Irakische Sunniten würden aus dem syrischen Kampfgebiet zurück in ihre Heimat strömen und ihre dort gesammelte Erfahrung nutzen, um professionelle Anschläge in ihrem Heimatland durchzuführen.
Die erneut ansteigende Gewalt einzig auf den Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien zurückzuführen wird der Realität jedoch nicht gerecht. Diese Begründung wäre eindimensional und würde elementare Probleme des Irak ausblenden, die die Gewalt von innen befeuern. So ist die Welle der Gewalt vor allem Ausdruck massiver struktureller Probleme in der Wirtschaft und Gesellschaft des Landes. Um das Gewaltpotenzial zu verstehen, muss man daher einen Blick auf den Charakter des aktuellen irakischen Politikstils sowie auf den Transformationsprozesswerfen, den der Irak auf der Suche nach einer neuen politischen Identität nach Ende des Saddam-Regimes und dem Abzug der U.S.-Kampftruppen durchläuft.
Alle haben Angst, zu kurz zu kommen
Die politische Neugestaltung des Irak hält zwar an, ist aber immer wieder Rückschlägen ausgesetzt. Die Wirtschaft liegt trotz umfangreicher Investitionsprogramme darnieder. Laut dem Anfang 2013 vorgelegten Bericht des „Special Inspector General for Iraq Reconstruction“ (SIGIR) investierten die USA bis dato 60 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau, wobei rund acht Milliarden Dollar oder rund 13 Prozent davon ineffektiv investiert wurden. Die stagnierende Wirtschaft bewirkt ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit, was vor allem die irakische Jugend hart trifft. Fünfzig Prozent der Bevölkerung sind unter 18 Jahren alt, mehr als siebzig Prozent unter 25. Die anhaltende Perspektivlosigkeit junger Menschen gilt als zunehmende Sicherheitsproblematik. So gilt es als erwiesen, dass gewaltbereite Gruppen im Irak insbesondere aus diesem Pool junger Menschen ihre Kader rekrutieren.
Der Aufbau einer funktionierenden und effektiven Wirtschaft sowie wirtschaftlicher Infrastruktur sollte die Hauptaufgabe der irakischen Regierung unter Ministerpräsident Nuri Al-Maliki sein. Doch statt einer gemeinsamen Arbeit zum wirtschaftlichen Wiederaufbau – insbesondere der Erdölwirtschaft einschließlich der Neuverteilung der daraus resultierenden Rentenerträgen – konkurrieren die politischen, oft an ethnisch-konfessionellen Linien orientierten Parteien um Einfluss in Politik und Wirtschaft.
Es steht viel auf dem Spiel. Die Erträge der Erdölwirtschaft, die zu Zeiten von Saddam Hussein überwiegend der sunnitischen politischen Elite zugeflossen sind, sind neu zu verteilen. Und jeder hat Angst, zu kurz zu kommen. Die größten Ölvorkommen des Irak befinden sich im kurdisch dominierten Norden sowie im schiitisch dominierten Süden des Landes. Unter Saddam Hussein waren vor allem die sunnitischen Herrschereliten die Profiteure dieses Ölreichtums. Dies änderte sich 2003, wobei nun jede konfessionelle Gruppe versucht, die Einnahmen aus den Ölfeldern in den von ihnen dominierten Gebieten für den (Wieder-)Aufbau „ihrer“ Gebiete zu verwenden. Dadurch gewinnt u.a. die „Kurden-Frage“ mit den Visionen eines eigenen kurdischen Staatsgebietes im Norden des Irak mit Teilen Syriens und der Türkei neuen Auftrieb. Im Irak befeuert das Thema „Finanzverteilung“ die Auseinandersetzungen zwischen den Provinzen und der Zentralregierung in Bagdad. Fest steht, dass eine als ungerecht empfundene Verteilung der Erdölerträge die Spannungen zwischen den Provinzen ebenso wie zwischen den Konfessionen anhalten lässt.
