25.03.2015
Der algerische Film „l’Oranais“ drückt da, wo es wehtut
Screenshot der Facebookseite von "L'oranais": Hier ist Kritik noch möglich.
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Freundschaft, Verrat, Desillusion und Korruption. In seinem Film L’Oranais („Der Mann aus Oran“) zeichnet der in Frankreich aufgewachsene algerische Regisseur Lyes Salem ein dramatisches und erschreckend präzises Bild einer bisher in Filmen kaum behandelten Zeit der algerischen Geschichte: zwischen der Unabhängigkeit und der Entstehung der Berberbewegung in den 1980er Jahren. Von Manuela Schweizer Auf schonungslose Weise konfrontiert Salem die Zuschauer mit Korruption, Intrigen und Morden innerhalb der neuen politischen Elite, einer Gruppe befreundeter Unabhängigkeitskämpfer (Mudschahedin), die nach ihrer Rückkehr aus dem Untergrund zunächst von der Bevölkerung als Helden der Revolution gefeiert werden. Die von dem Verein Africavenir organisierte Deutschlandpremiere fand am 18. Februar im Kino Hackesche Höfe in Berlin statt. Es ist die Geschichte der Freundschaft von Djaffar, dem „Mann aus Oran“ und Hamid, die 1962 irgendwo im Oraner Bergland an der Westküste Algeriens beginnt, wo die beiden mit ihrem Freund Farid für kurze Zeit am selben Ort gegen die Franzosen kämpfen. Dann trennen sich jedoch ihre Wege. Als Helden kehrten die Widerstandskämpfer zurück Als der von Salem selbst gespielte Djaffar fünf Jahre später in sein Heimatdorf zurückkehrt, wird er von den Dorfbewohnern fahnenschwenkend empfangen und als Held gefeiert. Er trifft Hamid und Farid wieder und zelebriert mit ihnen die Freude über die gemeinsam erkämpfte Freiheit und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch Djaffars Euphorie ist schnell verflogen, als er in seinem Haus nicht seine Frau Yasmina vorfindet, sondern von ihren Verwandten erfährt, dass sie nicht mehr lebt. Stattdessen steht er einem blonden und blauäugigen Jungen gegenüber, mit dem seine Frau nach der Vergewaltigung durch einen Franzosen schwanger war, bevor sie ihn zur Welt brachte und starb. Sofort macht ihn stutzig, dass seine revolutionären Freunde ihm nichts davon erzählt haben. Er riecht Verrat, doch die Euphorie hält noch ein bisschen an: Djaffar feiert rauschende Feste mit seinen Freunden. Hamid, der Minister wird, verschafft Djaffar den Posten der Leitung einer Schreinerfabrik. Salem arbeitet mit teilweise sehr einfachen Szenen: Djaffar sitzt in seinem neuen Büro vor einem riesigen Schreibtisch, auf dem drei Telefone stehen, von denen eins klingelt. Dies soll seinen Machtzuwachs verdeutlichen. Die Freunde finden Gefallen am Luxusleben der neuen Bourgeoisie. Bald bedienen sie sich aus den staatlichen Kassen und verstricken sich immer tiefer in Korruption. In Algerien, wo der Film bereits im November gezeigt wurde, hat Salem einen Nerv getroffen: Er greift die Sakralität der Erinnerungskultur des Unabhängigkeitskämpfers an. Der starke Alkoholkonsum der Mudschahedin stieß bei Islamisten auf heftige Kritik. Die nationale Organisation der „Kinder der chouhadas“, der Märtyrer des Unabhängigkeitskriegs, konnte deren Entmystifizierung nicht akzeptieren und rief zur Verhaftung der Filmemacher auf. Die algerische Kulturministerin, Nadia Laabidi, zeigte Verständnis für die Kritik an der „revolutionären Familie“, monierte aber, der Regisseur habe sich von dem Szenario, dass er für die Finanzierung des Films bei der algerischen Kulturbehörde AARC eingereicht habe, entfernt. „Es geht nicht darum, die Revolution als gescheitert darzustellen“, erklärte Salem das Anliegen seines Filmes gegenüber der Huffington Post, „sondern das, was sie daraus gemacht haben“. Dabei betonte er, die Unabhängigkeitskämpfer nicht verurteilen zu wollen. In einem Theaterstück wird Djaffars Frau Yasmina als Heldin dargestellt, wobei ihre Vergewaltigung durch den Franzosen nicht vorkommt. Djaffar ist sichtlich geschockt von dieser Darstellung und Yasminas Sohn versucht, sich der Bühne anzunähern. In der Schauspielerin erkennt er seine Mutter. Der tiefe Fall: Macht, Korruption und vertane Chancen Entmystifizierend ist auch die Tatsache, dass Djaffar durch Zufall auf der Flucht vor einer Razzia der französischen Armee in den Unabhängigkeitskampf gerät – nicht etwa aufgrund von Überzeugungen. Leitet diese algerisch-französische Koproduktion die Ära eines neuen algerischen Kinos ein? „Vielleicht“, sagt die algerische Politikwissenschaftlerin Naoual Belakhdar, die am Institut des Vorderen Orients in Berlin als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist und den 120-minütigen Film bei einem Gespräch mit den Zuschauern im Kino kommentierte. Für sie ist gefälschte Geschichtsschreibung symptomatisch für einen bestimmten Teil der algerischen Vergangenheitsbewältigung. Ebenso kritisiert sie aber auch die unzureichende Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in Frankreich. Die Figur Farids, der die Betrachtung der algerischen Gesellschaft als homogen arabisch-muslimisch ablehnt, steht für die in der 1980ger Jahren aufkommende Berberbewegung. Als dieser immer deutlicher die Bereicherung von Djaffar und Hamid kritisiert, wird er vom Geheimdienst umgebracht. Daraufhin bricht Djaffar mit Hamid, der über die Liquidationspläne des Geheimdienstes informiert war. Am Ende, am Krankenbett von Hamid, ziehen dieser und Djaffar eine düstere Bilanz der vergangenen zwanzig Jahre. „Wir hätten die Welt verändern können, wir waren dazu in der Lage“, sagt Djaffar verzweifelt. Sie, die geglaubt haben, die Welt verändern zu können, haben ihre eigenen Hoffnungen enttäuscht. „Weil die Hoffnungen so hoch waren, ist der Fall umso schwerer“, kommentiert Belakhdar. Eine Zuschauerin will wissen, ob die vier Freunde bestimmte Persönlichkeiten der algerischen Politik verkörpern sollen. Belakhdar glaubt dies eher nicht. Dass Salem auf Präsident Bouteflika anspielen will, möchte sie aber nicht ausschließen. „Das ist alles Fiktion“, bemühte sich der in Algerien unter Druck geratene Regisseur vor dem staatlichen algerischen Fernsehsender Ennahar zu betonen.

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