22.02.2013
Der israelische Diskurs zum Arabischen Frühling

Die Welle der Revolutionen in arabischen Ländern seit 2011 wurde weltweit unter dem Begriff „Arabischer Frühling“ als eigenes Phänomen mit großem Interesse betrachtet oder gar gefeiert. In Israel, ob seiner geopolitischen Lage in einer besonderen Situation, war der Diskurs zu den Umwälzungen umstrittener als andernorts. Lior Lehrs, israelischer Politikwissenschaftler, hat die Debatte analysiert. 

Nach der Welle dramatischer Ereignisse in den arabischen Ländern begann man, die Entwicklungen weltweit als „Arabischen Frühling“ zu bezeichnen. Dabei schien es zunächst, als könnten Israelis diesen Begriff ob seiner positiven, optimistischen Konnotationen nur schwer akzeptieren. Viele begannen, die Geschehnisse als „Arabischen Winter“ oder „Islamischen Winter“ zu bezeichnen, um sich vom Begriff des „Frühlings“ abzugrenzen und der eigenen, negativen Lesart der Entwicklungen Ausdruck zu verleihen. Eine kritische Analyse des israelischen Diskurses zum Arabischen Frühling ergibt jedoch ein komplexeres Bild. Die vielfältigen Stimmen lassen sich zu drei typischen Reaktionsmustern zusammenfassen.

Aus Sicht so manches Israelis ein „Arabischer Winter“

Reaktionen des ersten Typs stellten den Arabischen Frühling eindeutig negativ dar. Der bedeutendste Repräsentant dieser Kategorie ist Premierminister Netanjahu. Noch in seinem 1993 erschienenen Buch „A Place Among the Nations“ argumentierte Netanjahu, dass Frieden in Nahost daran scheitere, dass kein Staat außer Israel dort demokratisch sei. Sollten westliche Staaten in der Region Frieden nach westlichem Verständnis erreichen wollen, müssten sie zuerst die arabischen Staaten zur demokratischen Öffnung drängen.
Seine Reaktion als Premierminister auf den Arabischen Frühling fiel dann allerdings deutlich anders aus. In seinen Äußerungen gegenüber der israelischen Öffentlichkeit malte er ein bedrohliches Bild eben jener Entwicklungen, die er einst erhofft hatte. „Trotz all unserer Hoffnungen“, sagte Netanjahu im Oktober 2011, „ist damit zu rechnen, dass eine islamische Welle durch die arabischen Länder gehen wird. Eine anti-westliche Welle, eine anti-freiheitliche Welle, eine anti-israelische Welle und letztlich eine anti-demokratische Welle.“

Netanjahu befürchtet eine „anti-demokratische Welle“

Interessanterweise äußerte sich Netanjahu gegenüber dem Rest der Welt in einem völlig anderen Tonfall. In Statements, die an eine ausländische Öffentlichkeit gerichtet waren, gab er sich optimistischer. Im Februar 2011 sagte er vor Diplomaten: „Israel ist eine Demokratie und begrüßt die Verbreitung freiheitlicher und demokratischer Werte im Nahen Osten. Die Verbreitung dieser Werte wird dem Frieden zugute kommen.“ Anfang 2012 schrieb Netanjahu im Rahmen einer Online-Diskussion mit dem Premierminister und arabischen Usern: „Größere Freiheit in den Ländern der arabischen Welt wird ihren Wohlstand mehren. Und größere Informationsfreiheit kann den Weg hin zu Frieden ebnen.“ Neben Netanjahu machten sich auch andere Politiker, vor allem Figuren aus dem rechten Lager wie Moshe (Bogie) Yaalon und Danny Ayalon sowie Persönlichkeiten aus dem Sicherheitsapparat, eine negative Interpretation der Geschehnisse zu eigen.

Reaktionen der zweiten Art akzeptierten diese negative Darstellung, versuchten jedoch, ein komplexeres Bild der Lage zu zeichnen, und zogen andere Schlussfolgerungen. Ein Beispiel für diese Lesart sind die Worte Amos Yadlins, des ehemaligen Chefs des Militärgeheimdienstes. Yadlin ließ verlauten, dass die Proteste in der arabischen Welt „eher Chance als Risiko“ darstellten. Der ehemalige Mossad-Chef Meir Dagan erklärte, dass Israel für die kommenden drei bis fünf Jahre dank des Arabischen Frühlings keiner militärischen Bedrohung mehr ausgesetzt sei. Auch Yitzhak Levanon, Israels Botschafter in Ägypten bis November 2011, zeigte sich aufgeschlossen und betonte in einem Interview, man solle „nicht nur die leere Hälfte des Glases sehen.“

Revolution als Chance oder Risiko?   