Der Ruf nach dem starken Mann
Neben der Wirtschaft ist auch die Frage nach der künftigen politischen und gesellschaftlichen Identität des Staates offen. Der Kampf um die politische Vorherrschaft im Irak kann auch als Kampf um die Deutungshoheit in dieser Frage gesehen werden. Unter der Herrschaft der Ba´ath-Partei diente der arabische Sozialismus als politisches Identifikationsmerkmal, der mit einer säkularen Ausrichtung Politik über konfessionelle Grenzen hinweg betrieb.
Mit dem Ende der Ba´ath-Herrschaft 2003 begannen dann politische Identitäten entlang konfessioneller Linien die Auseinandersetzungen im Irak zu bestimmen. Dabei konkurrieren beide großen muslimischen Strömungen: die Sunniten sowie die Schiiten. Die sunnitischen Dominanz in der Regierung bestand seit 1971 und wurde erst durch den Sturz Saddam Husseins 2003 beendet. Das Ende dieser Dominanz in der Politik führte zu einem identitätspolitischen Vakuum, wobei die schiitische Bevölkerung durch ihre numerische Mehrheit nun ihrerseits die Chance sah, die politische Führung zu übernehmen. Die politische Infrastruktur war jedoch noch auf die von Saddam Hussein protegierte sunnitische Minderheit ausgerichtet, die ihre Pfründe und Privilegien dennoch in Gefahr sah. Daraus erwuchs ein Konflikt zwischen Parteien, die um ihre politische und wirtschaftliche Existenz fürchteten, und Parteien, die nach einer politischen Marginalisierung selbst politische Verantwortung ausüben wollten.
Der Irak und dessen Gesellschaft scheinen in diesem Kampf um Einfluss zwischen den ethnisch-konfessionellen Gruppierungen zerrieben zu werden. Die aktuelle Welle von Gewalt ist daher Ausdruck dieser Probleme. Durch die zunehmende Spaltung der irakischen Politik entlang konfessioneller Linien verhärtet sich zudem der Eindruck, dass das Land an den Machtambitionen seiner eigenen Politiker zerbricht. Prominente Persönlichkeiten wie Al-Maliki, die eher als Vertreter einer konfessionell-orientierten Interpretation von Politik angesehen werden können, haben viel Einfluss. Moderate nationale „Versöhner“ dagegen, wie beispielsweise der ehemalige Parlamentspräsident Hajim al-Hassani oder der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident und Finanzminister Rafi Hiyad al-Issawi, werden bei ihrem Versuch, Politik jenseits von konfessionellen Identitäten zu betreiben, ins Abseits gedrängt. Dabei erscheint es fast schon ironisch, dass aufgrund des Mangels an nationalen Versöhnern und angesichts der sich zuspitzenden Spannungen jetzt der Ruf nach einem „starken Mann“ laut wird, um dem Chaos und der Gewalt auf den Straßen entgegenzutreten. Dass sich Ministerpräsident Al-Maliki als diese „starke Figur“ präsentiert, dessen Politik zugleich in Teilen die prekären Verhältnisse mit beeinflusst hat, ist dabei Ausdruck einer politischen Paradoxie.
Al-Maliki vertieft die Gräben, statt sie zu überwinden
Al-Malikis starke politische Position sowie die Abwesenheit eines glaubwürdigen Oppositionellen von Seiten der sunnitischen Gemeinschaft ist auch Ergebnis einer verfehlten U.S.-Besatzungspolitik. Diese entschärfte die gesellschaftlichen Spannungen nicht. Im Gegenteil:sie vertiefte die Gräben zwischen den Gruppierungen der irakischen Gesellschaft weiter. Das liegt vor allem an der Entscheidung, politische Ämter nach konfessioneller Zugehörigkeit zu verteilen. Auch das „Ent-Ba´ath-isierungsprogramm“ trug zur gesellschaftlichen Spaltung bei, indem sogar niedrigen Beamten wie Lehrern aufgrund ihrer Parteimitgliedschaft Posten und Arbeitsplätze entzogen wurden. Tatsächlich war unter Saddam Hussein die Partei-Mitgliedschaft Voraussetzung für jegliche Berufe im Staatsapparat. Anstatt die Schergen des Regimes aus dem Staatsgeschäft zu halten, zerstörte die amerikanische Besatzungspolitik daher den gesamten personellen Unterbau staatlicher Einrichtungen mitsamt des Bildungs- und Sicherheitswesens. Was ein entschiedenes Vorgehen gegen die abgesetzte Regierung sein sollte, stellte sichso als großes Hindernis für den Wiederaufbau des Iraks heraus.
Eine „Regierung der Sunniten gegen die Schiiten“ wurde mittlerweile durch eine „Regierung der Schiiten gegen die Sunniten“ abgelöst. Das zeigt sich unter anderem am Politikstil von Ministerpräsident Al-Maliki. In seiner inzwischen siebenjährigen Amtszeit folgte er einer Strategie des „Teile und Herrsche“-Prinzips. Dabei gelang es ihm, nahezu jede glaubhafte gemäßigte sunnitische Führungspersönlichkeit zu delegitimieren und zu entmachten. Dies geschah oft auf Basis des nach der U.S.-Invasion erlassenen „Justice and Accountability“-Gesetzes. Dieses Gesetz erlaubt, Politiker aufgrund vermeintlicher Kooperation oder Mitgliedschaft in der Ba´ath-Partei aus ihren Ämtern zu entlassen. So wurde im Vorfeld der Parlamentswahlen von 2010 unter anderem Salih Al-Mutlaq, der das Parteienbündnis der Al-Iraqiyya (al-Ḥarakat al-Waṭanīya al-ʿIrāqīya) mitbegründete, aufgrund seiner früheren Mitgliedschaft in der Ba´ath-Partei von der Wahl ausgeschlossen.
Der von der Regierung Al-Maliki ausgeübte Druck verschärfte darüber hinaus die internen Gräben im Parteienbündnis der Al-Iraqiyya. Dabei standen sich vor allem die gemäßigten sunnitischen Politiker und diejenigen Kreise gegenüber, die den irakischen Machtpoker um politische Partizipation und Identifikation für ein Nullsummen-Spiel halten, indem der politische Machtgewinn einer Seite als Macht- und Einflussverlust der anderen interpretiert wird.
Die Opposition ist zerstritten
2010 errung die Al-Iraqiyya mit den vier in ihr versammelten und zusammengeschlossenen Parteien unter ihrem Vorsitzenden Iyad Allawi noch 91 Sitze im irakischen Parlament. So lag sie sogar vor der Rechtsstaat-Koalition (al-I'tilāf Dawlat al-Qānūn) von Ministerpräsident Al-Maliki, die 89 Sitze erreichte. Doch die Al-Iraqiyya konnte diesen Wahlerfolg nicht in politisches Kapital umsetzen. Al-Maliki gelang es stattdessen, 159 Abgeordnete in seinem schiitisch-dominierten Block zu versammeln und er wurde erneut zum Ministerpräsidenten gewählt. Aus Frust über das Unvermögen, selbst die Regierung zu stellen und der Unzufriedenheit über Iyad Allawi kam es in der Folgezeit zu vermehrten Parteiaustritten aus der Al-Iraqiyya. In Folge dessen wurden einzelne Splitterparteien gegründet wie beispielsweise der „National White Bloc“ unter der Führung von Hassan Al-Alawi.
Der irakische Parlamentsabgeordnete Jama Al-Batikh, der aus der Al-Iraqiyya ausgetreten ist, schildert die parteiinternen Probleme dabei wie folgt:
„It’s dominated by a handful of leaders while thousands of party members are left on the sidelines, their opinions ignored. The Iraqiya list really has no clear ideology or policies. […] It opposes the government – yet at the same time, it participates. It makes no sense.“
Der amerikanische Politikwissenschaftlicher Anthony Cordesman am Center for Strategic and International Studies zieht ein ähnliches Fazit. Er argumentiert, dass nach dem unklaren Ergebnis der letzten Parlamentswahlen und der Fortsetzung der schiitisch-dominierten Regierung Al-Malikis politische Chancen zur nationalen Versöhnung vergeben wurden:
„The failure of the 2010 election to produce a clear victor or any kind of functional [...] has divided the structure of the central government along sectarian lines while leaving divisions between Arabs […] unresolved. The ironic result is a structure where Maliki has reemerged – and perhaps been forced to emerge – as a strong central leader using his office to control the armed forces and security services.“
Die Opposition zur starken Positions Al-Malikis ist schwach, sowohl im Parlament als auch in den Provinzen. Glaubhafte und einflussreiche Oppositionspolitiker sind entweder kaum vorhanden oder können sich nicht durchsetzen. Das befördert den öffentlichen Unmut am gegenwärtigen irakischen Regierungssystem und Regierungsstil.