Eine dritte Art von Reaktion wandte sich gegen die negative Interpretation der Ereignisse und betonte eine andere, optimistische Sicht auf die Dinge. Als Beispiel können zwei ehemalige Befürworter von Netanjahus These vom „Demokratischen Frieden“ dienen. Präsident Shimon Peres schrieb in einem Beitrag für den britischen Guardian im April 2011: „Wir in Israel begrüßen den Arabischen Frühling. ... Israel begrüßt den Geist des Wandels und sieht in ihm eine Chance, die es zu ergreifen gilt.“ Auch Natan Sharansky, Vorsitzender der Jewish Agency, äußerte sich in einem Artikel für die Washington Post vom Dezember 2011 optimistisch: „Der Westen sollte in Ägypten auf Freiheit setzen.“ Solche Ansichten wurden allerdings wesentlich häufiger gegenüber der internationalen Presse geäußert als gegenüber den israelischen Medien.

Auch ein Blick auf Meinungsumfragen in Israel ergibt ein komplexes und sich wandelndes Bild. Umfrageergebnisse aus dem Jahr 2011 zeigten, dass rund die Hälfte der befragten Israelis die Ereignisse als positiv für Israel und für die Menschen in der Region einschätzten, während die andere Hälfte der Befragten angaben, Israel stünde durch die Entwicklungen schlechter da als zuvor. Im Laufe der Zeit hat sich die Zahl derjenigen erhöht, die die Umwälzungen in der Arabischen Welt als bedrohlich für Israels nationale Sicherheit erachten.

Ägyptens Mursi wird seit seinem Eingreifen während der Gaza-Krise in Israel positiver bewertet

Interessanterweise schwächten sich die Ängste der israelischen Bevölkerung bezüglich der Zukunft der israelisch-ägyptischen Beziehungen nach Mursis Wahlsieg in Ägypten deutlich ab. Besonders deutlich wurde das nach der israelischen Militärintervention in Gaza im Herbst 2012: Zwei Drittel der Israelis äußerten sich anerkennend zu Mursis vermittelnder Rolle in den Verhandlungen über einen möglichen Waffenstillstand. Insgesamt war den Befragungen zu entnehmen, dass die arabische Bevölkerung in Israel den Arabischen Frühling sehr viel positiver bewertete als die jüdische Öffentlichkeit.

Insgesamt muss der israelische Diskurs zum Arabischen Frühling tiefgehender und ernsthafter werden. Die eindimensionale Betrachtungsweise der Regierung ist für ein pragmatisches Verständnis der Situation unzulänglich, alternative Ansätze müssen gefunden werden. Wir müssen uns von generalisierenden und vereinfachenden Schlussfolgerungen distanzieren und die jeweiligen arabischen Länder und Gesellschaften differenziert betrachten. Das heißt auch, Schwarz-Weiß-Schemata von „Islamisten“ versus „Nicht-Islamisten“ zu vermeiden und die Öffentlichkeit stärker über die Vielzahl von Akteuren und Interessengruppen ins Bild zu setzen. Wir müssen uns zudem stets bewusst sein, dass die Medien in Zeiten der Umwälzung oft eine verzerrte und parteiische Berichterstattung liefern, da sie extreme Ereignisse stärker hervorheben als langsamere, komplexere Wandlungsprozesse.
Schließlich wird es angesichts des großen Erfolges der islamischen Bewegungen als politische Akteure in Regierungsverantwortung unerlässlich sein, diese genauer und nuancierter zu analysieren. Nicht zuletzt, um Wege zu finden, mit diesen Bewegungen in offiziellen oder inoffiziellen Austausch zu treten.

Lior Lehrs ist Doktorand am Department für Internationale Beziehungen der Hebräischen Universität Jerusalem und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jerusalemer Institut für Israelische Studien. Eine englische Version des Artikels erschien zuvor in der israelischen Tageszeitung Ha'aretz. Eine englische Langfassung ist einsehbar auf der Webseite des Mitvim-Institutes. Die Forschungsarbeit entstand als Teil des „Opportunities in Change“-Projektes des israelischen Mitvim-Institutes für Regionale Außenpolitik in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Aus dem Englischen von Lea Frehse und Ruth Denkhaus.

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