Als bisheriger trauriger Höhepunkt der Unzufriedenheit gilt der 23. Mai 2013: Bei einer Protestaktion in der vor allem von Sunniten bewohnten Stadt Hawiya in der Provinz Kirkuk stürmten Sicherheitskräfte eine regierungskritische Protestaktion. Im Verlauf der gewaltsamen Auflösung wurden 50 Menschen getötet und 110 Menschen verletzt. Die Geschehnisse verschärften die Spannungen zwischen Regierung und Opposition zusätzlich. Verbunden mit der Wahrnehmung, marginalisiert sowie als „gewalttätig“ dämonisiert zu werden und den Bestimmungen der Zentralregierung ausgesetzt zu sein, ohne daran kritisch Anteil nehmen zu können, verstärkte der 23. Mai die Gefahr einer Radikalisierung von Teilen der Opposition.
Ein Anstieg von Gewalt durch oppositionelle Protestierende sowie sunnitische Aufständischekönnte dabei allerdings Al-Malikis Position als „starker Mann“ in Bagdad eher festigen als destabilisieren. Die Gewaltexzesse werden wahrscheinlich nicht bewirken, dass Al-Maliki seine bisherige Politik, die besonders auf die schiitische Bevölkerung ausgerichtet ist, beenden oder sich von seiner Regierungsposition zurückziehen wird. Dafür steht zu viel auf dem Spiel, zu viele Fragen sind ungeklärt, die Regierung ist zu schwach. Aber vor allem fehlt ein wichtiger Mitspieler in einem repräsentativen „demokratischen“ System: eine effektive und charismatische Opposition mit Einfluss, die keiner politischen Repression ausgesetzt ist.
Der Verlierer ist die Mittelklasse
Die wahren Verlierer dieses Spiels um die neue Machtverteilung am Tigris sind jedoch andere: die säkulare Mittelklasse, die sich nicht primär durch ihre Zugehörigkeit zu einer Konfession definiert. Mit dem Niedergang der Al-Iraqiyya fehlt nun ein effektiver politischer Repräsentant für diejenigen irakischen BürgerInnen, die sich eine Politik jenseits von Konfessionen wünschen.
Einer Umfrage zufolge definieren sich viele Iraker – vor allem arabische Iraker – primär als Iraker und nicht in erster Linie als Zugehörige einer bestimmten ethnischen oder konfessionellen Gruppierung. Daher würde eine nationale Versöhnungspolitik, die vor allem die politischen Gruppen in den Blick nimmt, die sich primär durch ihre konfessionelle Zughörigkeit definieren, Gefahr laufen, diejenige Iraker zu verprellen und auszuschließen, die sich keinem dieser Lager zurechnen.
Je stärker eine Abgrenzung in der Politik anhand von konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt, desto mehr wird diese Gruppe von Irakern, die sich nicht in eine „Wir gegen die Anderen“-Rhetorik und Mentalität hineinziehen lassen möchten, ihrer politischen Perspektiven als Versöhner und symbolische Brückenbauer im Land beraubt.
Dabei sind die Iraker inzwischen traurigerweise an Terroranschläge in ihrem Land gewöhnt. Die Anschlagsorte in Bagdad und Erbil werden wieder aufgebaut. Die Menschen versuchen trotz der widrigen Umstände ihren Alltag zu meistern. Aber der nächste Anschlag wird früher oder später kommen. Selbst wenn die aktuelle Gewalt erneut absinken sollte, die strukturellen Defizite als Zündstoff bleiben vorhanden und ein erneuter Funke ist nur eine Frage der Zeit. Fest steht: Ein offener Bürgerkrieg sieht anders aus, Frieden aber auch. Auch hier ist der Irak ein Gefangener zwischen zwei Polen. Und ein Ende ist nicht in Sicht.
Alexander Möckesch studiert den Master Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens am Centrum für Nah- und Mitteloststudien der Philipps-Universität Marburg.